Auschwitz - wo Grauen greifbar wird
Beschreibung eines im Rahmen eines zweimonatigen Aufenthalts in Polen durchgeführten Besuches in Auschwitz.
Auschwitz
Ein wenig verwegen komme ich mir schon vor mit meiner Frage, ob ich eine Woche frei bekommen könne, Urlaub sozusagen. Mein Praktikum in der Telefonzentrale der polnischen 600.000-Einwohner-Stadt Poznan (früher Posen) soll insgesamt nur sechs Wochen dauern - und dabei dann noch eine Woche frei machen? Zusammen mit neun anderen Praktikanten (wir sind alle zusammen im Studentenwohnheim untergebracht) planen wir eine kleine Rundreise durch Polen. Eine Woche lang plus die beiden angrenzenden Wochenenden wollen wir das Land erkunden, ein wenig zumindest. Nach Warszawa (Warschau), Kraków (Krakau) und Gdansk (Danzig) soll uns unsere Rundreise führen.
Meine Verblüffung ist jedoch nicht gering, als meine Frage bei meinen Chefs nicht nur auf Zustimmung trifft, sondern geradezu begeistert aufgenommen wird: ja natürlich soll ich ihr geliebtes Heimatland Polen kennen lernen! Das mag wohl an dem ausgeprägten Nationalstolz liegen - natürlich schmeichelt es diesem, wenn jemand dem eigenen Land mit Neugierde und großem Interesse begegnet. Meine neun Mitfahrer (vier Spanier, ein Grieche, zwei Niederländer, eine Schwedin, eine Norwegerin und ein weiterer Deutscher) machen alle genau die gleichen Erfahrungen - also kann es losgehen.
Das Almatur-Studentenhotel in der schönen Stadt Kraków bietet auch einen guten Startpunkt für Ausflüge in die Umgebung, also beschließt die Gruppe, einen Ausflug in die Berge nach Zakopane zu machen. Mich jedoch zieht es nicht so sehr dorthin - auf mich hat ein anderer Ort eine größere, tiefe Anziehungskraft, wenn auch aus anderen Gründen: Oswiecim. In der Welt besser bekannt unter dem deutschen Namen Auschwitz, Ort des größten Menschenvernichtungslagers während des deutschen Nationalsozialismus. Die kleine Reisegruppe zeigt Überraschung und Verständnis - Nikos, der Grieche entschließt sich sogar, mich zu begleiten.
Tags darauf - ein wenig überrascht muss ich zur Kenntnis nehmen, dass Oswiecim nicht "nur" Konzentrationslager ist. Eine lebendige Stadt mit rund 50000 Einwohnern und - wie ich später erfahre - Jahrhunderte alter Geschichte empfängt mich. Der Weg ins das Hauptlager des Konzentrationslagers ist jedoch schnell und leicht gefunden, schließlich sind viele andere auch dem Weg dorthin.
Es war dies nicht das erste frühere Konzentrationslager, das ich betrete - doch trotzdem lässt mich der Gang durch das Tor mit der Aufschrift "Arbeit macht frei" nicht kalt, mir laufen eisige Schauer den Rücken hinunter. Viele zuvor gesehene Berichte und Bilder huschen mir durch den Kopf, sowie der Besuch im Konzentrationslager Dachau. Nach Betrachten eines Filmes nimmt dieses Gefühl von Entsetzen zu, der Gang durch die 28 früheren steinernen Häftlingsblocks, heute zumeist Ausstellungshallen, lässt schaudern.
"Arbeit macht frei": Der Eingang zum Hauptlager Auschwitz.
Vieles jedoch hat man schon gesehen - auf Bildern. Hier steht man jedoch davor, mittendrin und sieht in einem verglasten Raum... ausschließlich eine nicht abschätzbare Anzahl an Brillen. Oder einen Raum voller Schuhe. Oder, für mich besonders eindrucksvoll, die Halle mit menschlichen Haaren. In Gedanken gehe ich durch: trotz meiner recht langen Haare hinterlasse ich beim Friseur nur ein verschwindendes Häuflein an Haaren auf dem Boden. Wie viele Menschen sind notwendig, um einen solchen Berg von sieben Tonnen zusammen zu tragen? Auf bedrückende Weise unvorstellbar!
Die Haare selber sind hier jedoch letztlich nur ein Mittel dazu, Bilder zu erzeugen. Man kommt eigentlich nicht umhin, sich vorzustellen, von was für Menschen diese Haare stammen, was für Situationen sie durchmachten, wie ihnen zumute war, als ihnen die Haare geschoren wurden. Es schnürt einem die Kehle zu. Obwohl sich die Deutschen vor dem Rückzug aus dem Lager bemühten, die Warenlager zu vernichten, fand die Rote Armee nach der Befreiung von rund 350.000 vollständige Männeranzüge sowie 830.000 Frauenkleider.
Dreht man sich von dem Blick auf diesen Haarberg um - schaut man in Gesichter. Fotos von früheren Häftlingen schauen einen geradewegs an. Die Gesichter sind ernst und hart, die Blicke jedoch für mich überraschend klar und geradeaus.
Block 11 - der Todesblock. Äußerlich unterscheidet er sich in keiner Weise von den anderen. Und doch war er gefürchtet. Der Block war ständig verschlossen, der Hof war mit einer hohen Mauer umgeben. Niemand konnte hinein schauen, nur Schüsse waren zu hören - 20.000 Leben wurden dort an der "Todeswand" beendet (die Einwohnerzahl meiner Geburtsstadt). Und dann stehe ich plötzlich in den Dunkel- oder Stehkammern, in denen gut 40 Jahre zuvor hunderte von Menschen zu Tode gefoltert wurden. Das Grauen wird mit Händen greifbar - eigentlich benötige ich Zeit, ein wenig zu verweilen, zu "be-greifen".
Aber: leider geht dies nicht. Ich würde im Weg stehen. Es ist voller Menschen an diesem Tag im Auschwitz-Lager I. Und: Die vielen Menschen fangen an, mich zu stören.
Damit sich ein Besuch im Konzentrationslager Auschwitz für einen persönlich "lohnt" muss man die Bereitschaft mitbringen, sich auf die Dinge einzulassen, sie auf sich einwirken zu lassen, die eigene Vorstellungskraft zu bemühen. Ob man es wirklich schaffen kann, die zahlreichen massiven Eindrücke an sich abperlen zu lassen, indem man den Ort wie ein beliebiges Museum "anschaut"? Die vielen Menschen hier könnten einen hierzu verführen - man findet keine Ruhe zu verweilen, zu verdauen, vielleicht zu weinen... Und das bei den vielen Bildern und Eindrücken, die hier auf einen einprasseln!
Bei meinem griechischen Begleiter bemerke ich zunehmend eine gewisse Unruhe und Ungeduld. Selber von meinen Eindrücken überrollt, trifft es mich geradezu in Mark und Bein, als er mir nach insgesamt rund zwei Stunden eröffnet "Well, there is nothing to see here - I would like to go back to Kraków". Offenkundig hat er einen komplett anderen Bezug hierzu als ich, als Deutscher. Unsere Wege trennen sich, mein Bedürfnis, mehr zu sehen kann ich weiter nachgehen.
Lohnenswert und auch - bei weitem - nicht so bevölkert nehme ich mir dann noch Zeit für die speziellen Ausstellungen, die von den am schlimmsten von der Verfolgung betroffenen Ländern erstellt worden sind. Ein wenig kopfschüttelnd registriere ich hierbei unter anderem eine Ausstellung der DDR, offenbar sieht man sich dort auch allein als Opfer der deutschen Nazi-Barbarei.
Stacheldraht, geladen mit tödlicher Hochspannung im Hauptlager Auschwitz.
Mein Kopf ist schon voller Bilder und Eindrücke, als ich die Sonderausstellung aus Frankreich in Block 20 betrete - für mich die eindrucksvollste. Keine allzu langen Schriftstücke und Dokumentationen, stattdessen eine Ansammlung an beeindruckenden Fotos und Bildern. Die Darstellungsweise ist ein wenig effekthaschend - aber doch gut. Auf einem etwas erhöhten Laufsteg geht man durch die Ausstellung, die sich auf einer Spirale um diesen Laufsteg herum windet. Läuft man nun hier durch und betrachtet die Bilder aufmerksam (es war hier glücklicherweise fast menschenleer!), dann geht man langsam und ständig in einem großen 360-Grad-Bogen um sich schauend voran. Und irgendwann wird es passieren: es wird einem schwindelig, man fängt an zu taumeln, findet aber keine Halt in unmittelbarer Nähe. Plötzlich fühlt man sich selber hilflos, man bekommt das Gefühl, dass einem an diesem Ort die Sinne schwinden müssen und nichts wirklich zu fassen ist. Schwindelerregende Eindrücke!
Tief beeindruckt beschließe ich, den Ort des Grauens und der Menschenansammlung zu verlassen... Aber kann ich jetzt am frühen Nachmittag, einfach so, wie zurück nach Kraków fahren und mich mit meinen Bekannten treffen, Kaffee trinken? Ein wenig ziellos laufe ich umher, dann fällt plötzlich der Entschluss, dass es das noch nicht gewesen sein kann, drei Kilometer vor den Toren von Oswiecim befindet sich die Ortschaft Brzezinka, besser bekannt unter der deutschen Bezeichnung Birkenau. Hier war eines der Außenlager des KZ Auschwitz, das größte. Als "Vernichtungslager", in dem die Deutschen geschätzte 1,5 Mio. Leben auslöschten - fast die Einwohnerzahl Hamburgs.
Flugs ist ein Stadtpan gekauft, ich beschließe, mich zu Fuß dorthin zu begeben. Schon abends kann ich mich an diesen Fußmarsch dorthin nicht mehr erinnern - zu gedankenverloren bin ich. Erinnern kann ich jedoch noch an den Moment, als ich nach einer lang gezogenen Kurve einen kleinen Hügel hinauf gehe und plötzlich das Haupttor des Lagers Birkenau vor mir sehe. Gar nicht mehr so weit entfernt.
Wie ein Schock wirkt dieser Anblick auf mich. Das markante Haupttor ist das eigentliche Bild, das man von dem Konzentrationslager Auschwitz kennt und mit ihm verbindet. Der große Einfahrtsbogen bot den ankommenden Zügen genug Platz, mitten in das Lager hinein zu fahren. Nun stehe ich davor. Es ist offen - einladend. Und doch: mit dem Wissen des hier Vorgefallenen kann ich Beklemmungen und einen Druck in der Magengegend nicht ignorieren. Fünfzehn Jahre, nachdem das Grauen an diesem Ort beendet wurde kam ich auf die Welt. Lange Zeit kamen mir diese Jahre wie eine Ewigkeit vor, weit weit entfernt zurück - in dem Moment, in dem ich hier vor dem unversehrten Tor stehe, begreife ich: es war eigentlich nur ein Wimpernschlag der Geschichte, dass ich das Glück hatte, diese Zeit nicht erleben zu müssen.
Den Turm des Haupttores kann man begehen, ebenso wie die Nebengebäude. Dort gibt es zwei Dinge: eine kleine Ausstellung - und eine umfassende Übersicht über das Gelände. Mein Bedarf an Ausstellungen ist für heute gedeckt, jedoch stockt mir bei Aussicht vom Turm der Atem, ich schlage die Hand vor den Mund: das Gelände ist ungeahnt riesig! Viel viel größer, als das zentrale Hauptlager. Es stehen nur noch verhältnismäßig wenige der Baracken, von vielen sind nur noch Grundmauern bzw. Grundrisse zu sehen. Sie standen eng aneinander. Die Größe des Geländes ist kaum zu schätzen. Vielleicht die Größe von 20 oder 50, vielleicht aber doch 100 Fußballfelder?
All das, was ich aus Schulzeiten, aus Filmen, Dokumentationen, aus Büchern und Zeitschriften über Konzentrationslager so im Sinn habe - hier liegt es plötzlich vor mir: die Baracken, die Stacheldrahtzäune, die Zuggleise an denen gleich die erste "Selektion" stattfand und weit hinten die Ruinen der Krematorien. Plötzlich sind diese Bilder hier greifbare Realität. Und ich stehe dort, wo vor 43 Jahren SS-Aufseher standen - dies kann ich nicht ertragen.
Blick über das gigantische Vernichtugnslager Birkenau.
Erstaunt registriere ich noch, dass kaum Menschen auf dem riesigen Areal zu sehen sind, ein paar Gärtner und Handwerker, die in offenbar großer Ruhe die Stätte pflegen. Ganz vereinzelt nur ein paar Besucher, die in kleinen Grüppchen über das Gelände streifen.
Ich begebe mich hinunter vom Haupttor, hinein ins Gelände des Konzentrationslagers und es empfängt mich mit... Ruhe. Stille.
Endlich der Raum zur Kontemplation.
Hinein in eine der noch original erhaltenen und restaurierten Baracken, ich werde empfangen mit dem Satz "Eine Laus - Dein Tod!" gemalt auf einer Tafel mitten im Raum und versuche mir vorzustellen, wie sich hunderte von Menschen in dieser Hütte drängen. Es gelingt mir nicht wirklich. Es stellt sich nur Fassungslosigkeit ein.
Ein wenig ziellos schlendere ich durch das Lager, die Bahngleise entlang zum "Internationalen Denkmal für die Naziopfer", zu den Resten der Krematorien, zum See, der die Asche der Toten schlucken musste, an Baracken, Stacheldraht und vielen grünen Wiesen entlang. Die Bilder vor meinen Augen vermischen sich mit denen in meinem Kopf, alles scheint plötzlich voller Baracken und geschundenen Menschen. Millionenfache Höllenqualen, millionenfache Todesangst - hier ist dies zu Hause.
Zeit zur Muße, Zeit zum Nachdenken, Zeit für Gefühle.
Denn: der etwas unwirkliche Frieden, der heutzutage von diesem Ort der systematischen, maschinellen Menschenvernichtung ausgeht, rührt mich wie weniges zuvor in meinem Leben - rührt mich zu Tränen. Scham - gewaltige Scham - Trauer und Fassungslosigkeit über die Grausamkeiten bedrücken und schütteln mich - ich kann sie fast mit Händen greifen, die Last der Verantwortung, die die Deutschen tragen. Also auch ich. Verantwortung dafür, ähnliches nie wieder passieren zu lassen. Verantwortung dafür, diese Untaten nicht zu vergessen und diesen Ort zu erhalten.
Und: hier ist sie auch sichtbar, die Schuld, die auf den Deutschen liegt. Auch auf mir - auch wenn ich zum Zeitpunkt des Geschehens noch gar nicht geboren war. Diese Schuld verschwindet nicht, nicht von allein.
Ein sonderbares Gefühl beschleicht mich darüber hinaus an diesem Ort: Obwohl ich zuweilen im Umkreis von hunderten von Metern der einzige sichtbare Mensch weit und breit bin fühle ich mich nicht alleine, nicht eine Sekunde. Ein äußerst sonderbares Gefühl - vielleicht ja auch "nur" mein Weg, das Massenmorden an diesem Ort überhaupt verkraften zu können, das Unvorstellbare irgendwie zu ertragen? Aber - wer weiß es schon, was dieses Empfinden war?
Einige Stunden verweile ich hier. Die friedliche und ruhige Stimmung erscheint mir bis zum Ende meines Besuchs irreal. Aber sie ist wohltuend, hat eine gewisse Magie, hinterlässt einen versöhnlichen Eindruck. Man muss jedoch die Bereitschaft und auch die Kraft mitbringen, sich hierauf einzulassen. Aber dieser Ort zeigt mir: Ja, es scheint allen Schrecken zum Trotz Raum für Frieden und Versöhnung zu geben!
Ein anderer Student aus meiner "Praktikumsgruppe" machte bei seinem gesonderten Besuch in Birkenau gänzlich andere Erfahrungen. Er wurde von anderen Besuchern - er ist auch Deutscher - heftig beschimpft und mit der Androhung von Gewalt wurde er aufgefordert, das Gelände zu verlassen. Die Besucher waren Amerikaner. Wer weiß schon, welch tiefer Schmerz diese Leute bewegte?
Der Tag meines Besuches geht jedoch langsam zur Neige und mit verblüffend großer Ruhe verlasse ich das Konzentrationslager Birkenau. Zu Fuß geht's zurück in die Stadt Oswiecim. Am anderen Ende der Stadt registriere ich erst jetzt eine ganze Anzahl von hohen Schornsteinen, dicker weiss-gräulicher Raum quillt aus ihnen hervor. Ich sinniere darüber ob dies wohl die Chemiefabrik der IG-Farben ist, weiß dies aber nicht (direkt neben dem Fabrikgelände gab es übrigens ein weiteres Lager, das zum KZ Auschwitz gehörte).
Die deutschsprachige Gedenktafel in Birkenau...
Ich beschließe, dass es jetzt aber genug ist mit der Gedankentiefe - den erstbesten Bus, der mir über den Weg fährt und der Richtung Bahnhof fährt ist meiner! Erst dort bemerke ich meine geistige und körperliche Erschöpfung - und zusätzlich bemerke ich die Kontrolleurin, die durch den Bus geht und die Tickets kontrolliert. Kein Problem, denke ich - ich habe mein Ticket, der Fahrpreis beträgt umgerechnet einen Pfennig, an diesem Lochmuster-Quetscher ja entwertet. Aber mitnichten: etwas gefällt der mittelalten Dame an meinem Ticket nicht. Mit aller Autorität lässt sie einen Schwall sehr schnell gesprochenes Polnisch auf mich hernieder prasseln. Ich verstehe nichts, bringe mit "Przepraszam" gerade mal eine polnische Entschuldigung hervor, um dann in Englisch zu erklären, dass ich kein Polnisch spräche. Die Kontrolleurin schaut mir ernst ein paar Sekunden lang in mein erschöpftes Gesicht - dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht, sie gibt mir das Ticket zurück, nickt mir freundlich zu und geht weiter...
Aufbruch: | Juni 1987 |
Dauer: | circa 9 Wochen |
Heimkehr: | August 1987 |