Neue Wege - eine Reportage über Südamerika

Reisezeit: Oktober 1999 - Juli 2000  |  von Cornelia Bartlau

Allein unter Brasilianern

Eine Übernachtung in einer Jugendherberge bringt nicht den nötigen Erholungseffekt. Die Letzten kommen um fünf, machen das Neonlicht an, rascheln in ihren Plastetüten nach Zahnbürste und Zahnpasta. Die Ersten stehen um sechs auf weil der Flieger nach Hause startet. Eingepackt wird aber getreu dem südamerikanischen Lebensstil "mañana" erst am Morgen. Raschelraschel - warum nur haben all die jungen Mädchen auf ihren Reisen solche Unmengen von Plastiktüten in Gebrauch? Die Hälfte von ihrem Gepäck besteht aus Pflegemitteln für Haare, Haut, Gesicht, Hände, Körper, vor der Sonne, nach der Sonne und was weiss ich.

Ich kann von dem vielen Krach nicht schlafen. So denke ich an Erlebnisse, die ich hier in Südamerika hinter mir habe. Die Sache mit dem Regen und der Regenmacherin geht mir nicht aus dem Sinn. Als solche war ich Silvester wohl am aktivsten und Deutschland kann froh sein, dass ich diese Gabe dort nicht habe.

In den letzten Jahren sprach ich immer ganz angeberisch davon, dass ich Silvester 1999 in Rio de Janeiro am Strand verbringen werde, mit mindestens 3 Millionen Leuten - der Neid anderer war mir sicher. 1992 hatte ich schon mal das Vergnügen. Es hat mir ganz gut gefallen, wie dort auf Sambaart ins neue Jahr getanzt wird, egal wer mit wem, jung, alt, schwarz, weiß. Alle sind gleich unter diesem nächtlichen Himmel, der 24 Uhr von einem ebenso tanzenden Feuerwerk erhellt wurde, das sich im Dominoprinzip von Hotel zu Hotel am Copacabanastrand vorwärts bewegte.

Aber schon bevor ich brasilianischen Boden betrat, hatte ich meine Meinung geändert. Keine Million Menschen, kein bombastisches Feuerwerk, nicht mal Freunde wollte ich um mich haben! Ich wollte einfach meine Ruhe und mit diesem ganzen spektakulären, aufgesetzten Rummel nichts am Hut haben.

Aber Einsamkeit lässt sich nicht so leicht finden, schon gar nicht in Brasilien, wo zum Jahresende scheinbar der Ort des Feierns nicht identisch mit dem Wohnort ist und schon Tage vorher Straßen verstopft, Busbahnhöfe blockiert und freie Plätze nicht spontan zu haben sind.

Der Zufall kommt mir zu Hilfe. In einer kleinen Stadt, Angra dos Reis, ungefähr 150 km südlich von Rio, arbeitet eine Bekannte an einem Projekt. Über die Woche des Jahreswechsels braucht sie ihr schon bezahltes Hotelzimmer nicht und bietet es mir an. Großartig - ich werde sogar mit dem Auto hingefahren! Einen Nachmittag verbringe ich noch mit meinen Freunden, dann fahren sie zurück ins schon schäumende Rio und lassen mich allein. Bin ich wirklich allein?
Ich gebe mir viel Mühe im Hotel solo zu bleiben. Das ist gar nicht so einfach bei den kontaktfreudigen, schwatzhaften Brasilianern. Aber es gelingt mir. Einsam am Pool, einsam beim üppigen Frühstücksbufett und einsam sowieso in meinem Zimmer. Ich mache nicht viel - schau mir diese kleine Stadt mit ihrem großen Jacht- und Fischerboothafen an, den Haupteinkaufsstraßen mit Menschenmassen und den kleinen Seitenstraßen mit viel Sonne und sonst niemandem.
Am 31.Dezember schlendere ich vormittags in der Stadt herum. Vorsorglich für die Silvesternacht eingekauft hatte ich schon in der Nacht vorher. Wein, Kekse, Bananen und Wasser.

Das hätte ich mir auch in der letzten Nacht des Jahres noch kaufen können, die brasilianischen Supermärkte kennen keine Schließzeiten. Nachmittags hänge ich am Pool rum. Es ist heiß, 39 Grad, aber ins Wasser darf man nicht. Ich versuche den Text des Verbotes zu entziffern und glaube zu lesen, dass das Wasser gereinigt wurde und nicht mit sonnenöleingeriebenen Körpern verschmutzt werden darf. Alle, auch die Kinder, halten sich daran. Ich leider auch und es wäre doch so eine gute Gelegenheit gewesen sich am letzten Tag des Jahrtausend reinzuwaschen. Die Sonne sehe ich an diesem Nachmittag für viele Tage zum letzten Mal.

Am Abend will ich mit einem Bus ins Zentrum fahren, erwische aber den falschen. Der Bus fährt aus der Stadt heraus und hinauf auf den Berg in die Dörfer, die man von unten gar nicht sieht. Welch eine Wohnwelt! Hütten aus Holz, halbfertig und fast vorm Zusammenfallen beherbergen Menschen. Ich kann durch die breiten Ritzen sehen, dass in jedem Haus der Farbfernseher in Betrieb ist, obwohl es so scheint als wären alle Leute auf der Straße. Fröhlich sitzen sie draußen und schwatzen oder spielen. Jedes Haus ist anders, eines ist hell gestrichen, mit Blumen verziert, ein anderes eine Bruchbude mit Müll vor der Tür.

Es riecht phantastisch nach Blumen und Pflanzen wie im Tropengewächshaus. Die Straße ist ein Loch neben dem anderen und Müll und Unrat wohin man sieht! Ich könnte auf die Idee kommen, dass heute noch Grobmüll abgeholt wird, doch dazu müsste er ja wenigstens haufenweise zu sehen sein und nicht so flächendeckend verteilt. Der Bus hat irgendwann sein Ziel erreicht und fährt zurück. Ich bleibe drin sitzen, will noch mal bezahlen aber der Kassierer winkt großzügig ab. Ich werde im Sitz hin- und hergeschmissen, doch das stört mich nicht, denn nun kann ich mich auf der anderen Seite der Straße satt sehen. In jedem 4. Haus ist eine Bar oder Kneipe, manchmal mit Billardtisch. Auch auf dieser Seite der krasse Gegensatz von Haus und Mensch. Die Menschen, ob Kind, Mann oder Frau sind weiß gekleidet und sehr schick. Der Bus fährt wieder in die Stadt hinunter, die von hier oben wie ein großes Amphitheater aussieht. In diesem Theater gehen langsam die Lichter an, die Partyzeit beginnt.

Ich gehe zum Strand, dort wo die große Bühne aufgebaut ist. Es stehen viele Verkaufsstände an der Promenade, aber noch fehlen die Menschen. Ich setze mich auf den Sand, rauche, trinke Rotwein und denke an meine Freunde in Deutschland, die jetzt gerade ins neue Jahrtausend taumeln.
Am Ufer verspritzen zwei alte Leute vier Flaschen Sekt und schmeißen dann auch noch Blumen ins Meer. Es kommen mehr, und während mein Wein schon lange alle und mir die Kehle trocken ist, schütten sie fröhlich ihren Wein ins ach schon so geplagte Meer. Sie errichten kleine Altare - Makumba gewidmet, stellen Kerzen, Zigarren und etwas zu Essen hinein. Eine Opfergabe an die Gottheit, die ihnen fürs neue Jahr Glück bringen soll. Dann kommen Jungs und schmeißen Blitzknaller in die Makumbaaltare. Der Strand füllt sich mit Menschen und jeder Mann, der meine Bildfläche betritt, muss erst mal am Ufer stehend ins Meer pinkeln. Das ist zuviel für mich, ich dränge mich an eine der Fressbuden heran, verzehre einen köstlichen Fleischspieß, trinke ein Bier aus der Dose.
Endlich beginnt die Musik, auch aus der Konserve. Jetzt habe ich einen schönen Platz und kann die Brasilianer beim tanzen beobachten.
Doch jetzt kommt der Regen, erst nieselnd, dann gießend. Alle tanzen trotzdem, ihre Körper glänzen und winden sich wie Aale im Wasser. Die junge Leute tanzen zusammen nach einer Choreografie, die mit der neuen Jesuswelle ins Land schwappte und religiöse kitschige Texte mit dazugehörigen Hand- und Beinbewegungen verbindet. Sie haben sichtlich Spaß daran. Eine halbe Stunde vor Mitternacht hört der Regen plötzlich auf. Eine Band beginnt zu spielen - noch religiösere Musik. Langweilig für mich. Urplötzlich ist es Mitternacht, das Feuerwerk macht vom Meer aus, darauf aufmerksam. Es knallen keine Sektkorken, niemand fällt sich taumelnd in die Arme - nein, die meisten stürzen sich ins Meer, zwischen die Blumen, die Dosen und die Pisse. Das ist keine Panik vor dem neuen Jahrtausend, das scheint Sitte zu sein - Reinwaschung? In dieser Kloake? Von Wasser kann hier wirklich nicht mehr die Rede sein und das nicht wegen der paar tausend Blumensträuße.

Ich mache einige Fotos und laufe sehr schnell zum Hotel zurück, denn der Regen hat wieder begonnen. Ich komme klatschnass an. Erst dusche ich und während ich mir dann im Fernsehen anschaue, wie in der ganzen Welt gefeiert wird, esse ich die Bananen, und trinke den Rotwein, zwei brasilianische Produkte von denen mir beim Ersten mittlerweile 10 Sorten bekannt sind und beim Zweiten gerade mal diese eine - aber wer kennt schon Rotwein in Brasilien?

ein kaltes Bier am Abend ist doch das Beste in Rio

ein kaltes Bier am Abend ist doch das Beste in Rio

© Cornelia Bartlau, 2009
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Die Reise
 
Worum geht's?:
War es ein Ausstieg oder ein Einstieg? Mit 45 Jahren den alten Job an den Nagel hängen. 9 Monate mal weg vom Alltag, Terminen und Gewohntem. Arbeiten auf ganz neuem Terrain. Straßen und Wege ins Unbekannte. Landschaften wie im Bilderbuch Armut und Reichtum wie im Schwarzbuch. Entwirf deinen Reiseplan im Großen und lass dich im Einzelnen von der bunten Stunde treiben Kurt Tucholsky
Details:
Aufbruch: 18.10.1999
Dauer: 9 Monate
Heimkehr: 06.07.2000
Reiseziele: Chile
Brasilien
Argentinien
Peru
Der Autor
 
Cornelia Bartlau berichtet seit 15 Jahren auf umdiewelt.
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