Kailash - Eine Reise zum Mittelpunkt der Welt
Der Mittelpunkt der Welt
In diesem Tibet, das so weit am Rande unserer Welt liegt und dem Reisenden so viel abverlangt, dass es vom Massentourismus Gott sei Dank verschont geblieben ist, in diesem Land liegt jedoch ohne Zweifel der Nabel der Welt. Seit Jahrhunderten suchen unzählige Pilger aus Tibet, Indien und Nepal den Berg Meru auf, die mythologische Weltenachse des Buddhismus und Hinduismus, den Mittelpunkt der Welt. Das geistige Symbol Meru wird durch den realen Berg Kailash oder Kang Rinpoche, das Schneejuwel, verkörpert. Der Berg ist "nur" 6714 m hoch, überragt aber majestätisch seine Um-gebung und gilt seiner ebenmäßigen Form wegen als gewaltiges natürliches Mandala. Auf dem mit ewigem Schnee bedeckten Gipfel sitzt dem Mythos nach der Gott Shiva, der große Zerstörer und Erneuerer der Welt. Auf den Knien seine schöne Frau Parvati. Aus seinem Haar fließt das Wasser, das den heiligen Fluss Ganges bildet. In der Um-gebung des Kailash entspringen vier große Flüsse Asiens, der lndus der Sutlej, der Karnali, der zum Ganges wird und der Tsangpo oder Brahmaputra. Im Süden nur einige Kilometer entfernt, liegen die heiligen Seen Manasarovar und Rakas Tal, die Verkörperungen des Guten und des Bösen. Im hinduistischen Epos Ramayana heißt es »Wann immer einer den Boden um den Manasarovar berührt oder wenn er in dem See badet, so wird er ins Paradies des Brahma eingehen; und der, der von seinen Wassern trinkt, wird in Shivas Himmel eingehen und wird von den Sünden von hundert Wiedergeburten erlöst werden.« Aber was nützt es, von hundert Wiedergeburten erlöst zu werden, wenn das Karma nicht ausreicht, um in das Nirvana einzugehen. Verbessern kann man das Karma jedoch, wenn man den heiligen Berg Kailash umrundet. Eine Umrundung bringt schon großen spirituellen Nutzen, um jedoch unmittelbar die Erleuchtung, das Nirvana zu erlangen, muss dies 108 mal erfolgen,.
Mich faszinierte die Vorstellung, dass bis in die 1980er Jahre nur eine Handvoll "Philings", Menschen aus dem Abendland, den Kailash sehen oder gar umrunden konnten, wie beispielsweise Herbert Tichy der, als Pilger verkleidet dies 1935 schaffte. Diese Parikrama oder Kora hat eine Länge von 53 km, dabei werden 800 Höhenmeter überwunden. Ihr Höhepunkt im wörtlichsten Sinne ist der 5700 m hohe Pass Dölma La, der sei-nen Namen von Tara, der Göttin der Barmherzigkeit ableitet. Wie viele Zweifel hatte ich, ob ich die Umrundung, vor allem den letzten sehr steilen Aufstieg, schaffen würde - und wie einfach war es dann im Rückblick. Eine gute Voraussetzung war die langsame Akklimatisierung an die große Höhe durch die Fahrt über den Chang-tang, entscheidend war aber der Wille, das Ziel zu erreichen und die Kora zu vollenden. Glaube kann Berge versetzen.
Der Weg um den Kailash, der für die meisten Pilger im Uhrzeigersinn verläuft, nur die Anhänger der Bön-Religion laufen anders herum, begann mit einer bequemen Wande-rung durch ein leicht ansteigendes, wunderschönes Tal. Das Wetter war prächtig und der Berg zeigte sich von seiner schönsten Seite, obwohl es am Vorabend noch gedonnert, geblitzt und gehagelt hatte und auf den Höhen beträchtliche Mengen an Schnee gefallen waren, so dass der Pass nach den Berichten anderer Pilger nicht überquert werden konnte. Es war ein Genuss diese einmalige Landschaft intensiv in sich aufzunehmen, diese bizarren Felsformationen, den blendenden Schnee auf dem Gipfel, den unwirklichen Himmel und die absolute Stille. Die Stimmung und meine Gefühle in diesem Tal lassen sich rational nur schwer erklären oder beschreiben, sie grenzten an Eu-phorie und das Glücksgefühl an diesem Ort sein zu können, war so intensiv, wie sonst kaum noch einmal im Leben. Die Umgebung des Kailash ist mit Sicherheit ein "power place", ein magischer Ort mit einer geheimnisvollen, einzigartigen Ausstrahlung, die jenseits unserer normalen Erfahrung liegt. Aber vielleicht hatte ich diese euphorischen Gefühle, weil ich die Wiedergeburt eines tibetischen Mönches bin, der für kurze Zeit zu Hause sein durfte. In Tibet ist in der Hinsicht alles möglich.
Ein Genuss war nicht nur die Landschaft, sondern auch die Beobachtung der Menschen, die mit uns die Kora machten. Einige der Pilger waren schnell dahinschreitende junge Männer, die die Umrundung an einem Tag schafften. Das andere Extrem waren Menschen, die den Weg um den Berg mit ihrer Körperlänge abmaßen, die sich ständig hinlegten, aufstanden, so viele Schritte machten, wie ihre ausgestreckten Arme auf dem Boden angezeigt hatten, um sich dann erneut hinzulegen. Sie brauchen viele Tage für eine Umrundung, bekommen aber auch viel mehr Karma. Unter den Pilgern waren faltige alte Frauen, kleine Kinder, Säuglinge auf den Rücken der Mütter, hübsche, lachende Mädchen, mit schwarz gefärbten Gesichtern gegen die Sonne, wunderliche Exoten aus Indien, Großfamilien und Pilgergruppen, die am Wegesrand rasteten und Tee kochten. Mit Interesse registrierte ich die vielen Zeichen religiöser Verehrung, die zahlreichen Steinpyramiden, die Anhäufungen von Manisteinen mit den eingravierten Mantras, wie dem allgegenwärtigen "Om manie padme hum".
Ohne sichtliche Anstrengung erreichten wir das Kloster Drira Puk, eines der drei Klöster, die den Parikrama säumen und den Pilgern als Quartier dienen. Von hier aus zeigt sich der Kailash am frühen Morgen von seiner prächtigsten Seite. Die ersten Spuren des Tageslichts lassen das gewaltige, 2000 Meter hohe, senkrecht ansteigende Felsmassiv mehr ahnen als sehen. Die weiße Schneehaube wird immer deutlicher und dann beginnen die ersten Strahlen die gewaltigen Zeichnungen der Felsspalten an der Wand zu modellieren. Da stand der Berg direkt vor mir, perfekt in seiner symmetrischen Tetraederform, flankiert von zwei vorgelagerten kleineren Gipfeln, hinreißend in goldenes Licht getaucht vor dem noch nächtlichen, dunkelblauen Himmel: ein unvergesslicher Anblick, ein gewaltiger Eindruck dieses Berges voller Kraft, voller Geheimnisse und Ma-gie, dieses natürlichen Heiligtums.
Der Anblick gab Kraft für den härtesten Teil der Kora, die Ersteigung des Dölma La Passes. Zehn Schritte gehen, stehen bleiben, tief und intensiv Luft holen, später sind es oft nur noch drei oder vier Schritte. Man ist auf sich und die Anstrengung des Körpers konzentriert und nimmt die Landschaft nur noch diffus wahr, ebenso wie die Pilger, die in langen Reihen hintereinander gehen und den keuchenden Philing scheinbar leichtfüßig überholen. Wichtig war es in dieser Phase, einen eigenen Stil und Rhythmus zu finden und konsequent durchzuhalten.
Man muss sterben, bevor man wiedergeboren werden kann. Die Umrundung des Kailash ist eine Wiedergeburt, der Ablass aller Sünden eines irdischen Lebens. Das Karma wird verbessert, man kommt dem Nirvana näher. Der Tod ist der beschwerliche Aufstieg, die Überwindung des letzten, steilen Anstiegs in der extrem dünnen Luft. Man kommt an dem Leichenacker Zhiwa Tshäl vorbei, dem Ort, den die Seelen im Bardo aufsuchen, dem Abschnitt zwischen Tod und Wiedergeburt. Hier begegnen sie dem Totenrichter Yama und die Pilger lassen Locken ihres Haares oder Kleidungsstücke als Opfergaben zurück. Und wenn jemand Glück hat, lässt er auch seine irdische Körperhülle hier.
Doch wenn man den Pass erreicht hat, strömt das neue Leben in den Leib, in diese unbedeutende, temporäre Hülle. Ich erreichte den Pass, total erschöpft und hoch erfreut und stimmte, immer noch kurzatmig, in den Jubel der Pilger ein: "Lha so so so so", den Göttern sei Dank. Endlich sitzen, durchatmen, ausruhen, zusehen, wie die anderen die letzten Meter mühsam schaffen. Dann, als sich wieder frische Kräften aufgebaut hatten, stand noch die Umrundung des riesige Felsblocks auf dem Pass an, der mit Münzen und persönlichen Dingen vollgesteckt und vollgeklebt ist und von dem unzählige Schnüre mit Gebetsfahnen ausgehen. Auch von mir ist ein Büschel Haare und eine Foto meiner Familie dort deponiert. Nun war ich am Ziel der langen Reise, ein Traum hatte sich erfüllt!
Hinunter ging es dann leichter. Zwar sehr steil und beschwerlich, durch Schnee und Eis, aber es ging abwärts, der Atem reichte wieder aus und irgendwann war der Talboden erreicht und die bequeme Wanderung des ersten Koraabschnittes wurde wieder aufgenommen. Die Sinne öffneten sich erneut für die Schönheit und Einmaligkeit der Landschaft, die eigene Wiedergeburt zeigte sich von ihrer schönsten Seite. Auf dieser Seite des Berges sah man die gewaltige Felsscharte, die der Bönpriester Naro Bönschung in den Fels gehauen hatte, als er im Wettstreit mit dem Heiligen Milarepa unterlag. Das Rennen auf den Gipfel, der im übrigen noch nie von einem Menschen bestiegen wurde, entschied Milarepa dank seiner Magie für sich und damit siegte der Buddhismus über die Naturreligion der Bön.
Aufbruch: | Mai 1996 |
Dauer: | circa 5 Wochen |
Heimkehr: | Juni 1996 |