Caracas, Venezuela und mehr...

Reisezeit: Februar - August 2010  |  von Nadja Lindner

Alltagsleben, Reiseerfahrungen und Begegnungen in der Bolivarianischen Republik

Caracas zeigt sein Gesicht

CARACAS - Geschichten

13. Februar 2010

Traditionelles venezolanisches Essen - la comida criolla - mit Gloria, Miguel und Jhonner im Zentrum der Stadt. Arepa con queso guyanáta. Sehr fettig und nicht unbedingt mein Geschmack. Eher etwas zu junkig. Während eines Essens im Restaurant kann man unglaublich viel lernen. Essen ist Kultur. Neue, vor allem lokale Begriffe strömen auf mich ein, genauso wie Tischgewohnheiten, Verhaltensweisen im Restaurant. Fazit des Abends: In Venezuela isst man dreimal am Tag und das am liebsten fettig und mit viel Fleisch. Meine neuen venezolanischen Freunde sind sehr offen, hilfsbereit, geben gern Auskunft über alles. Obwohl sie alle um einiges älter sind als ich, fühle ich mich sehr wohl. Die Menschen erscheinen mir sehr gradlinig. Selten gibt es ironische Bemerkungen, man hat das Gefühl, jeder interessiert sich gleichermaßen für jeden. Eine andere menschliche Wertschätzung?

Nach dem Essen nimmt Jhonner, der Partner von Miguel, ein Taxi nach Hause. In Glorias Auto bringen wir Miguel nach Hause. Er wohnt weiter im Westen der Stadt. In einem Viertel, dass, so die beiden, zwar nicht so sicher ist wie Chacao, aber trotzdem noch wohl situiert. Als Miguel aussteigt, warten wir im Auto so lange, bis er - ein nicht unbedingt schmächtiger Mann Ende zwanzig - sicher in dem von hohen Zäunen und Gittern umgebenen Haus verschwunden ist. Auf dem Rückweg reden Gloria und ich viel über die derzeitige Situation in Venezuela. Sie erzählt mir, dass sie früher einen sehr großen Freundeskreis hatte. Die meisten sind jedoch ausgewandert. Unsicherheit, sowohl auf physischer, ökonomischer und auch beruflicher Ebene sind die Gründe. Länger als die meisten ist sie in Caracas geblieben. Doch jetzt fühlt auch sie, dass ihre Zeit gekommen ist, nach Spanien auszuwandern und neu anzufangen.

Wir unterhalten uns über das Leben in den Barrios, das von Missbrauch und Gewalt dominiert ist. Wahrscheinlich kennt auch Gloria nur Erzählungen. Ihr ist noch nie etwas passiert, meint sie. Im gleichen Atemzug aber auch, dass sie da keine Risiken eingeht und beispielweise lieber zu Hause bleibt, als auszugehen. Um diese Zeit - es ist kurz vor zwölf in der Nacht - seien die Stadtautobahnen noch sicher. Gegen Sonnenaufgang würde sie hier jedoch nicht mehr langfahren. "Sie werfen Steine von den Brücken auf die Windschutzscheibe der Autos. Wenn du dann anhäktst, weil du so nicht weiterfahren kannst, rauben sie dich aus." Eins der Szenarien, die Gloria schildert. Immer mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen, rät sie mir. Nachts auf der Straße soll ichgleich vergessen. Auch die Avenida Libertador, die vor meinem Fenster so einen Krach macht, würde sie nicht allein lang gehen. Ich bin verunsichert. Wie soll ich mich verhalten. Soll ich die Befürchtungen aus meinen Gedanken verbannen? Schützen sie mich, oder halten sie mich davon ab, zu leben?
Die Venezolaner lieben ihr Land, aber sie fürchten es auch. Viele hoffen, dass sich etwas ändert. Manche glauben nicht daran und gehen, wenn sie können. Ich bin eine Fremde. Kann alles mit dem Gedanken im Hinterkopf sehen, dass ich jederzeit abreisen kann. Kann hier Urlaub machen, mich sonnen, Spanisch lernen. (Was tue ich hier? Was ist meine Mission?) Die Locals bekommen nur höchstens vierhundert Dollar zum Reisen ausgehändigt, dürfen im Monat nur einen bestimmten Betrag an Bolivares ausgeben. Der Schwarzmarkt blüht. Vor allem Reisende und Ausländer profitieren davon. Auch Seila, eine wunderhübsche, kluge, ambitionierte Venezolanerin in meinem Alter möchte nach Spanien auswandern. Doch im Gegensatz zu Gloria hat sie neben dem venezolanischen keinen spanischen Pass. Zudem hat die Inflation kürzlich ihr gesamtes erspartes halbiert. Luisa reist bald nach Australien ab. Die Venezolaner tun das nicht wie wir aus Reiselust. Sie wollen weg aus diesem Land, das so wunderschön sein soll. Jedoch mit der Absicht, eines Tages wieder zu kommen, wenn sich die Gesamtsituation gebessert hat...

14.Februar 2010

Zum Frühstück schalte ich das Radio ein. Auf dem ersten Kanal - eine Männerstimme spricht im Monolog. Nach einigem Hinhören und kurzer Überlegung weiß ich: die Stimme gehört Hugo Chávez. Er hält eine Ansprache ans Folk. Ich will Musik schalte weiter... Chávez... weiter... Chávez... und so weiter. Der Typ ist auf allen Sendern! Unglaublich. Eigentlich logisch. Was er sagt, verstehe ich aufgrund meines begrenzten Spanisch zur Zeit nur halb. Oft fällt das Wort "pueblo" (Folk), auf luchar (kämpfen) und, na klar socialismo. Das ist feinste sozialistische Propaganda. Gleichgeschaltete Presse. Zum Schluss beginnt "el commandante" noch zu singen, ein Lied über das Vaterland und den Befreiungskampf nehme ich an. Parolen schließen den Monolog und der Chor antwortet: Viva la patria! Viva el pueblo! Viva la revolución bolivariana! Viva el socialismo!

17.Februar 2010

Im Supermarkt fallen mir fast die Augen raus. Die Preise sind extrem hoch! Vieles kostet eineinhalb Mal so viel wie in Deutschland. Und dass in einem Land, wo das Mindesteinkommen unter 200 Euros liegt! Beim Blick in die Regale kommt der Geiz in mir auf. Ich will hier nichts kaufen, weil es mir so teuer erscheint und es anderswo eine Möglichkeit gibt, die Dinge preiswerter zu bekommen. Dabei habe ich noch zu einem Parallelkurs getauscht, der fast das Doppelte des offziellen Kurses ist. Der Schwarzmarkt steht in voller Blüte!
An der Kasse muss man ewig warten. "Cola", heißt Warteschlange und scheint mir eines der meistgesagten Wörter des Tages. Mich stört das Warten eher weniger. Es geht eben etwas gechillter voran. Aber warten wir's ab...

© Nadja Lindner, 2010
Du bist hier : Startseite Amerika Venezuela Venezuela: Caracas zeigt sein Gesicht
Die Reise
 
Details:
Aufbruch: 10.02.2010
Dauer: 6 Monate
Heimkehr: August 2010
Reiseziele: Venezuela
Der Autor
 
Nadja Lindner berichtet seit 14 Jahren auf umdiewelt.
Bild des Autors