Als Bellboy auf einem Auswandererschiff

Reisezeit: Februar / März 1956  |  von Franz Martens

Bremerhaven-Rom-Neapel-Halifax-New York-Bremerhaven

probieren ist besser als studieren

der Einstieg in den Ernst des Lebens

Es war der erste Versuch,sich im Berufsleben einen Platz auszusuchen,seine eigene Existenz zu finden.
Mit gerademal 15 Jahren und von der Schule mit Sondererlaub=
nis ein paar Wochen früher entlassen, ging es in die weite Welt.
Alle Vorbereitungen für die zukünftige Tätigkeit im Service auf einem Überseeschiff, waren erledigt.
Einen Tag vor der Abreise, musste noch ein Koffer gekauft werden, da sich die im Hause befindlichen Behältnisse,nach all ihrer Benutzung in der Kriegszeit und Nachkriegszeit, nicht mehr die nötige Festigkeit hatten.
"Hamstern",eine überlebenswichtige Ausübung zum Erhalt der Familie, hatten Koffer und Rucksack arg strapaziert. Wir
schreiben das Jahr 1956, Es beginnt gerade ein Wiederaufleben;denn die Wunden des verlorenen Krieges sind überall noch zu sehen. Menschen wohnen in Kellern und Baracken. Es werden die ersten Sozialwohnungen gebaut,also es ist nichts vom "Feinsten".

Auf dem Nachhauseweg schnell noch mit dem neuen Koffer in die Schule und Klasse, um sich zu verabschieden. Der Lehrer und meine Mitschüler haben mich mit einem dreifachen"Hipp- Hipp- Hurra" auf den Weg gebracht.

Am nächsten Tag war Treffpunkt am Bahnhof. Alle Besatzungsmit=
glieder des Schiffes hatten sich dort einzufinden. Ein Mit=
arbeiter aus der Reederei-Agentur überprüfte die Anzahl und
Unterlagen der einzelnen Personen. Am Nachmittag startete die
Reise mit der Eisenbahn in Richtung Neapel und ich war dabei.

Bremerhaven um 1950
Blick vom Neuen Hafen zur Innenstadt: der
ausgebrannte Kirchturm ist erkennbar,Wohnhäuser wo sie einmal standen, sind nur zu ahnen

Bremerhaven um 1950

Blick vom Neuen Hafen zur Innenstadt: der
ausgebrannte Kirchturm ist erkennbar,Wohnhäuser wo sie einmal standen, sind nur zu ahnen

auf rollenden Rädern gen Süden

Unterbrochen wurde die Reise durch ein Umsteigen in München und ein Zwischenaufenthalt in Rom. In der Reederei-Agentur habe ich Erich Lichtwark kennen gelernt,auch ein Bremerhavener
Wir haben uns zusammengetan und alle Unternehmungen gemeinsam
bestritten. Er war etwas älter als ich und durfte schon auf Grund seiner vorhergehenden Fahrzeit, als Messestewart anheuern.

Nach der langen Zugreise, die wenige Bewegung,das viele Sitzen, der unendlich viele Qualm der Raucher,mehr noch der
Skatmarathon der mitreisenden Seeleute ( von Bremerhaven bis
Rom ohne Unterbrechung) mit all seinen Reizansagen und Nachkommentaren nach jedem Spiel,war es eine willkommene Unterbrechung,mehrnoch,es war eine fremde neue Welt,ganz anders als zu Hause. Keine Trümmer,voller Licht,lauwarm und voller Leben, nachts um 24 Uhr.

Schon der Bahnhof,so etwas hatte ich noch nicht gesehen,alles
war in Marmor ausgekleidet. So stellte ich mir einen Palast vor,
in dem ein König oder standesgleiche Menschen wohnen. Dazu hörte ich die aus dem Radio bekannte Weise:"Il Solencio", auch
noch von einem Trompeter gespielt, als ob ich gemeint und begrüsst wurde.

Wir konnten einige Stunden durch das nächtliche Rom spazieren gehen und in dieser Stimmung haben wir uns sogar ein Waffeleis
gegönnt. So also sieht die Welt aus, nicht schlecht.

Bahnhof in Rom
Aufnahme aus 2006

Bahnhof in Rom
Aufnahme aus 2006

Neapel nicht erlebt, so durfte ich weiter Leben

Irgendwann am ganz frühen Morgen ging die Zugreise weiter nach Neapel. Das kurze Romintermezzo mit den vielen neuen Ein=
drücken und Erlebten in besonderer Atmosphäre hat auch zur
Müdikeit verholfen.Geweckt wurden wir erst beim Einfahren in
den Bahnhof Neapel.

Schnell den Koffer gegriffen und nichts wie raus an die
Luft und wieder im Gewirr von Menschen mit einer Sprache, die man nicht verstand. Am Bahnhofsvorplatz wurden wir von Bussen erwartet, mit denen wir zum Hafen und an den Liegeplatz des Schiffes fuhren.
Bei dem Sichumschauen hat man die Schönheit von Neapel erkennen können und in welch grandiose Umgebung die Stadt
liegt und wie nahe zum Vesuv, der uns von der Schule und Bildern her bekannt war mit seiner Geschichte.

Leider war eine Stadtbesichtigung nicht möglich,da an Bord des
Schiffes angekommen, die ganze Anmusterungsprozedur, sehr viel
Zeit in Anspruch nahm.

Neapel mit Blick auf den Vesuv
Karte von 1956

Neapel mit Blick auf den Vesuv
Karte von 1956

sich zurechtfinden auf einem großen "Pott"

An Bord angekommen, wurde ich von einem zukünftigen Kollegen,
in das Mannschaftsrevier und zur Kajüte geführt. Hier wurde mir eine Koje zugewiesen. Danach musste man sich beim Purser
(Personalverwalter) melden. Es wurden die von der Reederei
ausgegebenen Unterlagen,Reisepass und Seefahrtsbuch mit Gesund=
heitskarte verlangt. Dafür gab es eine ID-Card und der Hinweis
auf die anzulaufende Stewart-Office. Nach dem Sichbekannt=
machen und den ersten erhaltenen Ablaufregelungen, ging es zurück zur Kajüte um sich dienstfähig umzukleiden. Es war leichter gesagt als getan. Dieses Riesenschiff mit den vielen Decks und den vielen Gängen,war für mich, dem Newcomer,ein Laby=
rinth.Immer wieder musste ich auf meinen Wegen Besatz=
ungsmitglieder ansprechen, um ans Ziel zu kommen. Ich glaube, der Hin.-u.Rückweg mit Kleiderwechsel hat wohl eine 3/4 Stunde
Zeit in Anspruch genommen. Nach dem Wiedererscheinen an der Office,war ich sofort mitintegriert in allen Aufgaben, die zu erledigen waren. Der Einreisetag und der Ausreisetag sind die
arbeitsintensivsten Schiffstage.Durch das Nachtsauslaufen,bin ich auch erst frühmorgens in die Koje gekommen. Am andern Morgen, wurde man nicht zimperlich, früh geweckt und man lief den ganzen Tag benommen durch die "Gegend".

mein erstes Schiff: TSS New York
Reederei:           Greek Lines
erbaut:             1922

mein erstes Schiff: TSS New York
Reederei: Greek Lines
erbaut: 1922

ist eine Seefahrt so lustig ?

Es war gar nicht so einfach alles um sich herum einzuordnen,die
Örtlichkeiten,die Menschen mit unterschiedlichen Sprachen, die
Technik;aber nach ein paar Tagen konnte man mit den unter=
schiedlichsten Dingen umgehen. Auch hat man sich mit seinem
Rückzugsdomizil abgefunden und arrangiert, wenn auch sehr schwer. Warum?, nun es war die hinterste Räumlichkeit des
Schiffes, getrennt von einem Schott zum Heck mit den sichtbaren Spanten der Backbord.-u. Steuerbordseite,direkt über dem Wellentunnel der Schiffsschrauben. Untergebracht war
ich in diesem "Luxusappartement" mit etwa dreissig Seeleuten.
Der Standort hat auch den Vorteil,jedes Schraubengeräuch beim
Unrundlauf bedingt durch unterschiedliche Seen, nicht zu über=
hören und zu spüren. Auch ist es für einen Anfänger ein guter
Platz, seine Seekrankheit zu erfahren mit all den Nebenwirk=
ungen.Bedingt durch Wellen und Täler entstehen die grössten
Auf und Abbewegungen an Heck und Bug.

Zu meiner Aufgabe gehörte es auch, die Passagiere mit einem
Glockenspiel,das ich in der Hand trug, in die Speisesäle zu
rufen. Daher der Name: Bellboy. Irgendwann war ich in der Lage
ganze Melodien zu spielen. Eigentlich war es überflüssig die
Passagiere zum Essen zu rufen; denn viele fand ich schon im
Eingang zum Speisesaal vor. So war ich angehalten, mit Hilfe
einer Absperrung, keinen vor der Zeit in die Räumlichkeit zu
lassen.

Da das Handy noch nicht erfunden war, es auch noch keine Pieper gab, musste der Bellboy die jeweiligen Meldungen oder
Aufträge übermitteln. Bei diesen Aufgaben kam man über das ganze Schiff und in alle Abteilungen. Von der Brücke, dem Ko=

mmandostand des Schiffes bis in den Maschinenraum, dem Motorraum für das Fortbewegen des Schiffes und der gesamten
Technik alle benötigten Aggregate von Licht, Wärme, Kälte und
was der Mensch so braucht. Dabei kommt man auch in die Kabinen
der Passagiere, sei es zum Fahrgast oder Kabinenstewart. Als
der "Neue" an Bord, hat man viele Fragen über alle Dinge die
man antrifft oder sieht und so spricht man jeden als Besatz=
ungsmitglied erkennbaren, ob Mann oder Frau an, um zu erfahren
was ist was und wer ist wer. So waren Ratschläge von er=
fahrenen Leuten immer willkommen, ja geradezu erwünscht.

Die Tage vergingen wie im Fluge(und das auf dem Schiff),so wurde plötzlich die amerikanische Küste sichtbar. Zuerst wurde
Halifax angelaufen um die für dort avisierten Auswanderer aus=
zuschiffen. Der Winter war noch nicht lange vorbei,das spürte man zu dem Zeitpunkt an der kanadischen Küste. Im Vergleich zu
hier war es in Neapel schon wesentlich wärmer.

Von Nova Scotia einer vorgelagerten Halbinsel an der Ostküste
liegt die kanadische Hafenstadt , die viel Ähnlichkeit mit
Bremerhaven hat, auch hier spielt die Hochseefischerei eine
grosse Rolle,ging es weiter zum Ziel nach New York.

Nach etwa 600 Seemeilen und einer Fahrzeit um die dreissig
Stunden wurde Long Island sichtbar und dauert nicht mehr sehr
lange bis der Lotse an Bord kam, der das Schiff in den Hafen bringt. Die Skyline von Manhatten tauchte auf und die "Freunde" von der Black Guard nahmen das Schiff in Beschlag, um ihre gefürchteten Überprüfungen auf alles Mögliche, durch=
zuführen.

Die Auswanderer stürmten an die Reeling, wie schon in Halifax,um
ihr zukünftiges Zuhause zu bejubeln. Tolle Szenen spielten sich ab,die Begeisterung war riesig. Die Menschen liessen
ihren Gefühlen freien Lauf. Na klar, es waren ja auch Süd=
länder. In der Mehrzahl wohl Griechen,Italiener,Leute vom Balkan, ein paar Pakistanis habe ich gesehen.

Phototermin an Deck

Phototermin an Deck

im Hafen von Neapel

im Hafen von Neapel

Downtown Manhatten-West

Downtown Manhatten-West

Waterfront Halifax/Kanada

Waterfront Halifax/Kanada

voller Erwartung

Die Verrazano Narrows Bridge verbindet Staten Isdland und Brooklyn,ist passiert und schon kann man die Liberty Statue
und Ellis Island sehen.Zu den Piers an Westside am Hudson River in
Manhatten,ist es nicht mehr weit. Nur wenige Menschen stehen am Pier um Reisende zu empfangen. Auswanderer sind immer neu
und so werden nur wenige von ihnen erwartet.

Skyline Manhatten 1955

Skyline Manhatten 1955

wir Bremerhavener, die Vorstädter von New Yorck

Nach Erhalt der Immigrationscard for Visiting von den amerika=
nischen Behörden und der bordeigenen Membercard,habe ich mit
Erich Lichtwark, den Landgang unternommen. Da wir am nächsten
Tag wieder auslaufen wollten,mussten wir gut zu Fusssein, um
möglichst viel zu sehen.

Uns,wir Bremerhavener,die durch die Passagierschiffe, schon
über Jahrzehnte mit New York verbunden waren, jeder kannte oder hatte ein Familienmitglied oder Bekannten der auf einem
Schiff fuhr, sah sich als Bewohner eines Vorortes dieser Welt=
stadt. Vom Hörensagen war man mit der Örtlichkeit und mit dem
Geschehen vertraut. Es war keine Überraschung, kurz nach der
Pier 86, auf eine Gang an der Lower Eastside zu treffen.

Offensichtlich sind wir durch unsere Kleidung (damals noch nicht so amerikanisch wie heute) und unsere Neugier, aufgefallen. Jedenfalls wurden wir eingekreist und ein wenig
unter Druck gesetzt, aber als wir uns als Deutsche zu erkennen gaben, gab es ein "your welcome". Sie waren ein Haufen,Halbstarker wie wir, mit irischer Abstammung und somit
uns freundlich gesonnen. Mit "have a nice Day" und Tipps für
unser Vorhaben, gingen wir auf den Trip.

Wir waren vorbereitet auf das was wir sehen wollten,denn wir
Bremerhavener sind ja Vorstädter von New York und somit war
uns fast nichts fremd. Nur alles war: grösser, weiter, höher,
schmutziger,blanker,reicher,aber auch ärmer.

Das Gesehene war so überwältigend, zu dem damaligen Zeit=
punkt, nicht wie heute, wo alle im Fernseher oder Internet zu sehen ist und einen nicht mehr vom Hocker haut.Es würde den Rahmen
sprengen,sich noch weiter in das Erlebte, zurück zu erinnern.

Radio City Hall, Time Square,Empire State Building,Madison
Square Garden waren uns bekannte Begriffe, hiervon konnten
wir zu Hause berichten und uns mit Anderen austauschen.

Am Time Square bei Woolworth haben wir uns jeder noch eine
"Paper Bag" aufgefüllt mit chocolate bar wie:Butterfinger,
Baby Ruth, o`Henry,Chrisp u.s.w. sowie salted peanuts und
salted Cracker. Diese leckeren Sachen,kannten wir von zu Hause, mussten aber immer erst einen amerikanischen Soldaten
ansprechen. Hier hatten wir endlich die Möglichkeit es ganz
normal zu erwerben. In der Nähe vom Time Square,auf dem Weg zum Seemannsheim, haben wir uns noch eine Packung Lucky Strike
gekauft,zu einem für heutige Verhältnisse unbegreiflichen Preis, von 15 Cent. Durch das Gewühl von Menschen und einem
Treiben, wie wir es nur vom Jahrmarkt kennen, dazu der ausser=
ordentliche Verkehrslärm mit seinen ständigen Polizei.- u.
Krankenfahrzeugsirenen,ging es zurück durch das Theater=
viertel auf der 42 West Street um einmal im Seemannheim gewesen
zu sein. Dieser Ort war Anlaufstelle auch für deutsche Fahrens
leute,als Treffpunkt oder Hinterlegungsstelle für Briefe oder
Mitteilungen.

Für uns war es spät geworden nach diesem langen "turn",und langsam schwanden die Kräfte, also nichts wie an Bord und in die Koje. Es war ein erlebnisreicher Tag.

so sah es schon in der Mitte der 50-Jahre
aus

so sah es schon in der Mitte der 50-Jahre
aus

viel gesehen, viel erlebt

Nach der Übernahme von Proviant und das Anbordnehmen weniger
Passagiere,verglichen mit der Anreise,wurden die Leinen am
frühen Nachmittag los gemacht. An Deck habe ich mich unter die
Gäste gemischt und noch einmal die damals wirlich einmalige
Skyline von Manhatten genossen. Auch die Brücken von New York
waren zu der Zeit, weltweit bekannt,wegen ihrer Konstruktion
und Grösse.

Die Rückreise verlief ohne grosse Zwischenfälle bei relativ
ruhigem Wetter, für mich schon nicht mehr so aufregend.
Es gab für mich mehr Zeit, die Dinge eingehender zu beobach=
ten und die Erkenntnis,das was ich machte nicht der"Wahre
Jakob" ist. Ich hatte gesehen,dass einige Fahrensleute viel
bessere Posten hatten und somit habe ich mich erkundigt,was
sie taten und welche Ausbildung nötig ist.

Der Entschluss reifte, an Land zu bleiben und einen tech=
nischen Beruf zu erlernen um diesen an Bord eines Schiffes
auszuüben.Dieses konnte ich auch umsetzen und habe im Anschluss
meiner Ausbildung zum Tischler eine etwa vier Jahre dauernde
Seefahrtzeit genossen.

Nach der Atlantiküberquerung wurde das Weserrevier an einem
grauen Apriltag erreicht. Meine erste heimatliche Revierreise
war leider vom schlechten Wetter etwas beeinflusst. Trotzdem
freute ich mich auf mein Zuhause auf meine Mutter und
Schwester.

Auszug aus einer Jubiläumsausgabe

Auszug aus einer Jubiläumsausgabe

© Franz Martens, 2007
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Die Reise
 
Details:
Aufbruch: 27.02.1956
Dauer: 4 Wochen
Heimkehr: 28.03.1956
Reiseziele: Italien
Der Autor
 
Franz Martens berichtet seit 17 Jahren auf umdiewelt.
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