Die drei baltischen Hauptstädte - eine Kurzreise

Reisezeit: Juli 2006  |  von Herbert S.

Riga: Jugendstilarchitektur in Riga

(und andere Baustile)

Riga hat im Laufe der Jahrhunderte so manchen Stilwandel in der Baukunst erlebt. Doch nur wenige haben in Zahl und Bedeutung so viele bleibende Zeugnisse geschaffen wie der Jugendstil.

Mitte des 19. Jahrhunderts wurden auch in Riga - wie in vielen europäischen Städten - die Befestigungsmauern abgetragen und durch einen Park- und Boulevardring ersetzt. Damit und mit der Aufhebung des 'Steinhäuserverbots' war die Voraussetzung geschaffen, in städtebaulicher Hinsicht den Bau von Miets- und Geschäftshäuser zu forcieren. Hinzu kam der wirtschaftliche Erfolg um die Jahrhundertwende und der damit verbundene Bevölkerungszuwachs von 88% in der Zeit 1897 bis 1913.

Der Jugendstil ist kein einheitlicher Stil; er hat von Land zu Land, ja von Stadt zu Stadt die unterschiedlichsten Ausprägungen. Auch der Rigaer Jugenstil überrascht durch seine Vielzahl stilistischer Ausdrucksformen. Experimentierfreudigkeit der Bauherren und ihrer Architekten schufen mit ihrem Harmonieempfinden für Proportionen und Dekor ein einmaliges Ensemble, das in die Stadt passt.

Wir lieben den Jugenstil in seinen verschiedenen Ausprägungen und haben ihn schon in vielen Städten wie Paris, Wien, Nancy, Darmstadt genauer studiert. Daher hatten wir uns auch viel Zeit für diesen Teil Rigas reserviert.

Altstadtbereich

Zu den Bauten des frühen Jugendstils zählt das Miets- und Geschäftshaus Audeju iela 7 in der Altstadt, erbaut von Alfred Aschenkampf - einem der bedeutenden Architekten der frühen Form. Schwertlilien, Rohrkolben schmücken als typische Jugendstilmotive die Fassade.

Audeju Iela 7

Audeju Iela 7

Ein weiterer Vertreter des frühen Jugendstils ist Paul Mandelstamm. Von ihm stammt ebenfalls noch in der Altstadt - leider von Baugerüsten und bald von Neubauten umrahmt - das Haus Kaleju Iela 23. Besonders das Eckportal ist hierbei originell.

Kaleju Iela 23

Kaleju Iela 23

Eingangsbereich des Hauses Kaleju Iela 23

Eingangsbereich des Hauses Kaleju Iela 23

Beim Altstadtbummel kann man heute ein Kaffeehaus im Jugendstil besuchen: in der Tirgonu Iela 4 wurde von den Architekten H. Scheel und E. Scheffel ein Haus geschaffen, dessen Verzierung noch starken Einfluß des Historismus aufweist.

Tirgonu Iela 4

Tirgonu Iela 4

In der Smilsu Iela stehen eine ganze Reihe von Jugendstilhäusern unterschiedlichster Prägung.
Smilsu Iela 2 wurde 1902 nach Plänen von K. Peksens erbaut. Man beachte die Kariatiden, die in Riga häufig zu finden sind und das beliebte Jugendstilmotiv des Pfau am Erker.

Smilsu Iela 2

Smilsu Iela 2

Smilsu Iela 8 ist ein großes Miets- und Geschäft-Bürohaus als Eckhaus von Scheel und Scheffel geplant und ausgeführt.

Smilsu Iela 8# Aldaru Iela 2a

Smilsu Iela 8# Aldaru Iela 2a

Smilsu Iela 8

Smilsu Iela 8

Neben geometrischen Mustern und stilisierten Pflanzenmotiven fallen hier die graziösen Frauengestalten am Erker auf.

Merkela Iela 13

Merkela Iela 13

An der Grenze zwischen Altstadt und Parkring steht in der Merkela Iela 13 das Vereinshaus der Rigaer Letten, das 1909 nach Plänen von E. Pole und E. Laube errichtet wurde. Die Fassade ist viel schlichter und wird im Grunde nur von drei mosaikartigen Zierflächen des bekannten lettischen Malers Janis Rozentals geschmückt.

Merkela Iela 13 (Detail)

Merkela Iela 13 (Detail)

Bereich Elizabetes Iela / Alberta Iela

Im Neustadtbereich häufen sich die Jugendstilbauten in der Elizabetes Iela und ihren Seitenstraßen.

Das in fast allen Reiseführern als Musterbau des Jugendstils angeführte und abgebildete Haus Elizabetes Iela 10b hat mit 9 Fensterachsen eine ungewöhnliche Breite - es stammt wie auch das recht Nachbargebäude (s.u.) von M. Eisenstein. Überwältigend sind die Fülle der Formen und die überdimensionalen Köpfe.

Elizabetes Iela 10 b

Elizabetes Iela 10 b

Eine Aufnahme des gesamten Komplexes muß mangels Entfernung selbst für Weitwinkelobjekte scheitern, daher habe ich 3 Teilfotos mit PTGui aneinandergesetzt.

Erkerachse des Hauses Elizabetes Iela 10b

Erkerachse des Hauses Elizabetes Iela 10b

Dachabschluss (rechts) Elizabetes Iela 10b

Dachabschluss (rechts) Elizabetes Iela 10b

Eingangsbereich Elizabetes Iela 10 b

Eingangsbereich Elizabetes Iela 10 b

Architekt Michael Eisenstein

Architekt Michael Eisenstein

"Die originellsten Schöpfungen dieser Übergangsphase stammen von Michail Eisenstein (1867-1921), Vater des als Filmregisseur berühmt gewordenen Sergeij Eisenstein. Er entwarf u.a. auch sechs Mietshäuser in der Alberta iela, an deren Fassaden er ein wahres Panoptikum der Dekorationskunst entfaltete. Die Architektur dieser Gebäude verschwindet gewissermaßen hinter einem Vorhang aus üppigen Ornamenten. Zwischen das Formenwirrwarr aus unterschiedlichsten Bauepochen und Kulturräumen mischen sich Motive des Jugendstils: flache Reliefs, stilisierte Pflanzenformen und linear-abstrakte Muster. Eisenstein trieb den inflationären Gebrauch des Bauschmucks und die Prachtentfaltung an den Häuserfassaden auf die Spitze - eine Steigerung war nicht mehr möglich, die Sackgasse somit beschritten. Anzeichen für einen Neuansatz lassen sich auch bei ihm, der im großen und ganzen den Prinzipien des Historismus verpflichtet blieb, an einigen Mietshäusern in der Albertstraße ausfindig machen. Dazu gehören die ungewöhnlichen Fensterformen mit feiner Binnengliederung, die Strukturierung der Fassaden durch unterschiedliche Baustoffe oder Farben sowie die Konzentration des Ornaments auf bestimmte Wandpartien, die mit schmucklosen Wandflächen kontrastieren." (Zitat aus Baedeker Baltikum)

Strelnieku Iela 4a

Strelnieku Iela 4a

Ein weiteres Gebäude von Eisenstein unterstreicht die Ausführungen des Baedekerartikels über den Rigaer Jugendstil.

Strelnieku Iela 4a (Detail)

Strelnieku Iela 4a (Detail)

Strelnieku Iela 4a (Detail)

Strelnieku Iela 4a (Detail)

Alberta Iela 13

Alberta Iela 13

Und noch ein weiteres Gebäude von Eisenstein beeindruckt durch die üppige Bandbreite an bildhauerischen Detailmotiven: Alberta Iela 13 (Ecke Strelnieku iela)

Alberta iela 13 (Detail)

Alberta iela 13 (Detail)

Alberta Iela 13 (Detail)

Alberta Iela 13 (Detail)

"Peksens hatte als einer der ersten lettischen Baumeister eine akademische Ausbildung genossen. Verglichen mit Eisensteins Prachtbauten wirken seine Fassaden fast schmucklos und nüchtern. Eisenstein gebrauchte die Formen des neuen Stils nur dekorativ, Peksens dagegen versuchte, die Konstruktion eines Hauses an seiner Fassade anschaulich zu machen und das Ornament von seiner Funktion her zu entwickeln. In der Alberta Iela errichtete er sich sein eigenes Wohnhaus (Nr. 12), in dem von 1904 bis 1916 der berühmte lettische Maler Janis Rozentals wohnte. Peksens' Einfluss auf die nächste Generation der Rigaer Jugendstilarchitekten war groß, viele junge lettische Baumeister, so auch Eizens Laube und Aleksandrs Vanags, arbeiteten eine Zeit lang in seinem Atelier, bevor sie sich selbstständig machten." (Zitat aus Baedeker Baltikum)

Alberta Iela 12 - Architekten:  K.Peksens und E. Laube

Alberta Iela 12 - Architekten: K.Peksens und E. Laube

Wir hatten das Glück, in dieses Haus einmal hineingehen zu können, so dass wir die Ausstattung der Eingangshalle und die Ausgestaltung des Treppenhauses im Jugendstil bewundern konnten.

Alberta Iela 12 (Eingangsbereich)

Alberta Iela 12 (Eingangsbereich)

Alberta Iela 12 (Treppenhaus)

Alberta Iela 12 (Treppenhaus)

Die Nachfolger der ersten Generation von Jugendstil-Architekten, die die weitere Entwicklung des Jugendstils in Riga maßgeblich mitbestimmten, entdeckten die Nationalromantik wieder. "Steile Giebel, mittelalterliches Fachwerk, runde Erker und massige Ecktürme rhythmisieren die Fassaden, Dachreiter und Gaubenfenster beleben die Dachlandschaften dieser Häuser. Die in dickem Quadermauer- oder Bruchsteinmauerwerk ausgeführten Erdgeschosszonen vermitteln den Eindruck von Bodenständigkeit und Gediegenheit. Besonders schöne Beispiele für diesen Häusertyp findet man in der Brivibas und in der Alberta Iela." (Zitat aus Baedeker Baltikum)

Albert Iela 11 (Nationalromantik)

Albert Iela 11 (Nationalromantik)

Wir können nicht alle Jugendstilbauten dieses Stadtviertels in Wort und Bild vorstellen, dies würde den Rahmen absolut sprengen. Daher verlassen wir dieses Stadtviertel und begeben uns auf die Verlängerung der Ausfallstraße hinter dem Freiheitsdenkmal

die Brivibas Iela und ihre benachbarten Straßen.

Brivibas Iela 47 - Archtitekt E. Laube (Nationalromantik)

Brivibas Iela 47 - Archtitekt E. Laube (Nationalromantik)

Brivibas Iela 47 (Detail)

Brivibas Iela 47 (Detail)

Terbatas Iela 15

Terbatas Iela 15

Das öffentliche Gebäude in der Terbatas Iela 15 - die Schule A. Kenins (Pädagoge, Literat und Verleger) stellt ein recht ungewöhnliches der nationalromantischen Bauweise dar. Die Fassade wird bestimmt durch Farbwechsel (Wechsel der Baumaterialien) und durch abgeschrägten Fenster und dazu angepaßte Gaubenformen.

Brivibas Iela 55 - 'Büngnerhof'

Brivibas Iela 55 - 'Büngnerhof'

Ebenfalls in der Brivibas Iela liegt das als 'Büngnerhof' bekannte Haus der Rigaer Baugesellschaft, das nach Plänen des Berliner Architekten Albert Gieseke unter Aufsicht von W. Neumann 1900 erbaut wurde. Die gestalterischen Elemente kamen in variierter Form bei vielen Bauten späterer Jahre zur Anwendung.

Zahlreiche Holzhäuser aus dem 18.- 19. Jahrhundert - meist zweistöckig - haben die Zeit überlebt und werden zwischen höheren Gebäuden weiterhin genutzt und sind z.T. wieder gut restauriert worden.

In den Außenbezirken kann man diese Häuser noch häufiger antreffen, sie werden hier je nach baulichem Zustand dem Verfall preisgegeben oder noch bewohnt. Hier kann man dann vereinzelt auch noch Jugendstilhäuser kleinerer Bauart finden, die (noch) nicht restauriert sind.

Leider war die Zeit zu knapp, um hier einmal auf Entdeckungsjagd zu gehen. Dies kann man aber auch von einer organisierten Reise nicht erwarten, obwohl wir Glück hatten und unsere Vorstellungen freier Besichtigung unseres Schwerpunktes Jugendstil durchführen konnten.
Am nächsten Tag heißt es 'Aufbruch' in das dritte baltische Land. Von Tallinn berichtet das nächste Kapitel.

© Herbert S., 2006
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Über die Via Baltica auf Kurzbesuch in Vilnius (Litauen), Riga (Lettland) und Tallinn (Estland). Schwerpunkt ist die Jugendstil-Architektur in der ehemaligen Hansestadt Riga.
Details:
Aufbruch: 03.07.2006
Dauer: 10 Tage
Heimkehr: 12.07.2006
Reiseziele: Litauen
Lettland
Estland
Der Autor
 
Herbert S. berichtet seit 18 Jahren auf umdiewelt.
Reiseberichte von Herbert sind von der umdiewelt-Redaktion als besonders lesenswert ausgezeichnet worden!
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