Unterwegs im südlichen Kalabrien
Tour 4: Der östliche Aspromonte
Diese Tour startet von der Ionischen Küste im Osten Kalabriens. Vom Capo Bruzzano aus fahren wir durch Africano, wo wir an einem Brunnen unsere Wasserflaschen füllen, Richtung Norden vorbei an der Abzweigung nach Plati- einer berühmt-berüchtigten Mafiahochburg vergleichbar dem sizilianischen Corleone - bis zur Abzweigung nach Samo. Ist dieser Ortsname noch eine Erinnerung an die altgriechischen Siedler, die hier einstmals Anker warfen, und vielleicht den Ort Samo nach ihrer altvertrauten Heimatinsel Samos benannten? Wir folgen der kleinen, von Eukalyptusbäumen gesäumten Landstraße zuerst entlang eines ausgetrockneten Flussbettes, des fiume La Verde, bevor sich unser Sträßchen hoch in die Berge windet. Endlich erreichen wir das Dorf mit seinem zweisprachigen Ortsschild: es steht in lateinischer Schrift "Samo" und in griechischer Schrift "Samos" geschrieben - also tatsächlich ein griechisches Erbe! Und im Dorf weist eine Inschrift auf die Partnerschaft zwischen dem griechischen Samos und dem kalabresischen Samo hin. Zuerst folgen wir einer Beschilderung zu zwei gefassten Mineralwasserquellen, dann geht es weiter hoch zur Pineta. Je höher sich die Straße schraubt, um so gigantischer wird die Landschaft. Wild gezackte Felsformationen, dazwischen enge Täler, abgelöst von hohen Bergen. Als wir zum Fotografieren aussteigen, hält neben uns ein junger Mann auf dem Motorrad. Er hat unser Nummernschild identifiziert und freut sich, uns über seinen einstmaligen Besuch auf dem Münchner Oktoberfest erzählen zu können. Anschließend lässt er es sich nicht nehmen, uns bis zum nächsten Abzweiger zu begleiten, damit wir auch sicher den richtigen Weg nach S. Agatha einschlagen. Agatha wird hier auf der drittletzten Silbe betont, also Àgatha gesprochen. Das griechische Erbe lässt sich nicht verleugnen.
Ortsschild von Samo bzw. Samos
Nach einem wunderbaren Bergrundkurs kommen wir zurück zur Küste. In Bianco stärken wir uns in der Pasticceria Canturi bei köstlichstem gelati und vorzüglichen dolce mit ganz frischer crema.
Weiter geht es Richtung Norden, bis eine Ausschilderung nach Caulonia weist, das zehn Kilometer entfernt in den Bergen liegt. Caulonia wurde bekannt als der Ort, der sich 1945 zu einer selbständigen Republik erklärte. Diesen Status behielt die Ortschaft immerhin ein halbes Jahr bei, bis die Exekutive der Selbstständigkeit ein Ende setzte.
Auf der Weiterfahrt Richtung San Nicola führt die Straße durch landwirtschaftlich genutztes Bergland, in das immer wieder kleine Gehöfte und Orte eingebettet sind. Landschaftlich unterscheiden sich Kalabriens Ost- und Westküste: während im Westen Kalabriens eine Steilküste mit dahinter liegenden dichten Bergwäldern das Landschaftsbild beherrscht, sind die Berge hier im Osten weit von den langen Sandstränden zurück gesetzt. Die Ortschaften haben mehr Platz sich auszubreiten. Die Straßenführung folgt direkt der Küste. Aus den Bergen kommende Flussbette durchziehen die landwirtschaftlich genutzten Ebenen. Die dahinter ansteigenden Berge und Felsformation sind oft karg und wild, doch überall, wo es das Gelände zulässt, wird auch in den Bergen Landwirtschaft betrieben: Orangen, Oliven, Wein und Feigen gedeihen hier. Erst ganz oben beginnen die Wälder.
In einem kleinen Dorf füllt eine alte, grauhaarige Frau mit großen Goldkreolen in den Ohren und einer massiven Goldkette um den Hals am Dorfbrunnen Wasser ab. Wir fragen mal wieder nach der Abzweigung und sie bringt uns freudestrahlend auf den richtigen Weg.
Wir kommen in den Ort Pezzolo und fahren dort weiter Richtung Fabrizzia. Es geht höher und höher hinauf. Obwohl wir nur noch sehr vereinzelt Autos begegnen, kommen wir an eine Polizeisperre. Carabinieri kontrollieren die Papiere der Einheimischen. Wir als Ausländer werden durchgewinkt.
Schroffe Felsen und kleine Ortschaften durchziehen das Gebirge
Leider trübt sich das gigantische Bergpanorama ein. Als wir in die dichten Bergwälder eintauchen, fängt es heftig an zu regnen. Egal, ob Laub- oder Nadelwald, die Bäume strotzen hier nur so vor Gesundheit mit ihrem dichten Bewuchs und sattem Grün. Wir kommen an Picknick-Plätzen und markierten Wanderwegen vorbei. Und immer wieder begegnen uns Autos der Carabinieri.
Fabrizia ist ein inmitten der Berge gelegenes, recht großes Städtchen mit einem Industriegebiet und Mietskasernen. Heute war Markt und gerade werden die Stände abgebaut. Schade, wir kommen zu spät. Gerne hätten wir noch mal diesen wunderbar würzigen Ziegenkäse gekauft oder eine der köstlich pikanten Salamis.
Weiter geht es Richtung Nardodipace. In einem Museumsprospekt hatten wir von "Le Pietre di Nardodipace" gelesen. Es handelt sich dabei um Fundstellen aufgetürmter Megalithen, von denen die Zeitung "La Repubblica" als dem "la Machu Piecchu italiano", dem italienischen Machu Picchu - eine Ruinenstadt der Inka - schwärmt. Wir durchqueren das bei Regen sehr trist wirkende Nardodipace, fahren am Friedhof vorbei und kurz darauf ist außerhalb des Ortes rechts ein unbefahrbarer Waldweg ausgeschildert. Wir machen uns zu Fuß auf den Weg und suchen bei heftigem Regen im Wald nach Megalithen. Plötzlich stehen bei einer Hütte mehrere Autos. Aus der Hütte dringt Stimmgemurmel. Auf unser lautes "Hallo! Hallo!" erscheinen sechs sehr überrascht wirkende Männer, die uns völlig verdutzt mustern, wie wir unter Regenschirmen mit unserem Hund durch diesen Wald irren. Als wir erklären, wir seien auf der Suche nach den "pietre", müssen sie sehr lachen. Einer der Männer löst sich aus der Gruppe und erklärt uns in bestem Deutsch den Weg. Mit allen guten Wünschen werden wir verabschiedet.
Und dann sehen wir sie auch schon, die erste Gruppe der Pietre di Nardodipace! Ehrlich, so gigantisch hatten wir uns das nicht vorgestellt. Riesensteine wurden hier aufeinandergetürmt, ineinandergefügt, zu einem Bauwerk geformt, das immer noch gut zehn Meter in die Höhe ragt.
Megalithen bei Nardodipace
Eine Tafel erklärt, entstanden sei dieses Werk in der neolithischen Zeit, im fünften bis dritten Jahrtausend vor Christus. Seismologische Phänomene haben zwischenzeitlich Steine gelöst, die jetzt am Boden liegen, ursprünglich aber zu dem Bauwerk gehörten. Man vermutet, der Bau diente als Begräbnisplatz, zu religiösen Zwecken oder zur astronomischen Beobachtung. Denkbar wäre auch eine Kombination all dieser Bestimmungen. Idiogramme seien auf der Oberfläche einzelner Steine eingeritzt, die eventuell didaktischen Zwecken dienten. Die Komplexität und die Größe dieser Megalithen ließen auf eine Gesellschaft schließen, die sowohl politisch als auch sozial gut organisiert gewesen sein dürfte. Anders ließe sich die Bewerkstellung dieser Bauten nicht erklären.
Wir sind wirklich sehr beeindruckt und überprüfen unser Geschichtsverständnis. Wurde dieses Bauwerk nicht zeitgleich mit den Pyramiden in Ägypten errichtet? Wäre es denkbar, dass der Erhaltungszustand diese Steine bei einem ähnlich konservierenden Klima wie es in der Sahara herrscht zu noch mehr Erstaunen Anlass gegeben hätte? Bringen wir die Steinzeit nicht ausschließlich mit jagend und sammelnd die Wälder durchstreifenden wilden Horden in Zusammenhang? Wie passt dieses Bild mit diesem imposanten Bauwerk aus aufeinander gefügten Megalithen zusammen? Um welche Kultur handelt es sich hier, von der wir so wenig wissen?
Es gibt im Wald noch weitere Fundstellen von aus Megalithen gestalteten Bauwerken. Eigentlich finden wir es unerklärlich, dass diese Fundstellen nicht als eine Attraktion ersten Ranges Eingang in alle Kalabrien-Reiseführer gefunden haben.
Pietre di Nardodipace
Zurück auf der Landstraße gehen uns diese Fragen noch so lange im Kopf herum, bis unsere Route wieder die ganze Aufmerksamkeit fordert. Immer wieder gabelt sich die Straße, eine Beschilderung ist nicht vorhanden und in unseren Karten sind hier überhaupt keine Straßen eingetragen. Nach längerer Fahrt bergab erreichen wir ein recht verfallen und ärmlich wirkendes Dorf. Die Mauern der Häuser sind mit Parolen beschmiert. Vor einem Haus zur Rechten stehen drei Polizeifahrzeuge. Carabiniere umstehen eine Gruppe von vielleicht zehn, zwölf Männern. Das sieht nach einer Razzia aus! Wir halten und Hellmut steigt aus und fragt die Carabinieri nach dem Weg. Sichtlich nervös bedeuten uns die Carabinieri, sofort unseren Wagen zu wenden. Eine Weiterfahrt in das Tal sei nicht möglich. Wir wenden und werden von den Carabinieri bis zurück nach Nardodipace und zur Straße nach Monasterace eskortiert. Offensichtlich hatten wir eine Polizeiaktion gestört.
Auf dem Rückweg zur Küste kommen wir an der Ausschilderung Santuario e Grotta di Monte Stella vorbei. Der Weg sieht mit dem sich daneben erhebenden gezackten Fels so wild romantisch aus, dass wir dem Sträßchen einfach folgen müssen. Und wirklich, es hat sich gelohnt! Von einem ummauerten Hof führen Stufen in die bestimmt zwanzig Meter hohe, offene Tropfsteingrotte hinunter, in der eine Kapelle errichtet wurde, deren spiritueller Atmosphäre man sich kaum entziehen kann. Noch tiefer geht es über Stufen, die von faustgroßen Kröten bevölkert werden, ins Dunkle, bevor sich der Durchgang in eine kleinere Grotte mit einer großen Christusfigur öffnet.
Santuario e Grotta di Monte Stella
Über den netten Ort Pazzano erreichen wir unser nächstes Ziel: das an einem Flusslauf gelegene Bivogni, dessen marmorne Wasserfall-Kaskaden wir besuchen wollen. Nach der Durchquerung des Ortes folgen wir dem Sträßchen entlang eines Flussbettes zurück in die Berge. An einem Picknickplatz erzählen uns Leute, dass der Wasserfall noch sieben Kilometer entfernt und nur zu Fuß erreichbar sei. Man könne sich aber im Dorf einen Jeep mieten, um den Schotterweg zu bewältigen. Leider ist es heute schon zu spät, um diese Unternehmung durchzuführen. Wir müssen verzichten und fahren weiter nach Stilo.
Byzantinische Cattolica (10. Jh.) in Stilo
Die besondere Sehenswürdigkeit des recht großzügig auf einem Plateau unterhalb der Felswände des Monte Consolino angelegten Stilo ist die von Basilianerbrüdern errichtete byzantinische Cattolica aus dem 10. Jahrhundert mit ihren wunderbaren Fresken. Obwohl auch eine Teerstraße zu der oberhalb des Ortes gelegenen Basilika führt, nehmen wir den Fußweg durch das malerische centro storico. Zurück im Ort gönnen wir uns ein großes gelati, bewundern den Dom, in dem gerade ein schwarzer Priester die Messe liest, und staunen über den heute noch verehrten Tommaso Campanella (1568 bis 1639), einen einstmals hier beheimateten Dominikanermönch, der in seinen philosophischen Schriften die Vision eines utopischen Sonnenstaates kommunistischer Prägung entwarf.
Brunnen in Stilo
Jetzt geht es immer bergab bis in die Ebene. Dem hier verlaufenden Flussbett folgen wir bis an die Küste.
Aufbruch: | 03.06.2005 |
Dauer: | 3 Wochen |
Heimkehr: | 20.06.2005 |