China / Tibet - Lhasa
Die Extrem-Pilger
Im Hochtal von Lhasa angekommen fährt der Bus dann wieder vorbei am Jokhang-Tempel und er bekommt die folgenden Zusammen-hänge erläutert:
Im 7. Jahrhundert schickt der tibetische Kaiser einen Gesandten nach CHI-AN (Hauptstadt der "Tang-Dynastie"), damit dieser für ihn um die Hand der Tochter des chinesischen Kaisers bittet. Der chinesische Kaiser ist zu dieser Zeit sehr einflussreich, da 50% des Welthandels zu dieser Zeit über China laufen. Der Kaiser stellt dem Gesandten aus Tibet und vielen anderen Mitbewerbern 7 Aufgaben. Derjenige, der die Aufgaben am besten löst, bekommt den Zuschlag für die Hand der Kaisertochter. Der tibetische Gesandte macht das Rennen und so tritt die chinesische Tochter die 3-jährige Reise nach Tibet an. Sie nimmt als Geschenk für den tibetischen Kaiser eine Buddha-Statue mit. Diese zeigt Buddha als 12-jährigen Jüngling. Sie führt damit auch gleichzeitig den Buddhismus in Tibet ein. Zuvor hat der tibetische Kaiser auch die Tochter des nepalesischen Kaisers geheiratet, die selbst auch eine Buddha-Statue als Geschenk mitgebracht hatte. Diese stellt Buddha als 8-Jährigen dar. Die wertvollere Statue ist die chinesische, die nach ihrem Tod ihren Platz im Jokhang-Tempel im Zentrum von Lhasa findet. Statue und Tempel sind heute zu besichtigen und gelten als höchste buddhistische Pilgerstätte und Zielpunkt der Extrem-Pilger. Dieses Thema ist für ihn hier in Tibet eine der größten Faszinationen, die in diesem Fall nicht die Natur, sondern der Mensch selbst hervorbringt. Jede olympische Goldmedaille tritt nach seinem Empfinden danach in den Hintergrund. Der Glaube verschafft dem Menschen hier keine sprichwörtlichen Flügel, sondern unvorstellbare Energie für eine der ungewöhnlichsten Fortbewegungsformen. Sie legen ein Distanz von 2.000 Km (in Worten: zweitausend Kilometer) bäuchlings zurück, um in Lhasa im Jokhang-Tempel der Buddha-Statue zu huldigen. Vom Bus aus sieh er bereits mehrere dieser Pilgerer im vorbeifahren. Nun aber, als er schon von weitem eine Person auf dem flimmernden Asphaltstreifen sieht, stoppt der Bus und er hat Gelegenheit mit ihm zu sprechen, als der parkende Bus seinen Weg blockiert. Ganz entspannt und freundlich, aber etwas scheu und bescheiden wirkt dieser vielleicht 25 jährige junge Mann. Eine lange Schürze, Knieschoner und Holzkeile an Händen und Füßen sind der einzige Schutz vor den unmenschlichen Strapazen. Wie sieht die Fortbewegung genau aus ? Die Pilger legen sich mit dem Bauch auf den blanken Asphalt, neigen die bloße Stirn auf den Boden und machen mit den Armen eine dem Brustschwimmen ähnliche Bewegung. Dann stehen sie wieder auf, machen 4 Schritte und gehen erneut zu Boden. Damit legen sie eine Tagesleistung von ca. 7 Kilometern zurück. Als er den Pilger fragt, wo er her komme und wie lange er denn schon unterwegs sei, antwortet dieser ganz unspektakulär: Ich komme aus der tibetischen Nachbarprovinz Sichuan, habe in den letzten 9 (neun) Monaten schon 1.800 (eintausendachthundert) Kilometer zurückgelegt und dabei auch einen Berg von etwas über 5.000 Metern überwunden. All dies auf der Nationalstraße 318, die über 5½ -tausend Kilometer von Shanghai nach Kathmandu führt. An dieser Stelle waren es nur noch 120 Kilometer, also ca. 16 Tage bis zum Ziel in Lhasa, eine Distanz, die er nach dieser denkwürdigen Begegnung mit dem Bus in 2 Stunden zurücklegt. Wo schlafen, wie essen u. waschen sich die Pilger ? Jeder - manchmal sind es auch 2 - 3 in einer Gruppe hat ein "Begleitfahrzeug". Eine Person mit einer zu Fuß gezogenen Handkarre, auf der sich die nötigste Ausrüstung befindet. Vielleicht ein kleines Zelt und Ersatz für die erwähnten Verschleißteile. Jede tibetische Familie ist bereit, einem Pilger für die Nacht in ihrem Haus Unterschlupf zu geben. Essen und gelegentlich etwas Geld wird ihnen am Straßenrand zugesteckt. Auf der Rückfahrt nach Lhasa kann er sich nicht mehr lösen von dem Gedanken und dieser denkwürdigen Begegnung und er blickt immer wieder auf den flirrenden Asphalt, der unter ihm mit 60 - 70 Stundenkilometern vorbeirauscht und er stellt sich vor, wie sein gläubiger Gesprächspartner dort jeden Meter auf dem Bauch zurücklegen wird. Die Pilger werden in ihren Dörfern ausgesucht um diese Strapaze auf sich zu nehmen und für den Pilger selbst, aber auch für das ganze Dorf hat dies einen hohen sozialen Stellenwert und verleiht ihnen höchste Anerkennung. Welch eine Last und Verantwortung für den Auserwählten, der 10 lange Monate versucht, die in ihn gesetzte Verantwortung zu erfüllen und gleichzeitig für sich persönlich das höchste religiöse Ziel zu erreichen. - Ein Lebenswerk !
Nach der Ankunft in Lhasa geht er mit seiner Frau noch mal eine kleine Runde hin zum Jokhang-Tempel, dort wo sich das gesellige Abendleben zwischen Souvenirkitsch und Heiligtümern abspielt. Die hinter den Bergen untergehende Sonne tüncht die vereinzelten Wölkchen und einige lang gezogene Zirrus-Wolken in ein Pink-Rot und lässt die Menschen vor dieser Kulisse zu Statisten, aber einige auch zu Hauptdarstellern werden. Gerade kommt ein älterer, aber sehr drahtiger Pilger liegend und schreitend um die Tempelecke. Sein Gesichtsausdruck hat etwas vom Siegerblick eines Gladiatoren, aber auch dieses endlose Glückgefühl, die Spiritualität und Demut, es geschafft zu haben und Gott nach 2.000 Kilometern ganz nahe zu sein. Ein ergreifender Augenblick, als er sein Ritual für ein kurzes Gespräch mit ihm unterbricht. Fast physisch spürt er die Aura und psychische Kraft die dieser Mann ausstrahlt und er empfindet, dass er ihm so vieles voraus hat. Er kommt sich klein und unvollkommen vor und schmilzt aus Respekt vor dieser Leistung und dem damit verbundenen Zwiegespräch mit Gott fast dahin. Noch lange denkt er im Bett an diesen Augenblick und nur der Schlaf unterbricht seine Gedankenflut bis zum nächsten Morgen.
Aufbruch: | 04.06.2005 |
Dauer: | 6 Tage |
Heimkehr: | 09.06.2005 |