Apfelblüte am Titicaca-See
Der Inka-Galgen
Mein erstes Ziel ist der so genannte Inka-Galgen. Die Spanier dachten an nichts anderes als morden, rauben, plündern und brandschatzen. So sahen sie in einer raffinierten meteorologischen Messstation für Erdbewegungen einen Galgen, mit dessen Hilfe man Delinquenten aufknüpfte. Der spanische Name hat sich fälschlicherweise eingebürgert. Dieses ganz erstaunliche Bauwerk stammt aus der Churippi Kultur und wurde von den Inkas nach deren Unterwerfung übernommen. Dort arbeiteten einst Wissenschaftler und Priester gleichermaßen, suchten und fanden Antworten auf religiöse und wissenschaftliche Fragen. Die Spanier behaupteten, den "primitiven und verwahrlosten Indios" den christlichen Glauben bringen zu müssen, um sie vor der Hölle zu retten. In Wahrheit zerstörten sie aus reiner Habgier hoch entwickelte Kulturen in einem beispiellosen Völkermord - für immer.
Der "Inkagalgen" über dem Titicaca See.
Bolivianische Geschichte wurde vor den Spaniern nie schriftlich festgehalten, die Schrift bedeutete den vorangegangenen Kulturen nichts. Doch die Vorfahren hinterließen ihre wunderfernen Kenntnisse und Fähigkeiten in Form von steinernen Kunstwerken, deren Botschaften auch heute noch von jedem Menschen mit wirklichem Interesse zu entziffern sind. Es zieht mich immer wieder an diesen Ort der Kraft, um wie in einem Buch in der Vergangenheit zu lesen, für die Gegenwart zu lernen. Einem Buch mit dem du nie fertig wirst, weil es soviel zu entdecken gibt: etwa das Taufbecken, welches belegt, dass die Inkas lange vor Eintreffen der Spanier Jesus und Gott gekannt haben, die Sonnenuhr, von Menschenhand auf rätselhafte Weise ohne Maschinen bewegte riesige Felsen, die genau nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet sind und vieles mehr.
Der Sonnenaufgang...
... schickt einen Lichtstrahl durch dieses
Loch im Fels...
... der als Lichtbündel auf den "Galgen" projiziert wird. Je nachdem wie der Strahl wandert, ergeben sich Daten für die ideale Zeit zur Aussaat oder zur
Ernte, erhält man auf diverse wissenschaftliche Fragen Auskunft. Auch heute noch!
Hier oben ist nichts natürlichen Ursprungs, alles wurde von Menschenhand geschaffen: ein riesiger Zen- Garten ungewisser Herkunft, zeitlos und schön. Manchmal treffe ich dort oben Ramon Calle, einen Indio, der mir, nachdem er sich meiner guten Absichten vergewissert hatte, sein Wissen weitergab. Oder seinen Sohn Juan, der dort mindestens dreimal die Woche die aufgehende Sonne mit Musik aus seiner Panflöte begleitet. Wie weiß es die kalte Erde, wenn ihr die Sonne im Frühling Blüten aus dem Herzen zaubert? Wie fühlt der große See den Mond, der ihn zu sich zwingt?
Frage des Glaubens? Vom Heiligtum der Ureinwohner geht der Blick hinüber zum
Kalvarienberg, dem christlichen Symbol auf der gegenüberliegenden Anhöhe. Die Spanier zwangen die Indios mit dem Schwert zur neuen Religion.
Nachdem ich meine alte Heimat in Sorata schweren Herzens aufgab erlebte ich lange, einsame Jahre. Hier oben, wo die Sonne im Juli eingefangen und an den Fels gefesselt wird, hörte ich auf, einsam zu sein.
Es ist ein herrlicher Tag heute, keine Wolke zeigt sich am fast schmerzhaft dunkelblauen Andenhimmel während ich schnellen Schrittes und ohne zu ermüden gleichmäßig höher steige. Wo könnte es jetzt schöner sein? Ich habe alle Zeit der Welt, der Weg selbst, der erlebte Augenblick, ist das Ziel. Die Lungen bearbeiten den flüchtigsten Stoff der Erde: die ein- und auszuatmende dünne Höhenluft. Es ist mir völlig einerlei, wo ich heute ankomme, ich fühle mich ganz aufgehoben. Und meine innere Uhr läuft von ganz alleine in der einzigen Zeit, in der wir alle existieren: im Jetzt. Ich gehe, bleibe stehen wann ich will, staune - atemlos. Die Schöpfung ist ein Wunder, die Erde eine Kirche. Auf einmal gibt es nur noch den Himmel über mir, ich bin am höchsten Punkt angelangt. Möchte ich jetzt mit irgendjemand tauschen? Nein.
Aufbruch: | 18.02.2005 |
Dauer: | 11 Tage |
Heimkehr: | 28.02.2005 |