60 Tage Jerewan

Reisezeit: Oktober - Dezember 2003  |  von Stefanie Schulte

In ihrer BWL-Diplomarbeit konzipierte Stefanie Schulte, 26, ein Intranetportal fuer Lycos Europe. Im Herbst 2003 reiste sie als Praktikantin fuer drei Monate nach Jerewan und begleitete die Umsetzung des Intranets in der armenischen Entwicklungsabteilung.

Essen à la Wörterbuch

Mit knurrendem Magen, aber ratlos stehe ich im Tante Emma-Laden. Konserven, Brot, Obst, Nudeln, Gewuerze - und davor eine Theke und eine Verkaeuferin, die kein Englisch versteht. Ich krame ein paar Brocken Armenisch zusammen und verlasse den Laden mit einem Glas Erbsen und einer Tuete Spaghetti. Die Nudeln gibt es heute ohne Salz - dieses Wort habe ich in meinem Sprachfuehrer so schnell nicht gefunden.

Der erste Tag meines Praktikums in der armenischen Hauptstadt Jerewan. Schnell finde ich heraus, dass das kleine Land mit rund drei Millionen Einwohnern seine uralte Sprache mitsamt eigener Schriftzeichen hingebungsvoll pflegt und gegen fremdlaendische Einfluesse abschottet. Der Reisesprachfuehrer wird zum unverzichtbaren Begleiter.

IT: Traum-Jahresgehalt 2.400 Dollar

Dennoch hinterlaesst das Ausland Spuren: Russland vor allem, wegen der Sowjetvergangenheit, aber zunehmend auch westliche Laender. Auslaendische Investoren, besonders im IT-Bereich, gelten fuer das arme Land als Ticket in eine bessere Zukunft.

Einer dieser Investoren ist mein Arbeitgeber Lycos Europe. Das deutsche Unternehmen betreibt eine Entwicklungsabteilung in der Hauptstadt, um Personalkosten zu sparen. Die armenischen Softwareentwickler setzen unter anderem das Intranetportal fuer die europaweit rund 900 Lycos-Mitarbeiter um. Da ich dieses Intranet im Rahmen meiner Diplomarbeit in Guetersloh konzipiert habe, darf ich mich als Praktikantin drei Monate lang um das Projektmanagement in Jerewan kuemmern.

Website-Tests, Videokonferenzen und Usability-Diskussionen

In fliessendem Englisch begruesst mich Hrant, der Softwareentwickler, der unser Intranet programmiert. Er ist 20 und bastelt nebenbei an seinem Informatik-Bachelor. Das Intranet ist sein erstes Projekt bei Lycos. "Fuer mich ist das die grosse Chance". Manche Lehrer verdienen hier nur 20 US-Dollar im Monat. Das macht die Jahreseinkommen von 2.400 bis 6.000 US-Dollar in der IT-Branche zu Traumgehaeltern.

Wer einen der begehrten Jobs in auslaendischen Firmen ergattert, ist in der Regel nicht nur fit in Englisch, sondern auch fachlich sehr gut ausgebildet. Das gilt fuer Armenier aber generell: In der Sowjetunion war Armenien das Zentrum der Entwicklung hochtechnisierter Waffensysteme. Entsprechend stark investierte der Staat in den Bildungssektor, und noch immer hat fast jeder in der Hauptstadt ein Uni-Diplom.

Die rund 40 Mitarbeiter von Lycos Armenien arbeiten von Montags bis Samstags, oft bis spaet in den Abend. Ich entwerfe Navigationsbaeume, teste Suchfunktionen, Foren und Eingabefelder, bespreche per Telefon, Chat und Videokonferenz offene Fragen mit deutschen Kollegen. Denn Informationen fliessen oft nur spaerlich zwischen der Zentrale in Deutschland und den armenischen Entwicklern. Hitzig diskutieren Hrant und ich ueber die Nutzerfreundlichkeit des Portals. Waehrend die Armenier in technischen Fragen extrem sattelfest sind, gilt Usability hier noch als zweitrangig.

Zum Grillen in die Berge

Am Sonntag mieten Hrant und die anderen Kollegen aus meiner Abteilung einen klapprigen Kleinbus. Es geht heraus aus der staubigen, lauten, unordentlichen Jerewaner Innenstadt, hinein in eine neblige, baumarme, atemberaubende Berglandschaft. Wir besichtigen das Kloster Geghard und seine Kapelle, die die Erbauer direkt in den Fels hineingehauen haben - sogar mit Reliefen in den Waenden. "Es gab einfach keine anderen Baumaterialien", sagt Softwareentwickler Artavazd.

Das naechste Mal halten wir in einer Schlucht, deren Waende aussehen, als haetten Riesen uebergrosse steinerne Streichhoelzer aufgestapelt, und wir packen Grillfleisch, Wein und Wodka aus. "Im Sommer grillen wir in freier Natur, so oft wir koennen".

Sporadisch fliessendes Wasser, ein Heizkoerper, 400 Dollar Miete

Gegrilltes gehoert generell zu den preiswerten Genuessen in Armenien. Eine Portion "chorowaz", Schaschlik eingerollt in Fladenbrot mit Gemuese und Salat, kostet 500 Dram - 75 Eurocent. Ein Kilo Kartoffeln bekommt man fuer rund 25 Cent. Die Tafel Schokolade fuer 45 Cent, die Tuete Fruchtsaft fuer einen Euro - eher westliches Preisniveau.

Fuer meine Innenstadt-Wohnung zahlt Lycos pro Monat 400 Dollar Miete. Und das, obwohl es fuer zwei Zimmer, Kueche und Bad zusammen nur einen kleinen Elektro-Heizkoerper gibt und frisches Wasser in diesem Stadtteil nur jeweils ein paar Stunden morgens und abends aus den Wasserhaehnen fliesst. Alles, was knapp ist oder importiert werden muss, hat seinen Preis.

Dennoch bin ich uebergluecklich, als Lycos mir erlaubt, mein Praktikum um drei Wochen zu verlaengern. Aber nach drei Monaten in Jerewan muss ich den Rueckflug antreten. Zurueck in Deutschland, werde ich vermutlich weiterhin auf die Uhr gucken, bevor ich duschen gehe. Ich werde mich aergern, dass ich fuer einen Doener drei Euro ausgeben muss. Und ich werde heftiges Heimweh haben nach den Menschen, die stolz sind auf einen 20 Jahre alten Lada und selbst unter haertesten Bedingungen nie ihren Humor verlieren.

Mehr in meinem Weblog: 60 Tage Jerewan

© Stefanie Schulte, 2004
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Die Reise
 
Details:
Aufbruch: 09.10.2003
Dauer: 12 Wochen
Heimkehr: 29.12.2003
Reiseziele: Armenien
Der Autor
 
Stefanie Schulte berichtet seit 19 Jahren auf umdiewelt.
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