Mit Fahrrad durchs Ermland und Masuren
ostwärts durch die kalte Heimat
Fahrradgerechtes Wetter erwartet uns am Morgen: Totale Windstille und 12 Grad im Schatten. Die Fähre nach Frombork fährt, eine Busreisegesellschaft wird gerade am Anleger ausgeladen.
Auf dem Schiff ist auch noch ein Radler, der heute noch nach Königsberg will. Jonas erfährt unterwegs von ihm, was er alles schon mit dem Fahrrad unternommen hat, alles allein auf eigene Faust mehr als 100 000 km bis weit nach Asien. Seine Website werden wir uns unbedingt ansehen, wenn wir zurück sind:www.cycleguide.de
In Frauenburg/Frombork gibt es wieder eine große befestigte Kirche aus der Zeit des Deutschritterordnens zu besichtigen. Kopernikus hat hier lange gelebt, ihm hat man ein astronomisches Museum gewidmet. Leider sind nicht alle Erläuterungen durchgängig auch in Englisch, so dass wir nicht alles verstehen können.
Das gibt es sonst nur noch im Deutschen Museum in München. Im Frauenburger Münster ist in der Turmspitze ein Pendel aufgehängt, unter dem sich die Erde durchdreht und das seine Schwingungsebene beibehält. Nach einer Stunde kann man sehen, dass das Pendel scheinbar in einer anderen Ebene schwingt. Damit bestimmte Kopernikus die Breite von Frauenburg sehr genau, weil der Winkel, in dem sich die Ebene scheinbar dreht, von der geografischen Breite des Aufhängungspunktes abhängt. Also muß Kopernikus doch davon überzeugt gewesen sein, dass die Erde eine Kugel ist !
Zum Schluß besteigen wir noch den Kirchturm, um dort oben bei dem herrlichen Spätsommerwetter einen tollen Rundblick zu genießen.
Mittags beginnt dann unsere Radtour in die kalte Heimat. Meine Karte hilft mir nun nicht weiter, denn wir sind östlich des Kartenrandes. Daher übernimmt Jonas jetzt die Tourenplanung mit Hilfe eines Handbuchs"Masuren per Rad" von Herbert Lindenberg , ein CYKLOS-Fahrrad-Reiseführer aus dem Verlag Wolfgang Kettler - 1. Auflage August 2004
ISBN 3-932546-25-3 . ...., das uns zuverlässig wie ein GPS auch auf einsamsten Wegen führen wird.
Nach dem ersten Anstieg von Frombork geht es über sanfte Hügel langsam bergan., um nach einigen Kilometern überraschend ins Tal der Paselka herabzuführen, einem Kanu- und Paddelrevier vom Feinsten. Klar, dass wir uns spontan zu einer Badepause entschließen, auch wenn die Außentemperatur dafür nur noch gerade eben dafür geeignet ist.
46 Kilometer sind es nach Jonas Auskunft noch bis zu einer möglichen Unterkunft.
Uliza scholarska 1 c in Pieniczno, sagt uns der Reiseführer. Ein schönes Reihenhaus, aber nichts deutet auf ein Hotel oder eine Pension hin. Doch kaum stehen wir davor, öffnet sich die Tür und wir werden begrüßt mit den Worten: "Diesen Mann kenne ich". Und tatsächlich: Als wir im Herbst 2003 in der Slowakei in Telgart in einer Pension U'Hanky logiert hatten, hatte Jonas abend ein paar Worte mit polnischen Gästen auf deutsch gewechselt, die damals auf der Durchreise waren. Jonas muß einen nachhaltigen Eindruck auf Frau Helena gemacht haben, dass sie sich so genau an ihn erinnern kann. Gleich werden wir wie alte Bekannte aufgenommen und fürstlich bewirtet.
Wir logieren in den Zimmern der Töchter, die inzwischen erwachsen sind und in Danzig in leitenden Positionen arbeiten. Stolz erzählt uns der Vater, dass beide in Lemberg/Ukraine Chemie und Biochemie studiert haben und er damals je 3000 US $ für sie aufbringen mußte.
Aber wie konnten sie denn in Lemberg studieren, dort spricht man doch ukrainisch ? Ja, weil sie doch hier in die ukrainische Schule gehen konnten und weil zu Hause ukrainisch gesprochen wird. Zu Hause ? Ja, denn Jans Eltern hatten im heute ukrainischen Teil Polens gelebt und waren von dort 1945 vertrieben worden. Angesiedelt wurden sie zusammen mit anderen Flüchtlingen im menschenleeren Ermland, aus dem die Deutschen geflüchtet waren. Außer verlassenen Unterkünften hatten sie nichts vorgefunden zum Überleben und hatten ohne staatliche Hilfe ganz von vorn anfangen müssen. Obwohl sie sich als Polen- und jetzt als Europäer fühlen, hatten sie ihre ukrainische Sprache gepflegt, nun schon in der dritten Generation.
Jan war Lehrer geworden, inzwischen ist er pensioniert. Helena hatte immer Arbeit, aber zu ihrem Job als Bibliothekarin muß sie immer weitere Anfahrtwege in Kauf nehmen.
Am nächsten Morgen läßt sie den Bus zu ihrer Arbeitsstelle in Lidzbark Warminski (Heilsberg) davonfahren, um uns den Frühstückstisch zu decken und mit uns zu frühstücken. Erst danach nimmt sie das Auto, um noch rechtzeitig anzukommen.
Wir verabschieden uns von unseren neuen Freunden, Jan schenkt uns noch ein Glas feinsten Rapshonig für unterwegs. Den werden wir täglich genießen und uns gern an Pieniczno/Mehlsack erinnern.
Eine kleine Stadtrundfahrt führt uns noch an die Burgruine, von der aus man einen schönen Blick in die Schlucht eines kleinen Flusses hat, über den eine Eisenbahntalbrücke führt. Noch heute sieht man, wie hier der Krieg gewütet haben muß: Der Ortskern ist eine verwilderte Wiese, aus der die Reste von niedergebrannten Häusern herausragen. Den neuen Ort hat man seit 1945 im Umkreis des alten Orts neu aufgebaut.
Nächstes Ziel ist Lidzbark Warminski, Heilsberg im Ermland. Sehenswert sind hier die Burg, die ebenfalls von den Deutschrittern gebaut wurde.
Burg und Zufluchtstätte bei Belagerungen, mit 4 Meter dicken Mauern, die sogar den Zweiten Weltkrieg überstanden! Das Ganze noch umgeben von einem tiefen Wallgraben, solche Festungen waren uneinnehmbar!
Wir bummeln durch den Ort und besichtigen das Museum in der Burg, die uns wegen ihrer Ausmaße sehr beeindruckt.
80 km wollen wir heute schaffen, also gehts mittags weiter nach Südosten, um noch bis Reszel zu kommen. Unser Weg führt durch Landwirtschaft pur, die sanft hügelige Landschaft fordert uns an einigen Steigungen nun schon echte Leistung ab!
Erntedank. Die Dörfer überbieten sich gegenseitig im Bau von Strohfiguren mit landwirtschaftlichen Motiven
Besonders die letzte Anhöhe vor Reszel zwingt mich fast zum Absteigen, gut, dass wir anschließend unsere Tagesetappe erreicht haben. Auch hier wieder ein malerischer Ort, dessen Mitte eine trutzige Burg ziert. In der Dunkelheit besuchen wir noch die Burgschänke und entdecken dort ein Hotel mit einem einzigartigen Ambiente, wir kommen bei "U Renaty" für 100 PLN im Doppelzimmer unter und sind auch zufrieden.
Am folgenden Morgen stöbern wir dann noch in der Burg, bevor wir uns Richtung Heilige Linde (Swieta Lipka) in Bewegung setzen.
Alle Stunde findet ein Orgelkonzert statt, bei dem man nicht nur die reichen Rokokoverzierungen des Baues bewundern kann, sondern auch die einmalige Akustik in der Kirche. Dazu in polnisch, englisch und deutsch Begrüßungsworte und Erläuterungen der Patres - mit anschließender Kollekte. Die Kirche wird zur Zeit aufwändig restauriert, so dass wir nur wenige Bilder machen können.
Heilige Linde ist ein Muß für alle Touristen, die ins Ermland und nach Ostpreußen kommen. Ein Jesuitenkloster inmitten einer herrlichen Landschaft zwischen zwei Seen.
Hinter Ketrzyn/Rastenburg führt unser Weg an der Wolfsschanze vorbei.
Hier war bis 1944 das "Führerhauptquartier", am 20.Juli 1944 hatte Graf von Stauffenberg hier das Attentat auf Hitler versucht. Das große Gelände in einem sumpfigen Waldgebiet wird heute touristisch vermarktet., aber in der Gedenkstätte findet sich u.a.auch eine Dokumentation über die Odyssee von "Schutzgefangenen".
Das waren Verwandte von prominenten Ausländern, die die SS im letzten Kriegsjahr in Deutschland gefangen genommen hatte, angeblich zu ihrem Schutz vor "feindlichen Angriffen", in Wirklichkeit aber, um sie als Geiseln gegenüber den Kriegsgegnern "verwenden" zu können.
Zu ihnen gehörte u.a. Pastor Niemöller und ein Neffe des damaligen russischen Außenministers Molotow.
Ansonsten gibt es viel Bunkerschrott zu bewundern, die Bilder sprechen für sich. Gegen Kriegsende hatten die Deutschen das gesamte Quartier in die Luft gejagt. Heute ist alles haushoch von Bäumen überwuchert, ein eindringlicher Beweis, wie vergänglich der Spuk der Nazizeit doch gewesen ist.
Von nun an kommen wir ins "richtige" Masuren, unser Handbuch führt uns nach Nordosten, zunächst auf Wegorzewo (Angerburg) zu, dann aber zwischen dem Mauersee (Jezioro Mamry) im Norden und dem Dargainensee (Jezioro Dargin) im Süden in einem Bogen anschließend nach Süden Richtung Gizycko (Lötzen).
Noch einmal stoßen wir dabei auf Spuren der jüngsten Vergangenheit: Das Palais Lehndorff. Der Gutsherr hatte den Männern des 20.Juli 1944 Unterschlupf gewährt und sein Gut für Besprechungen zur Verfügung gestellt. Dafür war er vom Volksgerichtshof zum Tode veurteilt worden. Das Gut hat seit 1945 leer gestanden und soll nun wiederaufgebaut werden.
Vielleicht findet sich ein Investor, um daraus in dieser einmalig schönen Umgebung ein Hotel zu errichten.
Bis Lötzen schaffen wir es heute nicht, wir suchen uns ein Quartier in Harsz, in der Nähe des Mamrysees, schließlich wollen wir Masuren genießen und nicht nur abradeln.
Am nächsten Tag ist Sonntag, aus der Ferne hört man die Kirchenglocken und alle Leute sind unterwegs zum Kirchgang. Dennoch gelingt es uns, unsere Tagesverpflegung in Pozezdrze (Großgarten) zu bunkern, um uns anschließend auf Schleichwegen über Przerwanki (Wiesenthal)-Kuklanki-Kraukelnsee auf Lötzen zuzubewegen. Unser Handbuch beschreibt die Strecke sehr genau, aber als an einer gesprengten Eisenbahn-Talbrücke das Gras auf dem Weg höher wird, meinen wir, es noch besser zu wissen, wo wir lang müssen.
Ruine einer Eisenbahnbrücke der stillgelegten Bahnstrecke von Angerburg nach Lötzen, gesprengt von deutschen Truppen auf dem Rückzug vor der russischen Invasion 1945
Im Prinzip kennen wir unsere Marschrichtung: nach Süden. Doch da ist ein Sumpf im Wege und dahinter ein See. Aber solange wir noch auf einem Pfad weiterfahren können, meinen wir, muß der Weg doch irgendwohin führen. Er führt auch irgendwohin, nämlich auf eine riesige ungemähte Wiese, fast erst am Horizont erkennen wir den nächsten Bauernhof. Aber jetzt zurück ?
Nein, da müßten wir ja bergauf schieben! Kaum zu glauben, wie anstrengend aber das Schieben durchs ungemähte Gras auch sein kann. Nach 20 Minuten Pirsch am Waldrand entlang treffen wir wieder auf einen Schotterweg, dem wir weiter folgen.
Beim Bauerhof entdecken wir ein 200 Jahre altes Grab noch mit deutscher Inschrift und als wir noch weiter auf den See zuhalten, mündet von rechts eine Straße ein und wir befinden uns wieder auf der Route unseres Handbuchs, na bitte ! Nun können wir den Weg nach Lötzen nicht mehr verfehlen, auch, wenn dorthin uns nie ein Auto begegnet.
In Lötzen suchen wir die Jugendherberge, die sich in einer alten Festung "Boyen" befinden soll. Viele Hotels machen Reklame für sich, aber die Jugendherberge zu finden, wird zum Problem. Denn zugänglich ist die Festung nur von ein er einzigen Stelle aus, aber selbst dort gibt es keinerlei Hinweise. Selbst als uns jemand den Weg genau beschreibt und wir vor dem Haus stehen, müssen wir uns erneut durchfragen und treffen Gott sei Dank dabei auf die Herbergsleiterin.
Sie führt uns durch das Treppenhaus einer Kaserne aus dem 19.Jahrhundert, mit fast zwei Meter dicken Wänden. Im ersten Stock sind die Schlafsäle der damaligen Rekruten zur Jugendherberge umfunktioniert!
Wir bekommen einen Schlafsaal mit 8 Betten für uns allein und nehmen sogar die Fahrräder mit ins Zimmer. Am nächsten Morgen entdecken wir sogar einen großen Speisesaal neben der Selbstbedienungsküche. Besser und preiswerter hätten wir's nicht haben können!
ein letzter Blick zurück in die Festung, jeder Besucher mußte einen Spießrutenlauf machen, wenn er in die Festung wollte!
Die heutige Fahrt führt uns durchs Sahnestück von Masuren, an immer neuen Seen entlang bis nach Nikolaiken. Dieser Ort lebt vom Tourismus wie kaum ein anderer. Eine Bettenburg mit 1200 Betten soll es hier geben. Wir kehren im Zentrum in der Pension Mikolaijki ein und fühlen uns hier sehr wohl. Eine weitere Nacht buchen wir gleich mit, um morgen einmal einen Ausflug zum Spirdingsee ohne Gepäck machen zu können.
Aufbruch: | 06.09.2009 |
Dauer: | 17 Tage |
Heimkehr: | 22.09.2009 |