Israel/Palästina
Palästina
Hebron Teil 1
Ich verlasse Israel und mache mich erstmals auf den Weg in die sog. West Bank. Ziel ist Hebron, eine der ältesten Städte der Welt. Die Stadt liegt 30 Kilometer südlich von Jerusalem und hat ca. 300 000 Einwohner. Hier befindet sich auch das Grab des biblischen Stammvaters Abraham, weshalb diesem Ort sowohl für die Juden als auch für die Moslems eine enorme religiöse Bedeutung zukommt.
Die Stadt ist in die Sektoren H 1 und H 2 aufgeteilt. Ich besuche lediglich den konfliktreichen Sektor H 2. Dieser Teil wird ausschließlich vom israelischen Militär kontrolliert, um die rund 800 Siedler, die sich im Herzen von Hebron niedergelassen haben, zu schützen. Die Siedler teilen sich das Gebiet mit ca. 25 000 Palästinensern.
Bereits die Anreise mit dem Bus lässt erahnen, dass von einem friedlichen Zusammenleben der beiden Gruppen wohl kaum gesprochen werden kann, es reiht sich ein Checkpoint an den nächsten. Als der Bus in Hebron stoppte, stieg ich aus, drehte mich einmal im Kreis und schaute in die Augen eines schwerbewaffneten Soldaten. Mich beschlich das Gefühl aus irgendwelchen Gründen nicht in Hebron, sondern in einem Militärcamp gelandet zu sein. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass hier Menschen leben sollen. Ich bewegte mich also langsam auf den Soldaten zu, um nach dem richtigen Weg zu fragen. „Welcome to Hebron“, waren seine ersten Worte. Ich hatte also Gewissheit.
Nach dem Passieren eines Checkpoints gelangte ich auf einen kleinen Markt, der sich innerhalb einer kleinen Häusergasse befand. Mir fiel auf, dass die schmale Gasse nach oben hin durch ein stabiles Drahtnetz gesichert ist, welches bereits durch ein paar größere Steine und eine ganze Menge Müll nach unten gedrückt wird. Ich nahm dieses Bild zum Anlass, um mit einem palästinensischen Marktbesucher ins Gespräch zu kommen. Dieser erzählte mir, dass die herumliegenden Häuser von jüdischen Siedlern bewohnt werden und diese regelmäßig Steine und Müll von den Balkonen und Terrassen auf die unten liegende Straße werfen, die ausschließlich von Palästinensern benutzt wird. Er forderte mich ganz offensiv auf, Fotos zu machen und diese meinen Freunden in Deutschland zu zeigen. Auch das ist ein Merkmal des Nahostkonflikts, beide Seiten versuchen stets die internationalen Besucher zu instrumentalisieren, um ihre Sichtweise in die Welt zu tragen. Der Nahostkonflikt ist eben auch ein Propagandakrieg. Ein weiterer Marktbesucher gesellte sich zu uns und berichtete von den täglichen Schikanen und Diskriminierungen, denen die palästinensischen Bewohner Hebrons täglich ausgesetzt seien. So dürften bestimmte Straßen innerhalb Hebrons nur von jüdischen Siedlern benutzt werden. Die Palästinenser müssten deshalb oft große Umwege gehen, manche gar über das Dach klettern, um den Hintereingang der Haustür zu erreichen, weil der Vordereingang an der jüdischen Straße liegt. Es handelt sich also um Straßen, die für bestimmte Bevölkerungsgruppen gesperrt sind. Das erinnert mich an dunkle Zeiten in Deutschland und an Apartheidregime. Es ist eine schreckliche Logik. Ausgerechnet Israel, dessen Staatsgründung maßgeblich durch die schrecklichen Verbrechen im 20. Jahrhundert begründet worden ist, baut Straßen, die von einer bestimmten Menschengruppe nicht betreten werden darf. Dies beschränkt sich im Übrigen nicht auf Hebron, sondern ist im gesamten Westjordanland anzutreffen. Ich begleite einen meiner Gesprächspartner bis zum nächsten Checkpoint. Dort trennten sich unsere Wege, weil ich - anders als er - zügig von einem israelischen Soldaten durchgewunken wurde.
Später traf ich mich mit Mohammed, der nur unwesentlich älter ist als ich. Dieses Treffen konnte ich mithilfe des Hostels, in dem ich mich in Jerusalem aufhielt, im Vorfeld organisieren. Nach einem kleinen Stadtrundgang aß ich mit ihm und seiner Familie zu Mittag. Es gab Reis und Hähnchen. Mohammed spricht fließend Englisch und macht einen sehr intelligenten Eindruck. Ich wollte von ihm wissen, wie ein Mensch unserer Generation in Hebron leben kann. Auch Mohammed erzählt mir zunächst von den täglichen Diskriminierungen durch die israelischen Siedler und Soldaten, die er schlichtweg Besatzer nennt. Die Schikanen hätten ausschließlich das Ziel, das Selbstvertrauen eines ganzen Volkes zu zerstören. Am schlimmsten sei für ihn aber die fehlende Reisefreiheit, welche die West Bank zu einem großen Gefängnis mache. Selbst innerhalb des Westjordanlandes seien die Reisen durch die vielen Checkpoints mit enormen Mühen und Frustrationen verbunden.
Mohammed wollte von mir wissen, ob ich bereits die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem besucht hätte. Ich erzählte ihm von meiner Begegnung mit Illyana und dem wunderschönen Sonnenuntergang. Er selbst konnte diesen für Palästinenser so wichtigen Ort bisher nur ein einziges Mal und zudem auf nicht legalem Weg besuchen. Wie viele andere Palästinenser auch, stellte er erfolglos einen Antrag bei den israelischen Behörden Jerusalem besuchen zu dürfen. Diese untersagten ihm bis zum Jahr 2112 Jerusalem zu besuchen. Ein Schlag ins Gesicht. Zumindest der Galgenhumor ist ihm bei aller Verzweiflung nicht abhandengekommen. Immerhin sei das Verbot nicht von unbegrenzter Natur, insofern habe er noch Schwein gehabt.
Um trotzdem einmal die al-Aqsa-Moschee persönlich zu betreten können, würden viele Menschen aus dem Westjordanland trotzdem versuchen nach Jerusalem zu gelangen. In seiner Generation nennt man dieses Vorgehen „sneaking“. Was zunächst nach einem Abenteuer klingt ist in Wirklichkeit lebensgefährlich. Vor 10 Jahren habe er sich früh morgens von Hebron auf den Weg nach Jerusalem gemacht. An einigen Stellen sei die Mauer auf dem Weg nach Jerusalem nicht unüberwindbar. Klettern, springen, rennen. Alles müsse ganz schnell gehen, weil die dort stationierten Soldaten nicht zögern würden die Palästinenser zu verhaften oder gar zu erschießen. Als alles geschafft war, seien er und sein Freund einfach nur in Tränen ausgebrochen. Die Geschichte von Mohammed ist einfach unglaublich. Ich schäme mich fast dafür, dass ich in den letzten zwei Wochen häufiger in Jerusalem war als Mohammed in den vergangenen 30 Jahren. Gleichzeitig wird mir bewusst, wie privilegiert ich in Europa lebe. Ich hätte mich noch Stunden mit Mohammed unterhalten können aber ich hatte noch etwas vor. Ich machte mich auf den Weg zu den israelischen Menschen der Stadt, schließlich gibt es ja auch noch eine andere Seite.
Fortsetzung folgt...
Hebron Teil 2
Auf dem Weg zu den israelischen Menschen laufe ich durch das alte Zentrum der Stadt, welches mittlerweile einer Geisterstadt gleicht. Nur vereinzelt verschwinden Menschen in Gebäuden. Geschäfte sind verriegelt. Mitunter werden ganze Straßenzüge sogar nur von einzelnen Soldaten beschritten. Ich setzte mich auf eine hohe Bordsteinkante und versuchte mir das typisch arabische Straßenleben vorzustellen, dass hier irgendwann einmal stattgefunden habe musste: Lärm, Shisha, und der Geruch von Kaffee und Gewürzen in der Luft. Meine Fantasie war begrenzt, es klappte einfach nicht.
Ich lief weiter und traf mich mit dem Siedler Gabriel. Auch dieses Treffen hatte ich im Vorfeld organisiert. Gabriel ist ca. 45 Jahre alt und wohnt in einer Siedlung im Umfeld von Hebron. Im hinteren Hosenbund trägt er – wie viele Siedler – stets einen Revolver. Ein Anblick an den ich mich immer noch nicht ganz gewöhnt habe und auch nicht gewöhnen möchte. Nach einer freundlichen Begrüßung besuchten wir die alte Synagoge von Hebron. Diese wurde nach deren Zerstörung im Zuge eines Massakers der Araber an den Juden in dem Jahr 1929 wieder vollständig aufgebaut. Gabriel führte mich nicht zufällig zu allererst in die alte Synagoge von Hebron, er wusste, dass irgendwann die Frage kommen würde warum sich die Israelis ausgerechnet in dieser konfliktreichen Stadt angesiedelt haben. Er erläuterte mir ausführlich die jüdischen Wurzeln in der Stadt Hebron und beantwortete meine Frage ohne, dass ich sie explizit stellten musste: Israelis seien hier, weil sie schon immer hier waren. Dies belege bereits die über 500 Jahre alte Synagoge im Zentrum von Hebron. Mit der Befreiung der West Bank nach dem Ende des Sechstagekriegs (1967) können die jüdischen Wurzeln in Hebron wieder gelebt werden. Ich war irritiert. Die Palästinenser sprechen von einem besetzten Land, die Israelis von der Befreiung des Westjordanlandes. Ich widersprach ihm nicht, sondern hörte weiter zu. Auch Gabriel ist davon überzeugt, dass das Land den Juden zustehe und seine Generation dafür verantwortlich sei, den Traum vom „versprochenen Land“ zu realisieren. Bei jeder politischen Handlung müsse dieser Aspekt immer im Vordergrund stehen. Er machte mir deutlich, dass die israelischen Siedlungen in den historischen Städten des Westjordanlands für ihn nicht verhandelbar seien. Schließlich seien diese Orte die Seele Israels.
Im Anschluss führte er mich zu einer Veranstaltung des obersten israelischen Repräsentanten der Siedlung Hebrons. Zusammen mit anderen politisch interessierten Israelis und „Touristen“ aus Europa, Asien und Amerika lauschte ich der Rede des Politikers. Dieser berichtete über die angeblich vertrauenswürdige Zusammenarbeit von israelischen Siedlern und Palästinensern in der West Bank und der großen Unterstützung der Israelis im Bereich der Wasserversorgung. Die gut klingenden Ausführungen des Politikers passen nicht zu dem bisherigen Bild, welches ich mir von dem Zusammenleben der Israelis und den Palästinensern machen konnte. Ich fragte mich, wie eine solche vertrauensvolle Zusammenarbeit aussehen mag, in einer Stadt, die von Checkpoints und schwer bewaffneten Soldaten geprägt ist und den israelischen Teil der Stadt zu einer Festung mitten im Herzen von Hebron macht. Die Veranstaltung endete mit der Möglichkeit Fragen zu stellen. Ich konfrontierte den Redner mit meinen gemachten Eindrücken und erzählte ihm, dass wir Europäer uns mehrheitlich für eine „Zweistaatenlösung“ aussprechen würden. Dies impliziert jedoch die Aufgabe der Siedlungen im Westjordanland. Eine lebendige Diskussion entwickelte sich leider nicht. Die europäische „Zweistaatenlösung“ spiele schon lange keine ernsthafte Alternative im politischen Leben der Israelis mehr, weil keiner ein Interesse daran hätte, das heilige Land zu spalten, auch nicht die Palästinenser. Eine alternative Lösung war seinen Ausführungen nicht zu entnehmen. Ich hakte weiter nach und fragte provokant, ob die aktuelle Siedlungspolitik der Regierung denn das Ziel verfolge durch einseitige Handlungen „Fakten“ zu schaffen, um so Stück für Stück auch die West Bank in den israelischen Staat einzugliedern. Eine Antwort erhielt ich nicht, stattdessen wiederholte der Redner seine bisherigen Ausführungen von einer immer besser werdenden Zusammenarbeit der beiden Seiten und der historischen Bedeutung der Siedlungen für das Volk Israels. Es schien mir, als ob er tatsächlich an eine solch gute Entwicklung glauben würde. Nach dem Ende der Veranstaltung klatschte nur einer: Gabriel.
Nach der Veranstaltung sprach mich der aus Jerusalem stammende Inon an und freute sich über mein gezeigtes Interesse im Rahmen der Veranstaltung. Inon ist zwar selbst kein Siedler aber überzeugt, dass die Siedlungen im Westjordanland von zentraler Bedeutung für das israelische Selbstverständnis sind. Überzeugte Zionisten würden sich nicht in erster Linie mit den Städten Tel Aviv und Haifa identifizieren, sondern mit den historischen Städten Hebron, Bethlehem und Nablus. Diese Städte würden symbolisch für das „versprochene Land“ stehen. Insgesamt gibt es rund 600000 israelische Siedler von denen mehr als die Hälfte in den Siedlungen der West Bank leben. Laut Inon sind 70 Prozent der Siedler aus ideologischen Gründen in der West Bank. Die restlichen 30 Prozent entscheiden sich aus wirtschaftlichen Gründen für das Siedlerleben, weil der Wohnraum in Israel sehr kostenintensiv sei und der israelische Staat das Leben in einer Siedlung stark subventionieren würde. Auch gab mir Ion eine Antwort auf die in der Veranstaltung unbeantwortet gebliebene Frage der Siedlungsstrategie: Natürlich würde die israelische Siedlungspolitik einem bestimmten System unterliegen. Das Ziel sei am Ende ein großer Staat Israel, vom Jordan bis ans Mittelmeer und vom Sinai bis nach Syrien. Die Palästinenser sollen jedoch ein gleichberechtigter Teil dieses Staates werden. Er selbst habe viele palästinensische Freunde, die politisch genauso interessiert seien wie er. Diese wollen - anders als die Generationen zuvor - nicht unbedingt einen eigenen Staat, sondern vor allem gleiche Rechte. Er lud mich ein, ihn demnächst in Jerusalem zu besuchen, um mit ihm und seinen dort lebenden palästinensischen Freunden gemeinsam über diese Frage zu diskutieren. Ich bedankte mich für die Einladung und das erhellende Gespräch.
Zumindest einige Antworten hatte ich in dieser so konfliktreichen Stadt gefunden, die wie keine andere Stadt symbolisch für den gesamten Nahostkonflikt steht. Trotzdem war ich froh, diese Stadt wieder verlassen zu können. Ich stieg in den Bus und fuhr zurück nach Jerusalem. Nach drei Minuten fielen meine Augen zu, ein anstrengender Tag war zu Ende.
Fortsetzung folgt...
Die Höhle Machpela. In ihr befinden sich die Ruhestätten der drei Erzväter Abraham, Isaak, Jakob und ihrer Frauen Sara, Rebekka und Lea
Ramallah Teil 1
Von Hebron ging es über Jerusalem 30 Kilometer nördlich in die West Bank. Ich checkte im Hostel ein, setzte mich auf das Hochbett und bemerkte, dass mir noch immer die Eindrücke aus Hebron im Kopf herumschwirrten. Anders als im alltäglichen Leben blieb mir jedoch keine Zeit zur Reflexion der gesammelten Eindrücke, geschweige denn zur Verarbeitung. Es gab nur einen Ausweg: Rein ins Getümmel der Stadt! Dort angekommen überrollte mich das pulsierende Stadtleben wie eine große Welle. In diese tauchte ich nur zu bereitwillig ein. Genau danach hatte ich mich in Hebron gesehnt. Laute Märkte, hupende Taxis, überfüllte Cafes und lachende Menschen. Willkommen in Ramallah, der politischen Hauptstadt des palästinensischen Autonomiegebietes.
In einer Seitenstraße stieß ich auf ein kleines Cafe, Touristen waren weit und breit nicht zu sehen. An den Wänden hingen Porträts von Arafat, Nasser und Chalil al-Wazir. Nach einem Bild des jetzigen Präsidenten Mahmud Abbas suchte ich vergeblich. Ich bestellte mir einen türkischen Kaffee und erzählte dem Barista über mein Interesse an dem Nahostkonflikt. Er verstand mich ganz offensichtlich nur rudimentär, führte mich aber zu einem Tisch an dem vier Männer Karten spielten. Ich setzte mich an den Tisch und wusste bereits in diesem Moment instinktiv, dass ich den richtigen Ort aufgesucht hatte.
Auf Nachfrage erzählte ich den Herren von meinen bisherigen Erfahrungen, ließ jedoch auch durchblicken, dass sich seit meiner Ankunft in Israel mit jeder gefundenen Antwort zugleich weitere Fragen aufgetan haben. Sie schmunzelten. Eine Reihe amerikanischer Präsidenten seien hier bereits gescheitert, ich befände mich also in guter Gesellschaft falls es nicht klappen sollte. Jetzt musste ich schmunzeln.
Einer der Männer heißt John. Er ist Amerikaner, zog der Liebe wegen nach Ramallah und lebt seit 10 Jahren in dieser Stadt. John ist davon überzeugt, dass die Israelis bereits aus wirtschaftlichen Gründen kein Interesse an einer Beilegung des Konflikts hätten. Bei aller staatlichen Freundschaft sei Israel für die Amerikaner vor allem der Stabilitätsanker im Nahen Osten. Das Land sei sozusagen ein Außenposten der USA, um deren wirtschaftliche Interessen in diesem Gebiet zu sichern. Aus diesem Grund würde die amerikanische Politik das Land politisch, wirtschaftlich und militärisch überdimensional stark unterstützen. Im Falle einer friedlichen Beendigung des Konflikts und der damit wegfallenden Bedrohungslage würde das Land Israel sein Alleinstellungsmerkmal in dieser Region verlieren. Die amerikanische Unterstützung wäre dann nicht länger notwendig. Ich bezweifelte, dass ein Volk sich aus wirtschaftlichen Interessen dauerhaft gegen einen Frieden entscheidet. Zudem ist auch aus wirtschaftlicher Perspektive auf Dauer kaum etwas teurer als ein stetig wachsender Sicherheitsapparat, der einen immer größeren Teil des Bruttoinlandsproduktes verschlingt. Wir diskutierten kontrovers, tranken Kaffee und nebenbei flogen die Karten nur so über den Tisch. Ich wollte wissen, ob die Männer sich auch aktiv in das politische Geschehen einbringen. Mein Gegenüber nickte, holte sein Smartphone aus der Tasche und zeigte mir ein Video. Auf diesem war zunächst ein israelischer Minister zu sehen, der vor einer Gruppe junger israelischer Schüler gegen die „Araber“ in der West Bank hetzte. Das Wort „Palästinenser“ benutzte er wie viele Israelis nicht, dies würde ja einen Staat Palästina voraussetzen. Der Nahostkonflikt wirkt sich bereits auf die Wortwahl aus. Nach dem Ende des Beitrags war ein arabisches Fernsehstudio zu sehen, der Moderator kam mir bekannt vor. Er saß mir Gegenüber. Er sprach über seine Tätigkeit als Journalist, die in diesem Gebiet alles andere als einfach sei. Die fehlende Reisefreiheit verhindere Aufenthalte in Israel und Gaza, selbst Jerusalem könne ohne eine Genehmigung nicht besucht werden. Wer trotzdem in die Gebiete reist, müsse mit empfindlichen Repressalien durch die israelischen Behörden rechnen. Er selbst sei 21 Monate in Israel inhaftiert gewesen, weil er über angebliche Menschenrechtsverletzungen der Israelis im Westjordanland berichtet hat. Ich kann diese Aussage leider nicht verifizieren aber meine Menschenkenntnis sagt mir, dass ich ihm glauben kann. In den letzten Jahren wurden immer wieder palästinensische Journalisten in Israel verhaftet, wenn Sie über scheinbare Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten geschrieben haben. Was mein Gesprächspartner allerdings nicht ansprach, ist, dass auch die palästinensische Autonomieregierung die Pressefreiheit zunehmend beschränkt. Auch hier müssen Journalisten mit Verhören und Festnahmen rechnen, wenn sie die politische Führung in Ramallah oder Gaza kritisieren und insbesondere die offenkundig gegebene Behördenkorruption thematisieren. Diese Entwicklung führt dazu, dass sowohl in Israel als auch in Palästina eine steigende Anzahl von Journalisten es zunehmend vermeidet, die eigene Regierung zu kritisieren.
Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" hat einmal den Satz geprägt „Nur Frieden bietet eine Grundlage für Pressefreiheit“. Dieser Satz gilt für mich jedoch auch umgekehrt: Nur durch eine gelebte Pressefreiheit lässt sich Frieden erreichen, weil nur auf diesem Wege Missstände angesprochen werden können, die eine Gesellschaft dazu veranlasst, einen neuen Weg einzuschlagen.
Nachdem ich meinen zweiten und dritten Kaffee getrunken hatte, war es Zeit für mich weiterzuziehen. John gab mir die Adresse einer NGO, die sich zwei Straßenzüge weiter befindet. Ich machte mich auf den Weg. Dort angekommen betrat ich ein dunkles Treppenhaus und klopfte an einer schweren Eisentür. Nichts passierte, alles schien wie ausgestorben. Als ich mich wieder umdrehte kam mir ein älterer Mann entgegen, der das gleiche Ziel aufsuchte. Wir kamen ins Gespräch. Als wir das Haus verließen, schoss mir Adrenalin durch den Körper. Er führte mich dahin, wovon ich nicht zu träumen gewagt hätte.
Fortsetzung folgt...
Ramallah Teil 2
Meine Bekanntschaft führte mich durch die halbe Stadt, wir durchquerten einen Innenhof von dem eine schmale Gasse in einen Gebäudekomplex führte, an dessen Ende sich ein Fahrstuhl befand. Als ich aus dem Fahrstuhl ausstieg, befand ich mich in einem der Hauptbüros der Fatah, der einflussreichsten Partei im Westjordanland. Meine Bekanntschaft kannte sich in diesem Gebäude scheinbar aus, er führte mich direkt in das Büro von Morfaq Sehewel und stellte uns vor. Dieser ist ein Spitzenfunktionär innerhalb der Fatah in Ramallah. Erst im Laufe des Gesprächs wurde mir klar, dass die beiden die Reichweite meines Blogs – gelinde gesagt – etwas überschätzt hatten. Sie sahen die Möglichkeit für ihre Positionen in Deutschland zu werben. Ich zog es nicht ernsthaft in Betracht, dieses Missverständnis aus der Welt zu räumen, da ich das Büro aller Voraussicht nach schnell wieder hätte verlassen müssen. Die Chance, mit einem Menschen zu sprechen, der unmittelbar in den politischen Prozess eingebunden ist, wollte ich unbedingt nutzen. Bevor wir mit dem Gespräch beginnen konnten, mussten wir jedoch erst einmal einen Dolmetscher organisieren. Alles wirkte improvisiert und authentisch. Zwischenzeitlich gab es sogar einen zweiten Dolmetscher der per Telefon aus Deutschland zugeschaltet war. Es war ein Freund meines Gesprächspartners, der sich zurzeit in Oldenburg und Wittmund (Ostfriesland) aufhält. Selbstverständlich konnte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, unseren Telefongast mit einem kräftigen „Moin“ zu begrüßen.
Mich interessierte inwieweit die palästinensische Autonomieregierung noch an die Realisierung der „Zweistaatenlösung“ glaube. Ich erzählte ihm von meinen Erfahrungen aus Israel, wonach dieses Modell dort nicht ernsthaft mehr als politische Alternative in Betracht gezogen wird. Für einen kurzen Moment war es sehr still. Ihm sei die schwierige Lage bewusst: Er sei aber davon überzeugt, dass nur die „Zweistaatenlösung“ dauerhaft zu Frieden in dieser Region führen wird. Deswegen müssen alle politischen Anstrengungen auf dieses Ziel konzentriert werden. Grundbedingung sei hierfür, dass die israelischen Siedlungen in der West Bank aufgegeben werden. Angesichts meiner Eindrücke aus Hebron und der starken Verhandlungsposition Israels, halte ich diese Vorbedingung zwar für verständlich aber beim besten Willen nicht für realisierbar. Israel wird seine Siedlungen niemals aufgeben, davon bin ich mittlerweile restlos überzeugt. Zumal seit kurzem sogar neue Siedlungen in der West Bank errichtet werden. Um das Ziel dennoch zu erreichen, setzt die palästinensische Autonomiebehörde große Hoffnungen auf Hilfe von außen, in Form von Europa und einer Veränderung der amerikanischen Außenpolitik.
Ich formuliere vorsichtig einen Gedanken, der mir schon seit ein paar Tagen durch den Kopf geht, aber eigentlich noch nicht durchdacht genug ist, um ihn in diesem Rahmen zu äußern. Vor 1948 haben Juden, Muslime und Christen mehr oder weniger friedlich in diesem Gebiet zusammengelebt. Erst die Bestrebungen der internationalen Staatengemeinschaft, das Land in zwei Staaten zu spalten, hat eine dauerhafte Spirale der Gewalt ausgelöst, die in diesem systematischen Ausmaß vorher nicht existent war. Vor allem die Besuche der heiligen Städte Jerusalem und Hebron haben mir deutlich gemacht, dass eine territoriale Spaltung des Landes kaum möglich ist, solange der Großteil der Bevölkerung nicht säkularisiert ist.
Alleine die Jerusalem-Frage ist emotional so aufgeladen, dass ein schlichter, wenn auch provokanter Besuch des heiligen Tempelbergs durch den israelischen Politiker Ariel Scharon im Jahr 2000 eine 5-jährige Intifada auslösen konnte, die eine Spirale der Gewalt nach sich zog. Wie soll es jemals eine Lösung geben, mit der beide Seiten leben können? Die heiligen Stätten lassen sich nun mal nicht mit einem Lineal in zwei Hälften teilen, nirgendwo sonst wird das deutlicher als am Tempelberg.
Vielleicht ist die gut gemeinte Idee einer „Zweistaatenlösung“ nicht die Lösung des Problems, sondern die Wurzel des Problems selbst. Ich befinde mich geradezu in einer politischen Identitätskrise, da ich das von Europa favorisierte Modell „zweier gleichberechtigter Staaten“ niemals in Frage gestellt habe. Meine gesammelten Eindrücke lassen mich aber zweifeln, ob ein solches Konzept wirklich Frieden stiftet. Doch was wäre die Alternative? Man stelle sich nur vor, es gäbe einen säkularen Staat, der beiden Bevölkerungsgruppen ein Zuhause gibt und den Menschen vor allem gleiche Rechte zusichert, unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Schon jetzt sind über 20 Prozent der israelischen Staatsbürger Araber, die vor allem im nördlichen Teil Israels leben.
Mein Gegenüber zeigte sich wenig empfänglich für meine Ausführungen. Er gab mir freundlich zu erkennen, dass er diese Idee für utopisch halte und lieber nach realpolitischen Lösungen suche. Dazu gehöre eben die „Zweistaatenlösung“. Wenn der jetzige Zustand aber das Ergebnis des realpolitischen Handelns der letzten 30 Jahre ist, kann mich diese Antwort nicht wirklich überzeugen. Die Fronten wirken festgefahren, jeder verteidigt nur noch seine Positionen und stellt Vorbedingungen, die die andere Seite nicht erfüllen kann, ohne dabei das eigene Gesicht zu verlieren.
Dennoch, hier war definitiv der falsche Ort für solche Überlegungen, hier wird ja schließlich „Realpolitik“ betrieben!
Die Themen Pressefreiheit und Korruption hätte ich gerne noch angesprochen, mir fehlten jedoch belastbare Hintergrundinformationen, sodass eine Diskussion wenig zielführend gewesen wäre. Leider hatte ich keine Möglichkeit dieses Treffen im Vorfeld vorzubereiten. Ich bedankte mich für das Gespräch und verließ das Gebäude in Richtung Hostel.
Am Abend traf ich auf palästinensische Studenten und eine NGO-Mitarbeiterin. Die Studenten arbeiten in den Abendstunden und an Wochenenden nur zu gerne im Hostel, um auf diese Weise internationale Luft schnuppern zu können. Mit ihnen diskutierte ich über das Verhältnis der Bevölkerung zu palästinensischen Attentätern, die Auswirkungen der israelischen Besatzungspolitik im Westjordanland und der Idee eines säkularen Staates.
Fortsetzung folgt...
Ramallah Teil 3
Zurück im Hostel traf ich auf palästinensische Studenten und Gertrud, eine 50-jährige NGO Mitarbeiterin aus Deutschland. Sie war gerade dabei, den Studenten von ihrer täglichen Arbeit zu erzählen, die von kleinen Erfolgen und größeren Rückschlägen geprägt ist. Uns wurde deutlich, dass diese Frau einmal mit dem Ziel angetreten sein musste, die Welt ein bisschen besser zu machen, jedoch mehr und mehr von den ernüchternden Realitäten eingeholt wurde. Meine Gedanken schweiften ab. Auch in meiner Generation spüren viele Menschen das Gefühl, Dinge tun zu wollen, die einen scheinbar größeren Sinn in sich tragen: Die Welt ein kleines bisschen besser machen. Ein Ansatz, der mehr Genugtuung verspricht als das Streben nach Geld, Luxus und gesellschaftlicher Stellung. Nirgendwo sonst wurde mir das deutlicher als auf dieser Reise. Ich versank in den Augen von Gertrud. Sie wirkte müde und erschöpft, ihre Schilderungen erinnerten mich an die Figur der griechischen Mythologie „Sisyphus“. Immer dann, wenn kleinere Erfolge einen Hoffnungsschimmer verbreiteten, kam wieder ein Attentat, eine Intifada oder israelische Militärschläge. Sie bemerkte mein Abschweifen und erhob ihre Stimme: „Trotz der teilweise ausbleibenden Erfolge kann ich mir keine andere Tätigkeit vorstellen.“ Dieser Satz trägt viel Hoffnung in sich.
Wir sprachen über das politische und gesellschaftliche Leben in der West Bank. Ich berichtete von meinem Besuch bei Morfaq Sehewel. Die Studenten waren erstaunt, dass ich es tatsächlich geschafft hatte, so spontan mit einem führenden Parteifunktionär aus Ramallah ins Gespräch zu kommen, sie selbst müssten so etwas weit im Voraus planen. Ich gab ihnen den Tipp, sich demnächst als Blogger aus dem Ausland vorzustellen, dieses Vorgehen hatte sich als wahre „Bürokratieabbaumaßnahme“ erwiesen. Selbst Gertrud musste jetzt etwas schmunzeln.
Während meiner bisherigen Zeit in Israel ereigneten sich bereits zwei Messerattacken in Jerusalem. Bei letzterer war ich – ohne es zu wissen – nur eine Stunde später am Tatort. Zwei minderjährige orthodoxe Juden wurden verletzt, der 17-jährige palästinensische Attentäter gar erschossen. Mich interessierte seit meiner Ankunft in der West Bank vor allem eine Frage: Wie stehen die palästinensischen Bürger zu den Attentaten ihrer Landsleute in Israel?
Ich konfrontierte die Runde mit diesem Ereignis. Es wurde still. Mohammed brach als erster das Schweigen und wollte von mir wissen, ob ich denn überhaupt wisse, wie es den Menschen in der West Bank gehen würde. Täglich würde es in diesem Gebiet Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und dem israelischen Militär geben. Bereits Kinder im Alter von 8- 16 Jahren würden eine solche Ohnmacht empfinden, dass sie keinen anderen Ausweg sehen als mit Steinen auf die Besatzer zu werfen. Ein anderer Student ergänzte, dass mehr als 700 Hundert palästinensische Kinder und Jugendliche jährlich in israelischen Gefängnissen inhaftiert und teilweise gefoltert werden. Hinzu kämen auch noch die Erwachsenen. Eine ganze Generation würde dadurch traumatisiert werden. Es sei schwer eine palästinensische Familie zu finden, die nicht zumindest einen Angehörigen hat, der nicht schon einmal derartige Berührungspunkte mit der israelischen Justiz hatte. Gertrud nickte zustimmend.
Die Stimmung war emotional aufgeladen. Meine ursprünglich neutral formulierte Frage wurde als Vorwurf aufgefasst und löste eine kollektive Abwehrhaltung aus. Das Wort „Neutralität“ wird von diesem Konflikt verschlungen. Selbst ehemals außenstehende Personen wie Gertrud sind davon betroffen.
Auch ich ließ mich ein wenig von der Emotionalität anstecken und war krampfhaft bemüht, ein Gegengewicht in der Runde herzustellen. Ich führte aus, dass die beiden jüdischen Opfer des Attentäters in Jerusalem nicht verantwortlich für das geschehene Unrecht in der West Bank seien. Man kann doch schließlich nicht das eine Unrecht dadurch aufheben, indem man ein neues Unrecht schafft. Ganz im Gegenteil: Ein palästinensischer Terrorakt löst zwangsläufig eine israelische Vergeltungsreaktion aus, das ist das simple Gesetz einer Gewaltspirale. Die Chance auf Frieden gerät in immer weitere Ferne.
Mohammed machte eine Pause. Meine Ausführungen seien logisch, neutral und wünschenswert. Sie würden aber eben auch deutlich machen, dass ich ein Außenstehender bin. Er selbst könne sich niemals vorstellen gewalttätig zu werden, trotzdem möchte er die Attentäter nicht verteufeln. Jedem sei klar, dass der militärische Erfolg einer Messerattacke gleich null sei. Für einen kurzen Moment würden jedoch die Rollen vertauscht werden. Opfer seien in diesem Augenblick nicht die Palästinenser, sondern die Israelis. Dies würde bei vielen Palästinensern zwar keine Freude aber dennoch eine Art von Genugtuung auslösen. Die anderen widersprachen nicht, auch Gertrud blieb stumm.
Mir wurden zwei Dinge deutlich: Meine Gesprächspartner würden - wie der Großteil der palästinensischen Bevölkerung - niemals selbst gewalttätig werden. Dennoch taten sie sich schwer damit, sich eindeutig von der Messerattacke des Palästinensers in Jerusalem zu distanzieren.
Dies ist aber weniger verwunderlich, wenn man bedenkt, dass selbst die palästinensische Autonomiebehörde ein verzwicktes Verhältnis zu den palästinensischen Attentätern pflegt. Bei meinem Besuch versicherten mir Mitglieder der Fatah, dass solche Attentate dem Friedensprozess im Weg stehen und deshalb unerwünscht seien. Später erfuhr ich aber, dass die Familien und Hinterbliebenen der Terroristen finanziell unterstützt werden. Tatsächlich: Im Haushalt für das Jahr 2016 waren für Zahlungen solcher Art insgesamt 310 Millionen Dollar eingeplant, und das bei einem Gesamtbudget von lediglich 4,8 Milliarden Dollar. Eine solche „Mätyrer-Rente“ trägt zumindest nicht dazu bei, einen Bewusstseinswechsel in der Bevölkerung herbeizuführen.
Die israelische Situation ist jedoch spiegelbildlich. Aktuell diskutiert die israelische Gesellschaft einen besonders brisanten Fall. Vor rund einem Jahr exekutierte ein israelischer Soldat in Hebron einen offenkundig verletzten und wehrlosen palästinensischen Attentäter auf offener Straße durch einen Kopfschuss. Der Soldat wurde vor kurzem wegen Totschlags verurteilt. Dennoch sympathisieren große Teile der israelischen Bevölkerung mit dem Soldaten. Eine Umfrage des Israelischen-Demokratie-Instituts ergab, dass 65 Prozent der Befragten sich für einen Freispruch des Soldaten aussprachen. In Anbetracht der grauenhaften Tat, die zufällig von einer Menschenrechtsorganisation gefilmt wurde, ist das Umfrageergebnis für Außenstehende unerklärlich. Selbst der Verteidigungsminister Liebermann stützte den Soldaten öffentlich. Die Zeitung „Makor Rischon“ wählte den Soldaten gar zum „Mann des Jahres“ 2016.
Palästinensische Attentate und israelische Militärexzesse wurden in letzter Zeit maßgeblich dafür verantwortlich gemacht, dass Friedenspläne entweder schon vor Beginn der Umsetzung oder kurz danach zum Scheitern verurteilt waren. Dieses wird auch in Zukunft nicht zu verhindern sein. Was aber würde passieren, wenn die eigene Bevölkerung nach so einem Ereignis aufsteht und sich aktiv distanziert? Vielleicht würde im übertragenden Sinne das eintreten, wovon Berthold Brecht schon immer träumte: „Stell dir vor es gibt Krieg und keiner geht hin“.
Hierin liegt also auch eine Chance. Keine Attentäter und keine Generäle der Welt können einen Friedensprozess aufhalten, wenn die Mehrheit der eigenen Bevölkerung diesen Leuten keine latenten Sympathien gegenüber aufbringt. Hiervon sind die Menschen in Israel und Palästina jedoch aktuell noch zu weit entfernt.
Es gab noch weitere Punkte, über die wir zusammen sprachen. Wichtig war mir vor allem noch, die Idee eines säkularen Staates anzusprechen. Ich genieße es seit Beginn meiner Reise, solche Fragen nicht lediglich abstrakt zu durchdenken, sondern mit denjenigen Menschen zu besprechen, die unmittelbar betroffen sind. Unsere Runde wurde zudem noch um eine weitere Person erweitert. Djamal, ein Lehrer aus Ramallah führte mir vor Augen, dass es noch eine weitere ungeklärte Frage gibt, die wie ein Stachel im Fleisch der Palästinenser sitzt und einem zukünftigen Frieden im Weg steht.
Fortsetzung folgt...
Ramallah Teil 4
Mohammed und ich hatten uns wenige Minuten zuvor einen hitzigen Dialog über ein moralisch vertretbares Verhältnis zu palästinensischen Attentätern geliefert. Adelaide, eine französische Studentin aus Paris, die direkt neben mir saß, schaute uns mit großen Augen an und war ganz offensichtlich um die charmante Atmosphäre in unserer Gesprächsrunde besorgt. Schließlich hatten wir alle kurz zuvor den Plan geschmiedet am nächsten Tag eine Tagestour nach Nablus zu unternehmen, die Heimatstadt von Mohammed. Mohammed war der Blick ebenfalls nicht entgangen. Er zwinkerte mir zu. Ich verstand. Ohne weitere Worte standen wir auf und gaben uns die Hand. Auf diese Geste hatte Adelaide offenbar gewartet. Tatsächlich bestand zwischen Mohammed mir eine sehr vertrauensvolle Ebene, nur deshalb konnten wir in der Sache so offen und ehrlich unsere Sichtweisen offenbaren. Der Handschlag drückte also etwas aus, was wir vorher bereits fühlten. Adelaide war jedenfalls sichtlich erleichtert und freute sich darüber, dass weder die Diskussionsrunde beendet war noch dem Tagesausflug nach Nablus atmosphärische Spannungen entgegenstanden, auch wenn mir ein Rest an Skepsis nicht verborgen blieb.
Nichtsdestotrotz diskutierten Mohammed und ich bereits über den nächsten Punkt. Ich wollte von ihm wissen, was ihm wichtiger sei: „Gleiche Rechte“ oder ein „eigener palästinensischer Staat“? Er war sichtlich erstaunt über diese Frage und gab mir zu verstehen, dass er eigentlich intensiver darüber nachdenken müsste. Trotzdem überlegte er laut. „Gleiche Rechte?“, fragte er: „Ich dürfte ohne Visum nach Jerusalem reisen; israelische Städte wie Haifa, Nazareth und Tel Aviv besuchen und sogar im Mittelmeer schwimmen gehen; meine Freunde in Nablus besuchen, ohne die grauenhaften Checkpoints passieren zu müssen“.
Während Mohammed träumte wurde mir wieder einmal bewusst wie gut es mir geht. Seine Träume waren für mich eine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig dachte ich an die neuesten politischen Entwicklungen in Europa, insbesondere in Frankreich, die ich fast jeden Abend den Nachrichten entnehmen musste. Warum gibt es Menschen, die Politiker wie Le Pen oder Wilders wählen? Diese Frage kann ich immer weniger sinnvoll beantworten. Die Reise durch Israel und Palästina macht mich demütig und verschiebt zugleich die Koordinaten, nach denen ich politische Probleme bewerte. Bei allen Problemen die wir in Europa haben, wir dürfen doch nicht zulassen, dass die möglichen Lösungen das Große und Ganze in Frage stellen. 70 Jahre Frieden, dies hat es in Europa vorher niemals gegeben. Hier wurde mir eines klar: Frieden ist ein Privileg und er ist nicht einfach (zufällig) da, sondern das Ergebnis eines langen und anstrengenden Prozesses, der im Übrigen nie endet. Warum musste ich erst Menschen wie Mohammed treffen, um den Wert von unserem friedlichen Europa nicht nur zu verstehen, sondern auch in letzter Konsequenz zu fühlen. Es scheint so als ob ich ein Opfer des Erfolgs vorhergehender Generationen geworden bin. Ein Trittbrettfahrer. Anders als unsere Großväter wurde meine Generation in ein friedliches Europa hineingeboren. Wir kennen keine Grenzkontrollen, kein Säbelrasseln und erst recht keinen Krieg. Frieden und Wohlstand. Für das alles musste ich niemals kämpfen, es war doch immer da. Diese Art von Selbstverständlichkeit ist eine große Errungenschaft, begründet aber auch die Gefahr europafeindlichen Minderheiten aus Gründen der Bequemlichkeit die Deutungshoheit zu überlassen. Wenn ich Mohammed erzählen würde aus welchen Gründen manche Menschen in Europa das europäische Projekt in Frage stellen – er würde mich für verrückt erklären und mich zugleich dazu auffordern noch heute nach Hause zu fliegen, um lautstark dagegen zu demonstrieren. Auch das ist also eine neue Erkenntnis meiner Reise: Manchmal muss man seinen Ort verlassen, um zu bemerken wie wertvoll er ist.
Mohammed machte eine Pause. Wenn er sich jetzt entscheiden müsste würde er sich für die „gleichen Rechte“ entscheiden. „Wirklich?“, fragte ich. „Ja“, sagte er.
Seine Eltern würden sich wahrscheinlich anders entscheiden, für sie hätte der eigene palästinensische Staat fast eine religiöse Bedeutung. Er wünsche sich hingegen vorrangig konkrete Verbesserungen in seinem Leben: Frieden, keine Checkpoints und vor allem Reisefreiheit. Die Frage sei allerdings berechtigt, ob er diese Rechte in einem israelischen Staat erlangen würde. Bereits jetzt sind über 20 Prozent der israelischen Bevölkerung im Grunde Palästinenser. Diese seien 1948 nicht vor der israelischen Armee geflohen, sondern in ihrer Heimat, im heutigen Nordisrael geblieben. Mittlerweile haben die meisten von ihnen die israelische Staatsbürgerschaft erlangt und sind somit zumindest formal vollwertiger Bestandteil des Staates Israels. Ob die Menschen dort aber auch tatsächlich die gleichen Rechte haben, bezweifelte Mohammed. Gleichzeitig schränkte er aber ein, dass er sich selbst leider kein eigenes Bild von dem Leben der Menschen dort machen könne, weil es ihm ja schließlich untersagt sei, Israel zu bereisen.
Wichtig ist zunächst die Erkenntnis, dass schon heute ein nicht unerheblicher Teil der israelischen Staatsbürger palästinensische Wurzeln haben. Diese können auch mehr oder weniger ungehindert ihren palästinensischen Traditionen nachgehen und ihren muslimischen Glauben ausleben. Es scheint also nicht unmöglich zu sein, dass Juden und Palästinenser gleichberechtigte Teile eines gemeinsamen Staates sein können. In diesem Punkt hat mir Mohammed nicht widersprochen. Hinzu kommt die Tatsache, dass in Nordisrael, wo Juden und Palästinenser zusammenleben - anders als man es befürchten könnte - in den letzten Jahren die wenigsten Attentate stattfanden. Vielleicht lebt der dauerhafte Konflikt also gerade davon, dass Israelis und Palästinenser keinen gemeinsamen Alltag haben. In der nächsten Woche werde ich nach Haifa und Nazareth reisen, um mir ein eigenes Bild von dem Leben der Menschen in diesen Gebieten zu machen. Besonders interessiert mich natürlich die Frage, ob sich die dort lebenden Palästinenser mittlerweile mit dem Staat Israel identifizieren können oder nach wie vor von einem palästinensischen Staat träumen. Diese Vorstellung war für Mohammed noch zu abwegig. Es sei aktuell schwer vorstellbar, sich mit dem Staat Israel zu identifizieren.
Dies ist aber kaum verwunderlich, denn die einzigen Israelis, zu denen die Menschen in der West Bank Kontakt haben, tragen eine Uniform, haben stets ein Maschinengewehr im Anschlag und erteilen Befehle. Es sind israelische Soldaten. Die täglichen Begegnungen mit dem israelischen Militär machen es momentan unmöglich, eine andere Vorstellung zuzulassen. In dieser Frage kann man nur in kleinen Schritten denken. Ich empfinde es bereits als einen großen Erfolg, dass Mohammed und die anwesenden Studenten es sich zumindest vorstellen könnten mit den Israelis in einem gemeinsamen Staat zu leben, sofern für beide Seiten die gleichen Rechte gelten würden.
Am Ende könnte ein säkularisierter Staat stehen. Doch ist es möglich einen Staat wie Israel zu säkularisieren? Hier haben Mohammed und die restlichen Studenten so ihre Zweifel. Schließlich vermischen sich hier zwei Dinge: Religion und Nationalität. Hoffnung gibt mir ein Blick in die Geschichte. Die geistigen Väter des Staates Israels lebten im 19 Jahrhundert und hießen Moses Hess, Leon Pinsker, Theodor Herzl und Achad Haam. In ihren Schriften spielt die religiöse Seite - im Verhältnis zur gesellschaftlich-politische Seite - eine eher untergeordnete Rolle. Geprägt durch den in Europa immer stärker werdenden Antisemitismus bestand die maßgebliche Triebkraft für einen eigenen Staat darin, den Juden einen Ort zu geben, an dem sie in Freiheit, Frieden und Sicherheit leben konnten. Einen rein jüdischen Staat setzt dieses Ziel nicht zwangsläufig voraus, jedoch ein Staatsmodell, welches die Rechte der Juden in unabdingbarer Weise schützt.
Diese ursprüngliche Motivation zur Gründung des Staates Israel konnte ich auch bei den meisten meiner israelischen Gesprächspartner wahrnehmen, mal abgesehen von den ultraorthodoxen Juden. Mein Eindruck war, dass es dem Großteil der Menschen in Israel maßgeblich darauf ankommt, ein freies und sicheres Leben führen zu können. In jedem Fall waren sie weit entfernt von religiös fundamentalistischen Sichtweisen. Ich erzählte der Runde von diesen Erfahrungen.
In diesem Moment wünschte ich mir einen großen runden Tisch, an dem ich sämtliche Gesprächspartner meiner Reise zusammenführen könnte. Was für eine traumhafte Vorstellung. Ich bin mir sicher, sie würden sehr überrascht sein, wie sehr sich ihre Wünsche ähneln. Sie würden eine Lösung finden. Irgendwann wird es diesen Tisch geben, da bin ich mir sicher. Eine spannende Diskussionsrunde neigte sich dem Ende entgegen. Die Studenten verabschiedeten sich und gingen beschwingt nach Hause. Ich empfand eine große Dankbarkeit, mich mit diesen Menschen austauschen zu können. Danach lehnte ich mich zurück, rauchte zusammen mit Adelaide eine Zigarette und war schlichtweg zufrieden.
In diesem Moment setzte sich auch Djamal zu uns an den Tisch und zündete sich eine Zigarette an. Er arbeitet ebenfalls nebenbei in diesem Hostel und nutzte die Gelegenheit für eine kurze Pause. Wir kamen unweigerlich ins Gespräch und ich erzählte ihm von den spannenden Diskussionen und dem allgemeinen Anliegen meiner Reise, den Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern besser verstehen zu wollen. Er hatte nicht viel Zeit, trotzdem wollte er mir unbedingt einen weiteren Aspekt näher bringen. In seinen Augen wird es keinen Frieden geben, solange eine wesentliche Angelegenheit nicht geklärt ist: Das palästinensische Flüchtlingsproblem. In den beiden Kriegen von 1948 und 1967 seien insgesamt rund eine Millionen Palästinenser aus den von Israel eroberten Gebieten vertrieben worden. Diese Menschen leben seit mittlerweile vier Generationen in völlig überfüllten Flüchtlingslagern, eine Lösung ist nicht in Sicht. Die humanitären Bedingungen seien schlecht, die Perspektiven für die Bewohner der Lager hoffnungslos. Oftmals haben sie sogar noch den Schlüssel zu ihrem Haus in der alten Heimat, in der Hoffnung, irgendwann einmal dorthin zurückkehren zu können. Auch Entschädigungszahlungen hätte es nie gegeben. Djamal ist der Auffassung, dass eine weitere Ignorierung dieses Problems zu einer großen Katastrophe im Nahen Osten führen wird. Wir verabreden uns für den übernächsten Tag. Dann wollte er mir und zwei jungen Mitarbeitern von Amnesty International – die ebenfalls interessiert seien - mehr über dieses Thema erzählen und ein solches Flüchtlingscamp mit uns besichtigen.
Was für ein gelungener Tag. Ich entschloss mich heute einmal früher schlafen zu gehen, um fit für die Tagestour nach Nablus zu sein. Auf dem Weg in mein Zimmer hörte ich, dass Mohammed laut jubelte und sich die Stimme eines arabischen Kommentators förmlich überschlug. Ich folgte der Stimme des Kommentators. Mohammed saß in einem kleinen verqualmten Raum und schaute Fußball. Manchester City gegen Chelsea London. Das Vorhaben früh ins Bett zu gehen hatte sich hiermit erledigt. Mohammed entpuppte sich als wahrer Fußballfachmann. Wir verschoben Dreierketten zu Viererketten, schimpften über die Leistung des Schiedsrichters und philosophierten über den sehr athletischen Fußballstil der englischen Premier League. Einfach Fußball. Herrlich. Genau nach dieser Banalität habe ich mich jetzt gesehnt. Der Nahostkonflikt war weit weg und für diesen Moment fühlte es sich richtig an. Kurz vor Schlusspfiff stand Adelaide in der Tür und traute offenbar ihren Augen nicht: Vertraute Eintracht zwischen mir und Mohammed. Erstaunt ging sie ins Bett, der Rest an Skepsis entwich ihren Augen. Jetzt hatte sie endgültige Gewissheit. Der Tagestour nach Nablus stand nichts mehr im Wege.
Fortsetzung folgt...
Aufbruch: | 28.03.2017 |
Dauer: | 4 Wochen |
Heimkehr: | 26.04.2017 |
Palästina