Bolivien - über alle Berge

Reisezeit: Dezember 2003 - Januar 2004  |  von Robert Rauch

El Monte - Der Dschungel

Noch vor dem ersten Tageslicht streife ich ein letztes Mal durch die alten Gemäuer ungewisser Herkunft. Ich fühle einen starken Impuls, nachzudenken. Was weiß der Mensch über sich selbst? Mir erscheint das kapitalistische Weltbild so fadenscheinig, daß jeder Schritt ein Schritt vom Menschsein weg ist. Wir führen heute Kriege mit solch unglaublicher Zerstörungspotenz, dass die Waffen von Guinapi sich dagegen wie harmloses Kinderspielzeug ausnehmen. Was weiß der amerikanische Fliegeroffizier von der Kultur, die in einem Rauchpilz in die Luft gewirbelt wird, wenn er auf den Bombenhebel drückt? Unsere Formeln und Schriften wirken ordentlich - sie werden in einen Untergang münden, wie er noch nie da gewesen ist.

Wie die Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen. Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann wieder der knospende Wald, wenn neu auflebt der Frühling. So das Menschengeschlecht: Dies wächst und jenes verschwindet. Ein Morgenrot erblüht über den sich endlos aneinanderreihenden Tropentälern, auf der gegenüberliegenden Seite erglänzen in der Ferne die 6.000er Pico Norte und Illampu im ersten Licht, ihre Gipfel sind in Wolken gehüllt.

Morgen in Guinapi.

Morgen in Guinapi.

Nach dem Frühstück schultern Pedro und Juan zwei schwere Bündel mit den Funden, die sie gerade noch zu tragen vermögen und ziehen damit ab zu den Lamas. Paolino, Juan-Carlos, Braulio und ich vertauschen Schaufel und Pickel gegen Macheten - lange, scharfe Messer. Bereits nach 10 Minuten Abstieg sind die Mauern von Guinapi, die sieben Tage lang den Tagesablauf bestimmten und uns bis in die Träume beschäftigten, wegen der Steilheit des Hanges aus unserem Blickfeld verschwunden. Einfach nicht mehr da. Das Gras ist hoch und dicht, wir sind froh, nach unten führende Bärenspuren benutzen zu können, die uns das Vorwärtskommen erleichtern. In etwas über einer Stunde gelangen wir ungefähr 1.000 Höhenmeter tiefer, es wird merklich wärmer und Mücken schwirren in schwarzen Schwärmen um unsere Köpfe, summen mit tausenden blutrünstigen Stimmen, als wären sie wütend auf uns.

Juan-Carlos folgt einer Bärenspur.

Juan-Carlos folgt einer Bärenspur.

Die Vegetation wird dichter.

Die Vegetation wird dichter.

Urwaldtäler.

Urwaldtäler.

Das Grasland geht allmählich in dichtes Buschwerk über. Unvermittelt stehen wir vor einer geschlossenen grünen Wand aus Bäumen und dichter Vegetation: der Urwald. Ein Urschauer durchläuft mich, das Gefühl, als wäre ich eine Million Jahre zurück ans Ende der Welt versetzt worden. Kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind mehr sicher. Unsere Macheten sausen auf das dichte Gestrüpp nieder, wir messern uns einen gangbaren Tunnel durch die Wand. Ein unmerkliches Vibrieren, ein ängstliches Zittern läuft durch das Blattwerk: Die Mittagshitze naht. Schweißgebadet schieben wir uns Meter um Meter vorwärts, oft sind es auch nur Zentimeter. Obachtgeben müssen wir mit den scharfen Messern und der jeweils Erste nimmt sich im eigenen Interesse vor dem Schlangenvolk in acht, welches auf dem Boden und in den Zweigen zuhause ist. Sich so weit weg von jeder menschlichen Siedlung eine tiefe Schnittwunde oder einen Schlangenbiss einzufangen, kann den Tod bedeuten. Verborgene Stämme herabgestürzter Bäume, zu Trugbildern von Schwämmen und Pilzen verrottet, fallen in sich zusammen, sobald man darauf tritt und werfen dich zu Boden. Blaue Lichtsplitter bohren sich von oben in den Blattvorhang herein, sie müssen vom Himmel kommen. Wir schuften wie die Irren und kommen dennoch nur langsam voran.

Wie eine grüne Wand: Der Wald.

Wie eine grüne Wand: Der Wald.

Im Urwald.

Im Urwald.

Morgens um sechs Uhr wecke ich die Anderen. Die Luft ist lau wie weiche Seide und ein betörender Waldduft liegt in der Luft, eine eigenartige Mischung aus Moder und Blütengerüchen - man wird ganz betrunken davon. Zum Frühstück braten wir uns Pfannkuchen über einem lustig züngelnden Feuer. Dann setzen wir uns in Bewegung. Am Ende der Lichtung geht es durch steilen Wald abwärts. Die Hitze schlägt auf uns ein wie eine Faust, wir sind schweißnass. Bei uns auf der Erde ist es dämmrig am hellichten Tag, wie ein Vorhang fängt die himmelwärts strebende Vegetation einen großen Teil des Lichts auf, um auf jedem Quadratzentimeter Platz neues Leben zu produzieren. In diesem nie endenden, erbarmungslosen Kampf ringen die Pflanzen stumm, verbissen und mit allen möglichen Tricks gegeneinander. Es gibt keinen Ort, wo es deutlicher wird als im Urwald, dass Leben und Tod Zwillingsbrüder sind. Am Nachmittag überqueren wir den tosenden Rio Chajolpaya und messern uns einen leidlich ebenen Zeltplatz frei. Danach schwärmen wir aus, um zu fischen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: 4 kg Fisch, eine willkommene Ergänzung unseres Speisezettels.

Beim Angeln.

Beim Angeln.

"Guten Appetit"

"Guten Appetit"

In der Nacht beginnen wir mit dem Frühstück: Kartoffeln und Fisch. Während wir essen, wird es ein klein wenig heller. Die kühle Dämmerung ausnützend schlagen wir ohne lästiges Gepäck einen Weg frei. Zur Begrüßung der Sonne hebt ein betörendes Orchester an, ein Loblied auf die potentielle Präsenz des Lebens, gesungen von den Kreaturen des Waldes. Für die Dauer des Orchesters herrscht Waffenstillstand, keiner übertritt das Gesetz, es ist in die Herzen der Waldbewohner eingebrannt mit flammender Schrift und alle leben dem Gesetz nach. Hier gibt es keine Gerichtsbarkeit - weil es kein Verbrechen gibt. Sobald die Sonne ihre ersten Strahlen zur Erde schickt verstummt das Lebenslied der unsichtbaren Kreaturen - die Raubtiere dürfen wieder Beute machen.

Andächtig haben wir Menschenkinder die Macheten weggelegt, eine Weile innegehalten und der Begrüßung des Morgens gelauscht. Niemand sagt etwas in solchen Momenten - es ist auch nicht nötig. Der Wald pflanzt einen verwunschenen Zauber in das Menschenherz, dessen Saat ganz langsam aufgeht. Man betritt den Wald durch ein unsichtbares Tor und kommt irgendwann wieder heraus. Dann ist die äußere Welt nicht mehr dieselbe - weil du nicht mehr derselbe bist. Juan-Carlos ist im Lager geblieben und bringt uns ein fertiges Mittagessen, unsere Fährte war leicht zu finden: Wir hinterlassen einen Graben, der sich wie eine tiefe Wunde durch den Monte zieht. Schon seit dem Vormittag kündigt sich Regen an, Mücken sägen geräuschvoll an der stillen Luft herum. Die nahen Bäume sind mit grauem Dunst verhangen, weiter weg verlieren sie sich in den Eingeweiden der Wolken. Plötzlich platzt der ganze Himmel auf, bekommt einen gigantisches Riß von Pol zu Pol. Wasser tost brausend herab und überschwemmt die Erde, alles fließt. Der Regen strömt herab wie eine Glasscheibe, zerstiebt beim Aufprall in Scherben und Splitter, trommelt mit 20 Fäusten auf meine Schultern. Innerhalb von Sekunden bin ich so naß, als wäre ich durch einen Fluß geschwommen. Was vorher Rinnsal war, ist jetzt reißender Strom. Eilig kehren wir auf unserer Spur zum Lager zurück, um nicht durch neu entstehende Flüsse von ihm abgeschnitten zu werden. Zurück bei den Zelten machen wir uns unter einer überhängenden Felswand ein Feuer und trocknen unsere Habseligkeiten, Paolino brennt sich dabei ein Loch in die Hose. Wir sehen furchtbar abgerissen aus.

Das Einzige, was noch passabel aussieht, sind unsere Lowa-Schuhe, die einfach nicht kleinzukriegen sind. Vor dem Felsen, unter dem auch die Zelte stehen, braust der Regen herab wie ein Wasserfall. Im Zelt macht sich Feuchtigkeit breit. Ich bin hundemüde und werde gut schlafen.

Am Morgen stelle ich fest, daß mein Klopapier aufgeweicht ist. Der Kaffee und die Kartoffeln sind alle, aber solange uns das Angelglück nicht verläßt, haben wir genug zu essen. Das Wetter sieht gut aus, die Wildwasser haben sich beruhigt. In kurzer Zeit erreichen wir den gestrigen Umkehrpunkt, dort machen wir weiter, wo wir am Tag zuvor aufhörten. Die Wegführung ist nicht leicht, es gilt, etliche schwierige Passagen zu meistern. Ein schlüpfriger Wasserfall versperrt uns den Weg, direkt unter unseren Füßen rauscht er eine 100 m hohe, senkrechte Wand hinunter. Wir schlagen Bambusrohre und sperriges Geäst, das wir als "Sicherung" vor den Felsabbruch werfen, bis der Astverhau uns stark genug erscheint, um den Sturz einer abrutschenden Person auffangen zu können. Keiner von uns hat große Lust, unsere primitive Sicherung auszuprobieren, wir ziehen es vor, nicht zu stürzen und schwindeln uns einzeln über die heikle Passage hinüber, wobei uns das weit von oben in freiem Fall herab rauschende Wasser eine ordentliche Dusche verpaßt. Erneut sind wir tropfnass, aber es ist heute so heiß, daß wir schnell wieder trocknen. Nach schwerer Schufterei in dichtem Wald gelangen wir in baumloses Gelände, in dem eine Art dichtes, sehr biegsames Schilf wächst, welches sich fast nicht mit den Messern durchschlagen läßt. Wir ersinnen eine brachiale Methode, um dem Schilf beizukommen: Einer springt hoch, ein anderer schiebt ihn zusätzlich von hinten an, er wirft sich von oben über die Vegetation und drückt sie mit dem Körpergewicht nach unten, die anderen steigen über ihn drüber und der nächste macht den "Rammbock". Dazwischen wächst gottlob immer wieder "nur" dicker Bambus, den wir mit Macheten umhauen können. Nach drei Stunden unglaublicher Schinderei sind wir fix und fertig, jeder hat blutende Schrammen im Gesicht und wünscht sich nur eines: Endlich rauskommen in freies Gelände. Die letzten 300 Meter sind nochmal verdammt widerspenstig, doch dann sind wir draußen im Freien, in der Sonne. Wir rennen auf einem zugewachsenen Pfad, der uns nach dem harten Trip im Wald wie ein Weg vorkommt, hinunter zum Rio Llipichi, wo wir uns in einer seichten Höhle einen wunderschönen Zeltplatz herrichten.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit entfachen wir ein Lagerfeuer, um die Mücken in Schach zu halten. Der wunderschöne Zeltplatz liegt direkt am Fluß und ist umgeben von steilen, dicht bewaldeten Hängen. In der Dunkelheit geht ein Licht an, dann erlischt es wieder: Ein Glühwürmchen blinkt mit seiner Taschenlampe. Plötzlich die Antwort von hunderttausenden von Lichtern: Der ganze Wald flackert, als wären die Sterne des Himmels hineingefallen. Und inmitten dieser gewaltigen Freilichtbühne sitze ich und staune - atemlos. Der Monte ist das Paradies auf Erden - und die Hölle. Man muß ihn hassen und lieben.

© Robert Rauch, 2004
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Eine abenteuerliche Reise durch sämtliche Klimazonen und alle Kontraste Boliviens: vom subtropischen Sorata geht es hinauf zum höchstgelegenen Passübergang Boliviens (5700m!) und wieder hinab ins Goldgräberdorf Cocoyo, von dort in eine Steppe mit Bären, Füchsen und Pumas, dann zur Entdeckung einer geheimnisvollen uralten Ruine und am Ende in den hitzeflimmernden Urwald.
Details:
Aufbruch: 01.12.2003
Dauer: 5 Wochen
Heimkehr: 01.01.2004
Reiseziele: Bolivien
Der Autor
 
Robert Rauch berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
Reiseberichte von Robert sind von der umdiewelt-Redaktion als besonders lesenswert ausgezeichnet worden!
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