YANOMAMI EXPEDITION

Reisezeit: November 2009  |  von Karl Heinz Dienstl

Den Spuren Alexander von Humboldts folgend führte mich eine Expedition vom Rio Orinoco über den Rio Casiquiare bis zum Rio Siapa und tief in das unbekannte venezolanisch-brasilianische Grenzgebiet zu einem unberührten Stamm der Yanomami Indianer.

Yanomami Expedition

Die Yanomami sind Halbnomaden. Sie leben gemeinschaftlich in großen Rundhäusern, die Shapono genannt werden, und legen Gärten an, sie sind aber auch Jäger und Sammler. Ihre Verbände können bis zu 120 Angehörige umschließen. Mit Ausnahme des Geschlechtslebens und der Notdurft spielt sich das gesamte Leben des Stammes in der Öffentlichkeit ab. Die Yanomami haben kein eigenes Zahlensystem, sondern kommen mit "eins", "zwei" und "viele" aus. Zu- und abnehmender Mond bestimmen ihren Lebensrhythmus. Traditionsgemäß tragen sie keine Kleidung und bemalen ihre Körper mit Schlangen und Kreismustern, wofür sie eine rote Paste aus Onoto-Samen verwenden. Das schwarze Haar tragen sie als gleichmäßigen Rundschnitt, mit oder ohne Tonsur. Mädchen und Frauen schmücken sich mit durch Unterlippe, Wangen oder Nase gestoßenen Stöcken. Die Yanomami gelten als recht aggressiv, ebenso kommen Vergewaltigungen häufig vor. Da die Gärten und das Umfeld eines Shapono nur einen begrenzten Zeitraum Nahrung bieten, muss das Volk in regelmäßigen Abständen wochenlange Stammeszüge, sogenannte Trecks, unternehmen. Wahrend ihrer Abwesenheit erholt sich die Natur an den zurückgelassenen Stellen wieder. Während der Trecks wird das gesamte Hab und Gut, das aber meist nicht sehr umfangreich ist, auf dem Rücken getragen. Das Rad wurde bei den Yanomami noch nicht erfunden, auch die Metallverarbeitung ist noch unbekannt. Das Leben der Yanomami ist hart, fast brutal, wir bekamen es am eigenen Leib zu spüren ...

In einer der unzähligen Reisepartnerbörsen des World Wide Web entdeckte ich eine Anzeige, die mein Interesse weckte. Es wurden Teilnehmer für eine Expedition zu den Yanomami im Grenzgebiet von Brasilien zu Venezuela gesucht. Die Vorbereitungen waren so gut wie abgeschlossen, es schienen nur noch wenige Plätze frei zu sein. Ich nahm Kontakt auf und beschloss, nach einem Treffen in Frankfurt, mitzufahren. Meine Erwartungen und Einstellungen zu Touren mit unbekannten Leuten sind ziemlich klar: Ich halte es mit nahezu jedem ein paar Wochen aus, wenn man ein gemeinsames Ziel für die Tour formulieren kann. Unser gemeinsames Ziel war das Gebiet um den Rio Siapa herum mit dem Besuch eines Shapono einer Gruppe noch relativ unberührt lebender Yanomami. Ein weiterer bedeutender Grund war für mich die Tatsache, das Organisation und Planungen, inklusiv der Ausstellung einzelner Permits, bereits abgeschlossen waren - was andernfalls eine Menge Zeit und Aufwand in Anspruch genommen hätte.

Von Caracas ging es mit einem Flugzeug nach Puerto Ayacucho, von dort aus mit einer kleiner Maschine weiter nach Tamatama. Ab hier wandelten wir mit dem Boot auf Humboldts Spuren, erst den Orinoco entlang, um dann in den Brazo Casiquiare abzubiegen. Bevor wir den Rio Siapa stromaufwärts fuhren, besuchten wir ein erstes Dorf der Yanomami. Ein ursprüngliches Shapono gab es dort nicht mehr, sondern jeder bewohnte seine eigene Hütte. Hier sollten Träger zu uns stoßen und es kam zu ersten Problemen.

Das erste war die Wasseraufbereitung. Ich trinke nur im äußersten Notfall und auch wirklich nur dann, ungefiltertes Wasser aus einem Fluss. Und wir hatten keine Wasserfilter dabei. Erstaunt musste ich jedoch vom Expeditionsleiter hören, dass die hier nicht nötig seien! Da ich mich ungern auf andere verlasse, hatte ich aber ein paar Mittelchen zur Wasserentkeimung dabei, man weiß ja nie! Die nächste Schwierigkeit hing mit den Trägern zusammen. Mehrmals war im Vorfeld versichert worden, jeder habe einen eigenen Träger zur Verfügung, entsprechend hatte ich meine Ausrüstung geplant. Vor Ort standen dann aber nur zwei Träger für insgesamt sechs Leute zur Verfügung. Aber auch auf diese Unwägbarkeit war ich vorbereitet und hatte einen kleinen, wasserdichten Rucksack dabei um mein Habe Notfalls selbst tragen zu können.. Es ging dann den Siapa hinauf bis zu einem Wasserfall, ab dort mussten wir dann zu Fuß weiter. Ich verstaute das Allernötigste im Rucksack und gab lediglich das Zelt zum Tragen ab. Mich traf fast der Schlag, als ich sah, was die beiden Träger alles schultern mussten, darunter waren ganze Aktenkoffer mit kompletten Filmausrüstungen. Der Yanomami konnte mit dem Gepäck auf dem Rücken gar nicht mehr alleine aufstehen, wir mussten ihn hochhieven. Dann lief der arme Kerl los um erschöpft wie ein Käfer auf dem Rücken liegend auf uns zu warten und wieder auf die Beine gestellt zu werden.

Das Gelände stellte sich als sehr anspruchsvoll heraus, zudem regnete es ununterbrochen. Es waren unzählige kleine Flussläufe zu überwinden, als Einziger schaffte ich es, die schmalen, als Brücke dienenden Bäume darüber zu benutzen. Die anderen mussten in die Flussbetten steigen und durch das oft hüfttiefe Wasser waten. Die allgemeine Stimmung war fast auf dem Nullpunkt. Die Mahlzeiten waren miserabel, es gab grässliche Dinge wie etwa eine Dose Sardinen mit zwei aus Mais geformten Knödeln. Ich war froh, mich für ein Zelt entschieden zu haben, denn so konnte ich wenigstens die Nacht über Kraft schöpfen. Drei Tage lang wanderten wir durch den Dschungel, bis wir auf eine große Gruppe Yanomami stießen. Sie befanden sich auf dem Treck und wir durften nach Übergabe einiger Geschenke bei ihnen bleiben.
Drei faszinierende Tage lang blieben wir an dieser Stelle und konnten beobachten, wie die Gruppe ihr Dschungelcamp aufbaute - ohne dafür eine Schnur oder ein sonstiges fremdes Hilfsmittel zu verwenden. Alles Mögliche wurde dazu aus dem Dschungel herangeschleppt. Einige Frauen gingen in der Zeit Beeren sammeln, während andere Frauen den ganzen Tag in der Hängematte lagen. Das Zusammenleben folgt einer strengen, nach außen nicht leicht zu entschlüsselnden Hierarchie. Auch unsere Geschenke wurden nur an bestimmte Familien verteilt, das System der Vergabe blieb mir verborgen.

Einer unserer Expeditionsführer kam eines Nachmittags mit einem geschossenen Affen zurück. Es machte wenig Freude, das Tier im Kochtopf zu sehen, diese kleinen Hände die Füße ... Nein danke, auf diese Mahlzeit verzichtete ich!

In der darauf folgenden Nacht wurde es laut im Camp. Es ist durchaus normal, dass ein Yanomami auch einmal mitten in der Nacht aufsteht, um laut zu erzählen, wenn er ein Mitteilungsbedürfnis hat. Jetzt aber hörte ich ununterbrochen ein Kind schreien und als ich aus dem Zelt kroch, konnte ich einem Schamanen beim Heilen zusehen. Nach außen hin sichtbar tat er nichts anderes, als die offensichtlich schmerzende Stelle mit Grunzlauten zu "besprechen" und anschließend mit beiden Händen eine wegwischende Bewegung zu vollziehen. Das Zeremoniell erstreckte sich über eine Stunde in immer wiederkehrender, gleichförmiger Eintönigkeit. Auf diese Weise sollte wohl dem Körper das "Böse" entzogen werden. Am nächsten Tag erkundigte ich mich genauer nach dem Ritual. Wenn ich es richtig verstand, werden dazu kaum Kräuter oder andere spezielle Dinge zur Heilung verwendet.

Fast jede Yanomami-Familie hat "Haustiere", meist Vögel, es gibt aber auch kleine Affen und einmal entdeckte ich eine kleine abgemagerte Hündin mit ihren Welpen. Der Umgang mit den Tieren ist allerdings hart und roh, ich sah in den paar Tagen viele von ihnen sterben. Auch der Umgang der Menschen miteinander ist recht rau, so schreien die Kinder schon einmal, bis sie blau anlaufen, ohne dass sich jemand um sie kümmert. Aus der Sicht eines Europäers wirkt dieses Verhalten sehr befremdlich, aus der hiesigen Perspektive wird sie zumindest nachvollziehbar. Die Yanomami müssen ausnahmslos jeden Tag ums Überleben kämpfen, das Leben im Regenwald ist hart und herausfordernd.
Heute Morgen kam es zum Streit. Ich wollte weiter bis zum Shapono, aber der Expeditionsleiter lehnte ab, er mochte nicht weiterlaufen. Das ärgerte mich ziemlich, denn an diesen Ort werde ich wohl so schnell nicht mehr zurückkommen. Die Gruppe beschloss, mit den Yanomami weiter zu ziehen, die ebenfalls unsere Richtung einschlagen wollten. Es sollte jedoch anders kommen. Während ich bereits mit einer Handvoll Yanomami ins Tal abgestiegen war und dabei die Leichtigkeit und Geschmeidigkeit bewundert hatte, mit der sie sich im Dschungel fortbewegten, hörte ich von weiter oben aus dem Camp laute Rufe. Mick, der Arzt aus unserer Gruppe, ließ uns zurückbeordern. Als ich zurückkehrte, fand ich Mick vor einer Hängematte sitzend, auf der ein Yanomami lag. "Der Mann stirbt", sagte Mick trocken. "Mist, was kannst du machen?", fragte ich ihn, aber er antwortete nicht. "Sollen wir ihm von unseren Antibiotika geben?", wollte ich von ihm als Arzt wissen. "Das siehst Du zu einfach", sagte Mick, "Medizin ist ein komplexes Thema, außerdem sind sie die Leute hier nicht gewohnt und es könnte dem Mann erst recht schaden." "Also", insistierte ich, "was können wir tun?" "Nichts", antwortete er wieder. "Okay, Mick, wenn er so oder so stirbt, dann könnten wir es doch zumindest mit einer kleinen Dosis Antibiotika zur Linderung seiner Leiden versuchen, oder nicht?" "Du hast recht, aber er wird es wohl gleich wieder erbrechen." Wir ließen eine Suppe kochen, schmuggelten unbemerkt eine Dosis Doxycyclin darunter und gaben sie dem Mann zu trinken. Dann baten wir einen unserer Träger, zum Stammeschef zu gehen, um den Schamanen zu schicken. Obwohl der Kranke nicht transportfähig war, bestand der Chef darauf, dass man den Sterbenden zum Schamanen brächte, der bereits losgezogen war und unten im Tal wartete. Unten angekommen, starb der Yanomami vor unseren Augen, die Frauen des Stammes schrieen und jammerten darauf unaufhörlich. Nun war es für uns höchste Zeit zu verschwinden, zu schnell könnte ein Zusammenhang mit uns und dem toten Yanomami hergestellt werden.

All sei nichts geschehen, ließ sich der Stammesführer die von uns die versprochenen Geschenke aushändigen und verabschiedete uns, das laute Wehklagen der Frauen klang uns noch lange in den Ohren nach.
Auch in unserer Gruppe kam es dann zu Schwierigkeiten, als eine Frau - die einzige in unserer Gruppe - physisch und psychisch völlig am Ende, zusammenbrach. Sie weinte und schluchzte nur noch, war nicht mehr fähig aufzustehen. Ich schaffte es schließlich, sie zu beruhigen und durchwatete von da an mit ihr an der Hand die Flüsse, zog sie Anhöhen hinauf und half ihr über Baumstämme hinweg, redete ihr unentwegt Mut zu.
Derart und von den vielen neuen Eindrücken beansprucht, kam eine positive Rückbesinnung bei mir erst zustande, als wir wieder auf dem Rio Negro unterwegs waren. Erst da konnte ich mich sogar ein wenig über diese Tour freuen. Um ein Fleckchen Erde und viele zwischenmenschliche Erfahrungen reicher kehrte ich damals aus dem Regenwald nach Hause zurück ...

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Die Reise
 
Details:
Aufbruch: November 2009
Dauer: unbekannt
Heimkehr: November 2009
Reiseziele: Venezuela
Der Autor
 
Karl Heinz Dienstl berichtet seit 14 Jahren auf umdiewelt.