Spontantrip Polen (August 2013)
Warschau
1993
Ich war Anfang November 1993 schon einmal in Warschau, damals auf dem Höhepunkt der post-kommunistischen Wirschaftskrise. Zloty-Scheine kamen mit etlichen Nullen, ohne daß man viel dafür kaufen konnte. Das Land hatte kein Geld für Ölimporte, es wurde nur auf 15° C geheizt, der öffentliche Raum gar nicht.
Meine drei Tage stopover auf dem Weg nach Bangkok ermöglichte ein Sonderangebot der LOT, dementsprechend hatte ich nur leichtes Gepäck. In der zentralen Jugendherberge gab es morgens und abends je eine Stunde warmes Wasser. Mit mir im Schlafsaal ein Australier, der auf dem Landweg durch Sibirien nach Hause und darüber einen Führer schreiben wollte. Der Bursche konnte nicht nur kein Wort russisch, er hatte Löcher im Turnschuh und sah am Morgen zum ersten Mal in seinem Leben Schnee. Den guten Rat, sich in Warschau noch mit warmen Klamotten einzudecken, wollte er nicht annehmen. Hoffentlich ist er nicht in den Weiten Sibiriens erfroren ...
Ich erinnere mich auch noch eine Mädchen-Schuklasse, die aus offensichtlichem Geldmangel ihre Mahlzeiten im gemeinschaftlichen Speisesaal nur mit hausgemachter Marmelade und Leberwurst bestritt. Mir war es dann doch zu peinlich meine für 9 US$ (damals ein Heidengeld) erworbene 100 g Dose echten russischen Kaviars zu löffeln. Gegessen habe ich die dann ziemlich stillos im Bett.
Eher aus Neugier habe ich die JH dann diesmal wieder gesucht und gefunden, inzwischen ist sie renoviert, nimmt aber vor 16 Uhr keine Gäste auf.
Touristisches Programm
Unsere Unterkunft Kanonla erwies sich als Volltreffer. Liebevoll hergerichtet in einem kleinen Altstadtgebäude war es überraschenderweise nicht einmal voll belegt. Die Damen am Empfang freundlich, hilfsbereit und kompetent. Die Preise ab 40 Zl p.P. (ohne Frühstück) sind mehr als vertretbar. Wunderbar ruhig -- die Altstadt ist fast autofrei -- wecken einen die Hufe der Fiakerpferde auf Kopfsteinpflaster. Auch das Gequatsche der alle 5 Minuten vorbeikommenden geführten Gruppen verblaßte bald zum Hintergrundrauschen.
Zum Fragen ob was frei ist, habe ich H. hineingeschickt. Die Dame nahm seine Daten auf und zuckte nicht mit der Wimper, daß ein Vierzehnjähriger hereinschneit, um ein Zimmer zu buchen -- in England hätte man ihn wahrscheinlich als mutmaßlichen Ausreißer von der Polizei abholen lassen.
Direkt hinter unserer Unterkunft befand sich die Johanneskathedrale aus der täglich abends per Lautsprecher eine "Live Jesus Show" (anderweits als "Messe" bekannt) per Lautsprecher die Passanten beschallt -- volle Dröhnung, ob man will oder nicht.
Die restaurierte Altstadt ist natürlich eine Touristenfalle par excellence. In Relation gesetzt, entsprechen die Preise der Restaurants um den Marktplatz denen der Ramblas von Barcelona oder dem Markusplatz in Venedig -- dafür bekommt man abends dann auch einen Pianisten.
In der Mitte des Marktplatzes die Bronzestatue einer Meerjungfrau, sie nicht nur mit Schwert sondern auch mit Schild.
Feinste katholische Propaganda, ausnahmesweise einmal ein Schild in einer Fremdsprache.
Am zweiten Tag unseres Aufenthalts parkten auf einem nahen Platz gut 20 LKW, um das Gepäck der Pilger für eine Massenwallfahrt zu transportieren. Sagen wir höchstens zwei Stück pro Mann, da war viel Platz. Vor der Antoniuskirche gab es den ganzen Tag Pilgerbüchlein. Um sechs Uhr am nächsten Morgen war die "kick off "-Messe dann auch überfüllt, auf den umliegenden Straßen entlang der Stadtmauer kein Stehplatz.
Bierchen
"Doch wer sich in Polen mit Alkohol auf öffentliche Plätze begibt, dem winkt eine Geldstrafe bis zu 100 Zl (33 €). Wer sich das Geld sparen möchte, sollte also in einen der vielen Biergärten begeben." (Quelle) Nun wurde ich nur "gebührenfrei verwarnt" als ich mit einer Dose kühlen Biers bei geschätzt 34° C die Stadtmauer entlangschlenderte -- auch das wohl nur weil die beiden Polizisten gerade eine Gruppe "Verlierer der wirtschaftlichen Entwicklung" (vielfach als "Penner" diffamiert) schikanierten. Es scheint auch gemeindespezifische Rauchverbote im öffentlichen Raum (und Parks) zu geben. Ein Thüringer, mit in unserer Unterkunft, warnte, daß man in Krakau besonders gnadenlos auf unwissende Touristen lauere.
Zwischenbemerkung: Zwischenbemerkungen zu einigen Gerichtsentscheidungen (beachte §190 StGB: "Ist die behauptete oder verbreitete Tatsache eine Straftat, so ist der Beweis der Wahrheit als erbracht anzusehen ... rechtskräftig verurteilt worden ist.") der letzten Zeit: Hitlerbilder im Hausflur sind kein Grund einem Mieter die Wohnung zu kündigen (AG München, 424C18547/08), wenn er aber raucht darf man ihn rauswerfen! (AG Düsseldorf, 24 C 1355/13). Angesichts derartiger Intoleranz, Verbotswahn und Kleingegeistigkeit frage ich mich, wann die Hitlerbilder wieder an der Hauswand hängen -- lange kann's nicht mehr dauern!
Diese Werbung an der Hotelfassade will uns vermutlich sagen: "Hier sind die Zimmer so mies, daß sich unsere Gäste aus dem Fenster stürzen."
Warschau hat einige Barockkirchen, die die russischen und asiatischen Touristenmassen auch entsprechend beeindrucken. In Bayern ist jede zweite Dorfkirche prächtiger ausgestattet.
Kriegerdenkmäler und lange Ampelphasen
Deutlich verbessert hat man das Trambahnnnetz, die alten Rumpelkisten sind fast vollständig ausrangiert. Zwar fahren die Busse usw. häufig (zweite U-Bahn-Linie im Bau), an die sonstigen Bedürfnisse der Passagiere denkt man weniger: Umsteigehalte sind teilweise mehrere hundert Meter auseinander, man darf auch schon mal vier Treppen steigen. Die Haltestellen selbst sind weit auseinander, auch ist es nicht immer einfach eine Fahrkarte zu kaufen (sofern es Automaten im Bus gibt nur mit Kreditkarte). Einzelfahrten vo 3-4 Zl und Tageskarten für 15 Zl sind für Einheimische sicher nicht billig.
An den Fußgängerampel sind die Rotphasen extrem lang, bei Grün muß man sich sehr beeilen.
Warschau hat zahlreiche öffentliche Toiletten, eigentlich habe ich nur in Basel mehr gesehen. Was es aber noch häufiger gibt, sind Kriegerdenkmäler -- diese bevorzugt dann mit einem säbelschwingenden Helden (Bilder unten). Könnte das daran liegen, daß man in einem Land, das derartig oft besetzt und verwüstet wurde überkompensiert?
Säule mit dem schwertschwingenden hl. König Sigismund III. am Platz beim ehem. Königspalast. Im Hintergrund das neue Nationalstadion und Fesselballon.
Armeemuseum
Da Montag war, hatten die Museen -- sehr zur Erleichterung von H. -- geschlossen. Gefallen hat ihm aber dann doch das Freigelände des Armeemuseums, wo etliches Kriegsgerät (oft noch unrestauriert) meist sowjetischer Bauart kostenlos zu besichtigen war.
Abschußrampen SCUD A und B (NATO-Bezeichnung für die sowjetische ballistische Boden-Boden-Rakete R-11 und später R-17), bekannt aus US-amerikanischer Golfkriegspropaganda.
Kathedrale, Einkaufzentrum
H. hat am abend dann noch Bekanntschaft mit einer jungen Japanerin geschlossen, die im selben tokioter Stadtbezirk wie ich vor 20 Jahren lebte. Sie flog am nächsten Tag nach London zurück, um ihre Eltern, die sich nicht alleine auf Europareise trauen wollten, zu betreuen. Es sitzt sich sehr angenehm am neuen Springbrunnen Multimedialny mit Wasserspiel und Lasershow.
Am Dienstag war es uns dann zu heiß, so daß wir den halben Nachmittag wieder in einem klimatisierten Einkaufszentrum verbrachten. Da gab es dann "echt polnische Küche" in der Form der Produkte einer bekannten amerikanischen Händ'lbraterkette, die in Polen gut vetreten ist.
Kulturpalast
Direkt vor dem Hauptbahnhof befindet sich der Kulturpalast. Mein erster Eindruck war "wie die Lomonossov Universität" in Moskau. Allerdings erschien der Mobilfunkmast am Dach eher wie ein japanischer Pagoden-Blitzableiter (soren [vgl: [verweis=https://www.umdiewelt.de/t7502_0]Tempeltour Japan[/verweis]]). Ganz falsch gelegen bin ich nicht, denn der Palast war ein Geschenk "der Völker der glorreichen Sowjetunion" unter Führung des weisen Genossen Stalin.
Das Hochhaus besitzt im 30. Stock in 114 Metern Höhe eine Aussichtsplattform (16 Zl. Eintritt) und eine Cafeteria. Der westliche Kulturimperialismus im ursprünglich nach dem Spender benannten "Josef-Stalin-Kultur-und-Wissenschaftspalast" geht inzwischen so weit, daß dort Produkte erzkapitalistischen Coca-Cola-Konzerns ausgeschenkt werden. Ich glaube der "Vater der Völker" würde in seinem Grab rotieren wenn er das wüßte.
[Dazu mal wieder Billy Wilders geniale Kommödie [verweis=http://www.youtube.com/watch?v=Fnm5LpdK7Ro]Eins, Zwei, Drei[/verweis] ansehen.]
Zu einer "Free Walking Tour" des "kommunistischen" Warschau haben wir uns dann auch noch angestellt. Ein überdrehtes Studentenmädel hat Lehrbuchplatitüden ob der bösen, alten Zeit von sich gegeben. Ich habe mich schon nach der Vorrede verabschiedet, nachdem die Dame aus eigener Erfahrung -- schon wegen ihres jugendlichen Alters -- wenig wirklich Interessantes vortragen hätte können. H. hat etwa die Hälfte der Tour tapfer durchgehalten.
Diese "Free Walking Tour" gibt es inzwischen wohl in zahlreichen Städten, der einzige Unterschied zur normalen Führung ist der, daß man am Ende genötigt wird "angemessenes" Trinkgeld zu geben -- zum einen eine Art der heute modernen Selbstausbeutung (à la intrapreneurship) der Führer, zum anderen psychologischer Druck auf die Gäste, wenn auch vielleicht nicht ganz so schlimm wie bei einer Kaffeefahrt.
Kurioses und Nettes
Ein paar Bilder, die sonst nirgendwo hinpassen.
Service der städtischen Wasserwerke für hitzegeplagte Bürger: Trinkwasser-LKW an mehreren Stellen der Innenstadt.
Auch derartige improvisierte Springbrunnen zur Abkühlung gab es an mehrern Plätzen ohne daß irgendwelche Umweltaktivisten ob der Verschwendung stöhnen.
Ernährt haben wir uns im wesentlichen von Brot, geräuchertem Käse und einigen sehr fetten Würsten. So richtig "polnisch essen" sind wir nicht gegangen. Die Auswahl war eher beschränkt, zahlreich gibt es Ableger amerikanischer Schnellrestaurants. Ansonsten findet sich an fast jeder Straßenecke eine Dönerbude, oft mit griffigen Namen wie McDöner, Döner King oder -- mein Favorit: Kebabistan.
Mein Gesamteindruck der Entwicklung Polens der letzen zwanzig Jahre war: "erstaunlich." Andersherum gesehen könnte man auch sagen: Erschreckend wie weit ins Hintertreffen die BRD geraten ist seit der "Wende" (wie der Verrat der Gescher-FDP 1982 an Helmut Schmidt bis zur propangadistischen Ummünzung unter Kohl genannt wurde) unter dem Primat der Lambsdorff-Schröder-Fischer-"Reformen", die vom Zonen-Mädel brav weitergetrieben werden (Zur Erinnerung siehe: Lohnentwicklung im int'l. Vergleich, 2008 vom DIW)
Die Fremdsprachenkenntnisse, auch am touristischen Schalter, sind teilweise noch sehr bescheiden. Wer Deutsch spricht tut das meist gut, Englisch ist oft stark akzentbelastet aber unter jungen Leuten verbreiteter. Die Bedienung war fast immer freundlich und kompetent, wenn man sich verständigen konnte. Besonders Damen im mittleren Alter legten aber auch noch die berüchtigte sozialistisch-brüderliche Freundlichkeit an den Tag.
Weiter gings wieder per Nachtzug Richtung Ostsee, konkret Danzig.
Aufbruch: | 02.08.2013 |
Dauer: | 9 Tage |
Heimkehr: | 10.08.2013 |