Leite mich auf den Weg, der von der Dunkelheit ins Licht fuehrt

Reisezeit: März 2010 - Januar 2011  |  von Guyaine Hemmer

Mal so zwischendurch...

Es faellt mir schwer, Motivation zum Schreiben aufzubringen, wenn ich abends nur noch ins Bett will. Ich komme mir manchmal so animalisch vor, weil ich jeden Tag mit den selben simplen Dingen zu kaempfen habe: Wo bekomme ich was kaltes zu trinken her? Mache ich mir selber was zu essen oder riskiere ich noch mal eine Darmverstimmung, dessen Ursache das indische Essen ist? Sollte ich eine "Darmverstimmung" (in Gaensefuesschen gesetzt, weil das nur ein allzu netter Ausdruck fuer diese Art von Unwohlsein ist!) haben: Wie werde ich sie wieder los und wie kann ich mich gegen die Mosquitos verteidigen, die in der Kloschuessel nur darauf lauern, dass ich ihnen meinen Hintern anbiete? Wie behalte ich meine Fuesse und Fingernaegel sauber? -bei den Indern sieht man den Dreck an den Fuessen nie!!! Und wieder: wo kann ich mal abkuehlen?

Das hoert sich alles ganz dramatisch an, aber in Wirklichkeit habe ich mich an solche Problemchen gewoehnt und ich muss gestehen, dass es fuer mich keine Probleme sind, sondern Gedanken eines in westlicher Kultur aufgewachsenen Maedchens. Sie sind natuerlich und gehoeren fuer mich dazu. Abends liege ich im Bett und muss laecheln, weil ich weiss, dass es am naechsten Tag genauso sein wird -aber dann fehlt mir leider die Motivation zu Schreiben...

Bis sich vor ein paar Tagen alles geaendert hat: Ich habe ein neues Zimmer mit einem COOLER! Das ist ein Ventilator, der umringt von Feuchtigkeit kalte Luft ins Zimmer blaest -eine organsiche Klimaanlage. Ich liebe Wasser und ich liebe Luft. Jetzt sitze ich grade vor dem Standgeblaese und mein Kopf funktioniert wieder. Ich hoffe dies genuegt an Erklaerung fuer meine knapp 3-woechige Schreibepause.

Jetzt bin ich glaube ich schon 5 oder 6 Wochen hier und es fuehlt sich so an, als waere das niemals anders gewesen., denn neben meinen oben geschilderten Alltagsherausforderungen nimmt dieser Ort mich doch sehr ein.
Wenn ich zunaechst geglaubt habe, ich wuerde hierher kommen, um zu geben, zu helfen und zu veraendern, so habe ich mit diesem Glauben nur auf die halbe Wahrheit gesetzt. Herausgebrochen aus meiner westlichen Komfortzone bin ich nur dankbar fuer die vielen Lektionen des Lebens, die ich hier erhalten darf. Ich fuehle mich ein wenig so, als haette ich die ganze Zeit auf einem Spielplatz gelebt, von dem mir vorgaukelt wurde, er sei alles, was es gibt; waehrend der wirkliche Unterricht woanders stattfand. Vielleicht war ich auch nur in einer niedrigeren "Lebensschuklasse". So wie einem der Unterricht der 5.Klasse toericht und einfach vorkommt, wenn man in der 10.Klasse ist, so scheint mir das, was ich vor meinem Indienaufenthalt als Lebensweisheit bezeichnet habe nun so klein. Ich komme mir so klein vor. Jetzt darf ich lernen -Einfachheit lernen, Hoffen lernen, Beten lernen, Glauben lernen und natuerlich Hindi lernen! Ja, dieser Ort ist mir eine Schule. Ich moechte damit nicht sagen, dass Menschen in der westlichen Kultur nicht einen tiefen Einblick in das Leben bekommen koennen. Wege sind da individuell und sicherlich sind viele Menschen vor mit zu den mir neuen Erkenntnissen gekommen, ohne in Indien in einem Rehabilitationszentrum gelebt zu haben. Ich bin einfach nur erstaunt; auch ueber mich selbst.

Ich berichtete zuvor davon, wie ich den Kontrast von Licht und Dunkelheit erlebe -was es fuer mich hier heisst, von der Dunkelheit ins Licht gefuehrt zu werden. Die Lebensgeschichten der meisten Patienten sind einfach so abgefahren, sodass ich meine mittlerweile gaenzlich unspektakulaer finde. Neulich fragte mich jemand, ob ich im Gottesdienst mein Lebenszeugnis (wie ich Christ geworden bin) erzaehlen wollte. Da schluckte ich erst mal, denn was ist meine Geschichte schon gegen die der Leute, die alles verloren haben, was man als gesunden Lebensstandard bezeichnet?! Was mir in Deutschland nur zu leicht aus dem Mund faellt, laesst mich hier doch drei oder gar vier Mal nachdenken. Koennen diese Leute, die nicht mal wirklich ein eigenes Hemd haben verstehen, was ich sage? Oder besser andersrum gefragt: Kann ich meine Lebensgeschichte so erzaehlen, sodass es ihnen verstaendlich wird? Ich, die ich nie Hunger gelitten habe, nie nackt gewesen bin (o.k. ich dusche nicht nackt -jetzt ist es raus!!), weil ich keine Geld hatte, mir Kleidung zu kaufen; Wie gesagt, ich komme mir so klein vor.

Ich habe abgelehnt, meine Lebensgeschichte an diesem Tag zu erzaehlen. Ich muss in der Tat erst nachdenken. In einer materialistischen Welt hat sich in mir seit meinem Entschluss, diesem Jesus nachzufolgen geistlich viel getan -da sind Wunder geschehen und Welten verschoben worden. Hier in Indien bin ich angehalten, darueber nachzudenken, was bestimmt nicht falsch ist! Lange Rede, kurzer Sinn (wiedermal): Die Grunderkenntnis ist, dass ich nicht hier bin, um einer bestimmten Aufgabe gerecht zu werden, sondern um "aufzugeben". Ich gebe westliche Programmierungen meiner Persoenlichkeit auf und lasse mich belehren.
Vielleicht werde ich meine Geschichte nach reifen Ueberlegungen mit den Ashrambewohnern teilen...
Das nur mal zwischendurch -jetzt zum interessanten Part: den Patienten.

© Guyaine Hemmer, 2010
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Freiwilligendienst beim Sewa Ashram in Delhi, Indien.
Details:
Aufbruch: 30.03.2010
Dauer: 9 Monate
Heimkehr: 02.01.2011
Reiseziele: Indien
Der Autor
 
Guyaine Hemmer berichtet seit 14 Jahren auf umdiewelt.