Reisebericht aus Afghanistan
Ich war als Architekt zwei Mal, indirekt, für die Kreditanstalt für Wideraufbau (KfW) in Afghanistan tätig.
Zu meinen Aufgaben zählte u.a. die Organisation und Durchführung von Wideraufbaumaßnahmen von Schulen und Gesundheitszentren, auch außerhalb der Sicherheitszone der ISAF.
Dabei standen der Aufbau und die Pflege von persönlichen Beziehungen zu Ministerien
und örtlichen Entscheidern (Shura-Mitgliedern) und Dorfbewohnern immer am Anfang eines neuen Projektes.
Ein Reiseagebuch von Igor Schmitz
Über den Iran nach Afghanistan
Der typische Dieselgeruch so vieler Städte Asiens setzt sich mir umgehend in die Nase kaum das ich den Flughafen der Hauptstadt der Islamischen Republik Iran betrete. Neu sind mir nur die Antlitze der Mullahs, die in Großformatigen Bildern, Werbestars gleich, gestreng auf das rege Treiben in den Hallen des Terminals 2 hinunter blicken. Schon in Erwartung dieses Blickes versteckten meine Mitfliegerinnen ihre, eben noch offen getragenen, dunklen schweren Haare, unter Tüchern. Auch die jungen Frauen, die bei meinem Abflug in Köln noch ihre engen, knapp sitzenden Jeans mit darunter hervor blitzenden Tangas so selbstbewusst trugen und mit ihrer jungen Schönheit so sehr kokettierten, können sich diesem Ritual nicht verschließen. Nur das Leuchten ihrer dunklen Augen und ihr verstohlenes Lächeln beim Abschied verraten mir, dass es sich immer noch um die selben Mädchen handeln muss.
So international wie unsere Fluggemeinschaft und das Bordpersonal, so international auch die Beschilderungen im Flughafen und auch später die Orts- und Straßenschilder der großen Durchgangsschneisen durch die Stadt. Überhaupt scheint der internationale Flughafen Teherans inmitten der Stadt zu liegen. Man hat den Eindruck über Minuten hinweg immer tiefer auf die niedriggeschossige Bebauung, durchsetzt von wild-flackernder Leuchtreklame, herab zustürzen. kurz bevor der Airbus der Iran-Air sicher auf dem Rollfeld niedergeht. An der Gepäckausgabe - trotz gegenteiliger Ermahnungen- holt einer der Orient ein. Männer und Frauen inhalieren bereits am Gepäckband die ersten tiefen Züge ihrer Zigaretten. Da man vor Reiseantritt keine Devisen kaufen kann, bin ich auf die Außenstelle einer der vielen iranischen Banken in der Gepäckhalle angewiesen. Akribisch und mit verbissenen Gesicht verkauft mir der Händler 175.000 Rial für umgerechnet 15 €. Man muss allerdings aufpassen, dass man tatsächlich auch Rial erhält, gibt es doch noch den Toman, die Währung aus der längst vergangenen Shah-Zeit (880 Toman entsprechen 8800 Rial, entsprechen einem Euro).
Man hatte mich gewarnt und doch ist es jedes Mal wieder ein angenehmer Schock für mich zu erleben, wie groß und zahlreich die arabischen Familien sind, die direkt vor der Türe der Ankunftshalle auf die Heimkehrenden warten. Durch diese Masse an Menschenleibern, reichlich bestückt mit modernsten Videokameras und digitalen Fotoapparaten, presse ich mich hinaus auf die kühlen Straßen Teherans, bereits sehnsüchtig von Horden von Taxifahrern erwartet. Der zumeist genannte Erstpreis für den Weg zu meinem Hotel, dass in 25 km Entfernung zum Flughafen liegt, lautet 15$ (zur Erinnerung, 15$ gleich 12€ gleich 150.000 Rial, zu je 100 Dinar, gleich 15.000 Toman). Ein fairer Preis sei 35.000 Rial, so hatte man mir in Deutschland erzählt. Nach fünf Stunden Flug steht mir der Kopf zwar nicht wirklich nach Feilschen, aber bei einem mehr als vierfach überteuerten Preis bleibt mir in meiner Ehre wohl nichts anderes übrig, als mehrere Fahrer selber auf Englisch anzusprechen, zu lächeln, zu drohen, witzig zu sein, um schließlich bei einem der Fahrer in der hintersten Reihe der wartenden Aasgeier einen Preis von 40.000 Rial herauszuschlagen. Dieser "Dumpingpreis" soll mich allerdings noch teuer zu stehen kommen. Kaum sind meine 35 kg Gepäck zuzüglich 15 kg Handgepäck sicher verstaut, ich selber habe unbequem auf der Rücksitzbank Platz genommen- ein Affront, sitzen doch die feineren Herrschaft im arabischen Kulturraum immer Vorne- die obligatorische Aufnahme einer Boney M-CD eingelegt, da beginnt mein Fahrer doch gleich über den Wertverfall der iranischen Währung zu lamentieren. "Only paper, only paper, Dolli mutch more betti", so beginnt er. Er müsse doch schon 15.000 Rial fürs Parken zahlen, das Benzin sei viel zu teuer und überhaupt sei alles nach dem Sturz des Schah-Regimes 1979 viel schlechter geworden. Unter solchen und ähnlichen Verwünschungen geht es durch die immer noch sehr volle Stadt, immer großen mehrspurigen und gut ausgebauten Schnellstraßen folgend bis zu meinem Hotel. Das Hotel Amir entpuppt als ein Mittelklassehotel mit Zimmerpreisen ab 60$ Übernachtung/ Frühstück, der Pass wird beim Einchecken einbehalten. Mein Hinweis, dass ich bereits um 3.30 Uhr Ortszeit, 1.00 Uhr MEZ, das Hotel wegen meines Weiterflugs nach Mašhhad schon wieder verlassen müsse, ich um diese Uhrzeit aber bestimmt noch kein Frühstück bekommen könnte, oder?, auch dieser Hinweis drückt den Preis nicht.
Nach einer sehr ruhigen, aber auch viel zu kurzen Nacht geht es, wieder mit dem Taxi und wieder mit dem selben Palaver den Preis betreffend zurück zum Flughafen, diesmal zum Terminal 2, dem Terminal für Inlandsflüge. Das Chaos hier kennt trotz der frühen Morgenstunde, bis 4.00 Uhr (1.30 Uhr MEZ) muss ich eingecheckt sein, keine Grenzen. Beim Durchschreiten der Sicherheitsschleuse kommt es zum Gau. Ich werde aufgefordert meine Koffer zu öffnen und der Beamte greift zielsicher in einen der beiden Koffer und zieht meine kleinen Flaschen mit Schnaps heraus. "There is problem, Mister!" Ich war ja vorgewarnt gewesen, was das Betreten des iranischen Hoheitsgebietes angeht, wähnte mich aber an diesem Morgen sicher. Zu früh gefreut. "There is problem, Mister!", sprachs und dreht ab um sich mit einem seiner Vorgesetzten zu besprechen. Kurz darauf taucht der selbe junge Mann mit kaum sichtbaren Flaum am Kinn wieder auf. Jetzt muss ich auch noch den anderen Koffer öffnen. Wieder dieser zielsichere Griff in eine der Seitentaschen meines Koffers, ein beherztes Zugreifen und zutage tritt mein Leatherman. "There is problem, Mister!". Der junge Mann schaut mich erwartungsvoll an, zögert einen Moment mit einem gewinnenden Lächeln, hält mir das gefundene Werkzeug unter die Nase und nickt mir aufmunternd zu. Der Preis ist mir dann aber doch zu hoch, weiß ich doch, dass über Umwege in Westafghanistan russischer Vodka aus Turkmenistan, unter Mühen zwar, zu besorgen ist. Vodka der blind machenden Sorte und kein guter Cognac, aber der Leatherman wiegt schwerer.
Mašhhad wird zehn mal am Tag von mehreren iranischen Fluggesellschaft angeflogen. Auch gibt es eine gut ausgebaute Eisenbahnverbindung zu dieser, für Pilger und Expats wie mich, gleichsam wichtigen Stadt, dem Eingangstor nach Westafghanistan. Der Flug ist kurz, der Flieger, von seiner 50er Jahre Resopalverkleidung und einem unerklärlichen Klappern an allen Ecken dieses Flugzeuges einmal abgesehen, vertrauenserweckend, die gemischt-geschlechtliche Crew freundlich und sichtlich bemüht. Das Frühstück aus Safranreis mit Fetakäse, einem süßen Brötchen, Kaffe, Tee, Wasser oder Zam Zam (der iranische Cola, die tatsächlich auch so schmeckt) tut gut an diesem frühen Morgen in meiner vollbesetzten Maschine. Sogar das junge Pärchen vom Check-In-Schalter, turtelnd und miteinander schmusend ist mit an Bord, den gestrengen Blicken der uns begleitenden Mullahs lächelnd ihre Verliebtheit entgegensetzend. Die Landung hingegen ist unfreundlich, da der Pilot sich durch eine Wolkendecke von geschätzten 8 km Stärke kämpfen muss, den Turbulenzen hilflos ausgeliefert und sich, mal langsam mal schneller fallend, der Landebahn anzunähern sucht. Der dichte Nebel lichtet sich erst zehn Meter über dem Rollfeld, was man von den zur Verfügung gestellten Brechbeuteln nicht behaupten kann. Der erleichterte Applaus der Fluggäste für den Flugkapitän an dieser Stelle ist durchaus gerechtfertigt, auch wenn es seine afghanischen Berufskollegen, dank des Fehlens von Landeleitsystemen in ihrem Land, oft um ein vielfaches schwerer haben. Außen herrschen Temperaturen von 5 Grad Celsius, Nieselregen geht runter, doch mein Haar hält.
Mašhhad, auf deutsch Meschhed ist die Provinzhauptstadt Chorasn´s, dem "Land der Sonne". Die Stadt liegt 800 km östlich von Teheran, nahe dem Länderdreieck Iran, Afghanistan und Turkmenistan. Zu den Sehenswürdigkeiten Mašhhad´s gehört die Grabmoschee des Imam Resa aus dem frühen 9. Jahrhundert. Als eine von den schiitischen Muslimen als heilige Stätte verehrten Heiligtümer, zieht sie jedes Jahr zahlreiche Pilger in die Zweimillionen-Stadt. Mašhhad ist die Zweitwichtigste Pilgerstätte der Schiiten. Wichtigste ist Kerbela im Irak, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und 90 km süd-westlich von Bagdad gelegen. Bekannt sind sehr wahrscheinlich die Bilder, die während der jährliche Trauerfeier zu Ehren des Enkels des Propheten Mohammeds und dritten Imams Husain Ibn Ali Ibn Abi Talib gezeigt werden. Hier bekunden imamitische Männer häufig ihr Mitleid, indem sie ihren Körper geißeln und ihre Stirn mit Rasierklingen aufritzen.
Weitere Gräber der Imame sind Nedschef im Irak und Qom im Iran, das nach Errichtung der Islamischen Republik Iran 1979 die Schia, zu der sich die Schiiten bekennen, zur offiziellen Religion erhoben hat. Zur Absplitterung der Schiiten von der islamischen Urgemeinde kam es nach dem Tod Mohammeds des Propheten im Jahr 632. Er stellte die junge islamische Gemeinde vor schwere Probleme, die zum Bürgerkrieg und zur ersten großen Spaltung der Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, führten. Die ersten vier Nachfolger Mohammeds in der Leitung der Umma, die vier "rechtgeleiteten Kalifen", waren alle Gefährten des Propheten gewesen. Erster Kalif wurde Abu Bakr, der Vater von Mohammeds junger Frau Aischa. Auf ihn folgte Omar (634-644), der wie Abu Bakr zu den engsten Ratgebern Mohammeds gehört hatte. Dieser errang zwei entscheidende Siege, die den Islam auf den Weg zur Weltmacht brachten: im Westen am syrischen Fluss Yarmuk gegen Byzanz und im Osten gegen Persien. Nach seiner Ermordung durch einen Sklaven bestimmte ein Wahlgremium Othman aus dem Stamm der Omaijaden, einen Schwiegersohn Mohammeds, zum Nachfolger, wogegen Ali ibn Abi Talib - der Vetter Mohammeds und mit dessen jüngster Tochter Fatima verheiratet - Widerspruch erhob. Othman wurde 656 ermordet und Ali zu seinem Nachfolger (656-661). Ihn lehnte jedoch der Statthalter Syriens, der Omaijade Muawija ab; auch Aischa stellte sich gegen ihn. Es kam zum Bürgerkrieg, doch bevor eine Entscheidung gefallen war, wurde Ali 661 ermordet. Damit war der Weg frei für Muawija, der sich schon 660 zum Kalifen proklamiert hatte.
Die Parteigänger Alis unterwarfen sich jedoch nicht, sondern bildeten die Schiat Ali, die Partei oder Gruppe Alis, und werden deshalb als Schiiten bezeichnet. Ihnen zufolge hat Mohammed kurz vor seinem Tod Ali in die inneren Geheimnisse des Glaubens eingeweiht und zu seinem Nachfolger bestimmt. Der Imam als Führer der Gläubigen und wahrer Interpret des Koran muss ein Nachkomme Alis sein. Wegen dieser besonderen Rolle des Imams werden die Schiiten auch Imamiten genannt. Der Tod von Alis Sohn Husain bei Kerbela besiegelte das politische Scheitern der Schia, sie wurde nun zu einer oppositionellen Partei mit religiös-mystischen Zügen. Heute sind etwa 10 Prozent der Muslime Schiiten, die übrigen 90 Prozent werden Sunniten genannt
Ich stehe nun bereits das zweite Mal innerhalb von nicht einmal 24 Stunden außen vor einem mir unbekannten Flughafen, in einem mir unbekannten Land. Ich weiß nur, dass ich mir nun ein Taxi suchen muss, dass mich die fast 200 km lange Strecke zur iranisch-afghanischen Grenze zu bringen bereit ist. Der Flughafen Mašhhads liegt etwas außerhalb der Stadt, ist klein und sauber und spuckt, neben meinen Flugkameraden, weitere Menschen aus weiteren Maschinen in die kleine unterkühlte Halle. Es ist unnötig zu erwähnen, dass all diese Menschen, sofern nicht von inzwischen schon bekannten Horden von Familien- und anderen Angehörigen mit privaten Autos abgeholt, alle diese Menschen Taxen in die heilige Stadt der Schiiten benötigen.
Nur ich nicht. Mein Weg soll mich über Fariman, Tayebad nach Dogaroon, dem iranisch-afghanischen Grenzposten führen, hindurch durch die nebelverhangene Wüstenlandschaft immer auf der gut ausgebauten Autobahn. Ein Taxifahrer ist wieder Erwarten schnell gefunden, der Preis von 30 US$ angemessen und mein schweigsamer Chauffeur damit einverstanden irgendwo entlang der Strecke für ein verspätetes Frühstück zu stoppen. Nur das ich kein offizielles Taxi erwischt habe. Um die Kosten für die Autobahnmaut einzusparen benutzt mein Fahrer die Landstraße, ebenso wie die meisten vollbeladenen LKW, mit denen wir uns so diese teilen. Der Nebel ist zwischenzeitlich so dicht geworden, dass sich minder- bis mittelgroßen Unfälle entlang der Route mehren. Mehrfach kann der Fahrer erst im letzten Moment einer aufgetürmten kleinen Steinpyramide ausweichen, die hier, anstelle von Warndreiecken, die folgenden Fahrzeuge auf einen nahenden Unfall aufmerksam machen sollen.
So nähern wir uns langsam dem unwirklichen Grenzeposten Afghanistans, wo mich jemand aus dem Herater Büro erwarten soll. Zuerst aber geht es mit dem Taxi durch einen Checkpoint, den wir, eine "weiße Nase" macht's möglich, ungehindert passieren können, bevor ich samt Gepäck auf die Lehmpiste im Niemandsland zwischen die beiden Staaten entlassen werde. Ich habe mich selten in meinem Leben so einsam gefühlt wie an dieser Grenze. Meine Habe auf drei Koffer verteilt, der Sprache nicht mächtig, also weder Neupersisch (Farsi, der Amts- und Kultursprache Irans, das in einer um vier Buchstaben erweiterten arabischen Schrift geschrieben wird) noch Dari, wie die persische Sprache in Afghanistan heißt, kein Telefon zur Hand und nicht wissend wie es von hier aus weiter geht. Dafür aber sofort von mehreren Trägern umringt, die sich anbieten mein Gepäck die ca. 600 m lange Strecke mit ihren quietschenden Handkarren zu dem hier unglaublichen Preis von 15.000 Rial (ca. 1,70 €) befördern zu wollen. Hab ich eine Alternative?. Ich heuere einen der Träger an, der beginnt mein Gepäck aufzuladen um mich anschließend das letzte Stück, in Sandalen durch die Pfützen der total aufgeweichten Strasse, zu geleiten.
Unwirklich ruhig ist es, nur ab und zu vom Geräusch der sich langsam drehenden Räder des Karrens unterbrochen. Vor dem Grenzhäuschen des afghanischen Zolls erwartet mich eine große Menschentraube, alle auf Einreisestempel in ihren Pässe wartend. Hier stehen Männer in traditioneller afghanischer Kleidung, großen Turbanen und langen wilden Bärten ebenso, wie ihre in Burqas eingehüllten, meist in Gruppen hockenden Frauen, die besser gekleideten iranischen Geschäftsleute in ihren billigen Kunststoffanzügen und einige zerlumpte Kinder, auf eine Gelegenheit wartend das Gepäck von den Trägern in Empfang nehmen zu können und für 2 - 3 Afghani (ca. 5 Cent) zu bewachen. Die Stimmung ist gereizt, wie überall wo Menschen der Willkür anderer ausgesetzt sind, hier der Willkür der afghanischen Behörden, die mit ihrer Zustimmung oder Ablehnung über Familienzusammentreffen, Geschäftsabschlüsse oder einfach nur der Heimkehr von Kriegsflüchtlingen in ihre alte Heimat entscheiden.
Mein Gepäck wird abgeladen und ich begebe mich mit dem mulmigen Gefühl es unbeaufsichtigt lassen zu müssen in den einfachen Lehmziegelbau, wo ich meinen Pass durch ein kleines Glasfenster reichen muss, so wie mir ein Afghane freundlich lächelnd zu verstehen gibt. Das Horrorszenarium ist jetzt, Pass weg und Gepäck weg. Beides liegt nicht mehr in meiner Hand. Ich bin meinem Glauben an die Menschen und einem undurchdringlichen Verwaltungsapparat hilflos ausgeliefert, bewaffnet nur mit einem einzigen Schutzmittel, meiner weißen Haut. Und wie sooft in Ländern jenseits der europäischen Außengrenzen, der Schutz wirkt. Während ca. 30 Menschen, die vor mir da waren, auf ihre Stempel noch warten müssen, ertönt der undeutliche Ruf nach einem Mr. Igor. Nachnamen sind im Orient unwichtig, wichtiger, wie beim Antragsformular für das iranische Visum, ist der Name des Vaters. Schnell trete ich anschließend vor die Tür um erleichtert festzustellen, dass mein Gepäck noch vollständig im feuchten Lehm der Strasse auf mich wartet. Wieder ist schnell ein Träger gefunden, der mich die letzten Meter, durch den Schlagbaum hindurch, nach Afghanistan begleitet, wo ich von einem weißen Toyota Allradfahrzeug mit deutscher Fahne, aufaufgeklebt auf die Seitentüren und das erste vertraute Zeichen seit Beginn meiner Reise, erwartet werde.
Ich bin Gott-sei-Dank nicht mehr auf die Lehmpiste angewiesen, die sich weiter südwärts in Sichtweite entlang des Flussverlaufes des Heri-Rud (im Altertum Arius) bewegt. Dem Fluss, der durch Afghanistan, den Iran und Turkmenistan fließt, wo er dann versiegt. Er entspringt im Kuh-i-Baba westlich von Kabul in Afghanistan und fließt nach Westen zur iranischen Grenze. Hier bildet er zunächst die Grenze zwischen Afghanistan und dem Iran, später dann zwischen Turkmenistan und dem Iran. In der Wüste Karakum in Turkmenistan versiegt er eigentlich. Meistens versiegt er jedoch bereits in Herat, wo das Wasser des Flusses zur Bewässerung der Flussoase genutzt wird. In Turkmenistan wird er Tedschen genannt, insgesamt ist er etwa 1130 Kilometer lang.
Los geht es die letzten 150 km durch Westafghanistan auf der, erst vor 2 Monaten mit Hilfszahlungen fertiggestellten asphaltierten Strasse, die den traurigen Grenzort mit Herat verbindet. Waren die Ortschaften im Iran noch gut ausgebaut, die Häuser aus Stein und die Menschen dem Klima entsprechend angezogen, die Frauen im Straßenbild auch als solche, vom obligatorischen Tschador (Hindi: quadratischer Stoff) abgesehen, zu erkennen, so ist der Schritt nach Afghanistan ein kultureller und wirtschaftlicher Meilenstein zurück. Die Straße führt entlang einfacher Lehmsiedlungen, an der Straße liegen immer wieder verlassene und ausgebrannte Panzer, aber am nachhaltigsten hat mich ein verlassenes Flüchtlingslager, das ca. 15.000 Menschen Platz geboten hat, von dieser letzten Strecke zu meinem neuen Arbeitsplatz in Erinnerung geblieben. An eine mittelhohe Bergkette angeschmiegt, fernab jeder Zivilisation, kann man sich nur ganz entfernt vorstellen, was diese Menschen hier haben durchmachen müssen, seit sie ihre Flucht vor Invasoren, fundamentalem Irrglauben und einem verheerendem Bürgerkrieg angetreten sind.
Mit diesen Eindrücken nähere ich mich der grünen Oase Herat, dem Handelszentrum im Nordwesten des Landes, das inmitten einer flachen, staubigen Steppe liegt. Es wird angenommen, dass die heutige, 150.000 Menschen zählende Stadt im 4. Jahrhundert v. Chr. von Alexander dem Großen gegründet wurde. Im 7. Jahrhundert n. Chr. nahmen sie Muslime ein bevor der mongolische Eroberer Tamerlan sie 1381 zu seiner Hauptstadt machte. Sie entwickelte sich daraufhin zum Zentrum persischer Kunst und Bildung. Erst 1749 fiel die Stadt an Afghanistan und ist noch heute im Land bekannt für seine Bildungselite, Miniaturmalereien (wie die bedeutendste Buchmalerei der Timurid-Periode. Diese findet sich im Buch Sah Nameh , ca. 1430 n. Chr. Heute zu sehen im Gulistan Museum, Teheran, und von Baysunghur aus Herat gefertigt), mundgeblasenem blauen Glas, einer funktionierenden Seiden"industrie" und seiner Teppiche, die aus den angrenzenden Provinzen wie Badghis nach Herat geliefert werden. In dieser geschäftigen und erstaunlich aufgeräumten und geordneten Stadt, mit ihrer nahezu unzerstörten Altstadt, werde ich ab Morgen, besser ab Übermorgen, meine Arbeit aufnehmen. Heute möchte ich nur noch schlafen.
Arbeitsalltag
Der halbstündige Flug in der zehnsitzigen und nicht ganz vollbesetzten Propellermaschine durch die sonnige, klare Luft ist sehr angenehm. Die Piloten, beide von Pactech, dem Flugpendeldienst der europäischen Union, der ausschließlich für die Aufrechterhaltung der Aufbauarbeiten von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen in den entlegenen Regionen Afghanistans eingerichtet worden ist, beherrschen ihr Handwerk. Der Flug führte mich über eine surreal anmutende Landschaft. Die Berge, Hügel und Täler erinnern mich an Bilder verschiedener Hollandbesuche am Meer. Man hat den Eindruck, als habe jemand die durch Welleneinfluss entstandene Wattebene der Nordsee, diesen Daumenabdruck der Wasserwellen im sandigen Boden, um ein tausendfaches vergrößert und hierher gebracht. Jetzt im Winter sind die Hügel fast frei von Bewuchs, nur hier und da schimmert ein wenig Gras durch diese nur scheinbar menschenleere, lehmbraune Landschaft, nur aufgelockert durch die dunklen Punkte großer Schaf- und Ziegenherden, die einsam durch die Einöde dieses Landes ziehen.
Hüpfend kommt unser Flugzeug auf der Schotterpiste zum Stillstand. Der Pilot muss vor der Landung eine zusätzliche Runde über der Rollbahn einlegen, um die dort grasenden Ziegen zu vertreiben. Beim Ausstieg sauge ich die saubere und kalte Bergluft tief in mich hinein, leider verpesstet durch die Dieselabgase unseres Landcruisers, der umgehend vor der Bordtüre des Flugzeuges zum Stillstand kommt, kaum hat die Maschine ihre Parkposition erreicht. Einer unserer Fahrer ist gekommen um mich, Dr. Elias und Ulrich abzuholen. Unmittelbar hinter dem Flughafen durchqueren wir den Fluss, den Qal'eh-ye-Now-River, der den Ort, nicht nur geografisch, in zwei verfeindete Stadtteile teilt. Nicht weit von hier befindet sich der Compound der Malteser, meine eigentlichen Arbeitsstelle.
Es ist bereits später Nachmittag des nächsten Tages als die Sonne ihre letzten wärmenden Strahlen des Tages auf die teils Schneeverhangene Kulisse des Paropamisus-Gebirges, einem Gebirgsausläufer des Hindukushs, wirft. Vor einigen Minuten hat der Muezzin (arabisch mu'adhdhin), die Gläubigen mit seinem Ruf "Allah ist der Größte. Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah." zum vierten Gebet des Tages gerufen. Schade nur, dass auch hier der elektrische "Fortschritt" Einzug gehalten hat in Form von Kassettenrekordern, deren Hallverzerrte Stimmen, die des Muezzin ersetzt haben. Wie wohltönend muss es gewesen sein, als noch Menschen, oft Blinde, die Aufgabe des Muezzin inne hatten. Blinde wurden für diese wichtige Gemeindeaufgabe gerne ausgewählt, weil diese naturgemäß von ihrem erhöhten Ausguck auf den Minaretten keinen Blick auf die Frauen in den umliegenden Wohnhäuser werfen konnten.
Es ist kurz nach Feierabend, die meisten der 20 einheimischen Angestellten haben bereits den Compound der Malteser verlassen. Nur die Wächter, sehnsüchtig auf ihre Ablösung durch ihre unbewaffneten Kollegen um sechs Uhr wartend, sitzen noch in ihren kleinen Bretterverschlägen, leise Teewasser auf ihren kleinen, gasbetriebenen Heizstrahlern kochend. Auf den winzigen Basaren der Stadt verpacken die Händler ihre Waren sicher für die aufziehende Nacht, die einfachen Holzverschläge der eingeschossigen Lehmbauten mit ihren runden Kuppeldächern fest verschließend. Nur noch wenige Menschen bewegen sich, oft nur mit Sandalen an den Füßen bekleidet, durch den tiefen, kalten Morast der Straßen; zu Fuß, auf Eseln reitend oder ihre Waren auf den hier typischen Pferdekutschen transportierend, die mit ihren buntschillernden Verzierungen und den vielen winzigen, blechern klingenden Glöckchen allgegenwärtig sind. Nur einige wenige Drogenbarone, Bezirksvorsteher, Governor genannt, und Warlords können sich in dieser Gegend ein Auto leisten. Die Menschen sind auf dem Weg nach Hause um mit den Vorbereitungen für ihr einfaches Nachtmahl zu beginnen. Ruhe, nur Unterbrochen durch das Bellen vereinzelter Hunde, und eine mit der Nacht aufziehend bittere Kälte breiten sich über die Stadt aus.
Ich setze mich in einen der Toyota Land Cruiser um von den umliegenden Hügeln der Stadt aus einen ersten Überblick über den in tiefem Schlamm versinkenden Ort zu bekommen. Nur mit 4-Rad-Antrieb ist der kurze Weg die 60 Meter Anhöhe hinauf zu schaffen. Hinauf auf den sanft-gerundeten Hügel, von dem aus die Einwohner der Stadt einen so wundervollen Blick auf unseren Compound, meist jedoch auf die Expertinnen die hier arbeiten, zu erhaschen suchen. Auf seiner Kuppe, in der ansonsten leeren Landschaft, steht ein einzelner Baum direkt neben dem Grab eines unbekannten Toten, der von hier Oben einen wunderbaren Ausblick auf die Stadt genießen kann. Vor mir liegt Qal'eh-ye-Now.
Qal'eh-ye-Now, die Hauptstadt der Provinz Badghis, in 120 km Luftlinie von Herat (25 km von Taraki) und 50 km von der Turkmenischen Grenze, entfernt. In der Stadt leben ungefähr 25.000 Einwohner, in der gesamten Provinz Badghis mit einer Gesamtfläche vergleichbar der Hessens ca. 550.000 Einwohner.
Sieht man sich die Verteilung der vier wichtigsten Städte Afghanistan auf einer Landkarte an, dann fällt auf, dass sie sich in Form einer Raute über das Land verteilen. Im Norden Mazār-e Sharīf, die Stadt die Gründungsort der Nordallianz war, dem lockeren Bündnis von Gegnern der Taliban. Im Westen Kabul, der Hauptstadt des Landes. Im Süden Kandahār, das der Legende nach von Alexander dem Großen gegründet worden sein soll und das Hauptquartier der Taliban in der Zeit zwischen 1992 und Dezember 2001 war. Im Westen dann Herat. Diese vier Städte sind untereinander durch eine Ringstraße, den Hindukush weitesgehend umgehend, miteinander verbunden. Qal'eh-ye-Now liegt auf dem Stück der Aorta, dass Herat mit Mazār-e Sharīf verknüpft. Es gehört nicht viel Fantasie dazu sich vorzustellen, wie es um ein Land bestellt ist, dessen wichtigste Lebensader, also auch zwischen Herat und Mazār-e Sharīf, während drei bis vier Wintermonaten nur erschwert zu bereisen ist, bzw. wie wichtig es ist, dass diese Straße für Menschen und Güter frei passierbar ist.
Ruhig liegt die schachbrettartig angelegte Stadt da. Die am Verkehrsaufkommen gemessen viel zu breiten Straßen sind vollkommen verlassen. Lehmbraun und eine schmutziges Weiß sind die dominierenden Farben, nur wenige grüne Nadelbäume durchmischen den Ort. Vereinzelt kann man kleinere Ansammlungen schlanker, hoher und silbernschimmernder Bäume ausmachen. Diese Bäume werden einer Tradition gemäß bei der Geburt eines Sohnes vom Vater des Sprösslings gepflanzt, damit der Sohn, wenn er selber geheiratet hat, genügend Bauholz für das neue Heim der jungen Familie vorfinden kann. Nicht aus Umweltschutzgründen, sondern schlichter Mangel an Bäumen und Wäldern in dieser kargen Gegend, führte zu dieser Tradition. Weiter weg fällt mir der beliebteste Picknickplatz der Bevölkerung Qal'eh-ye-Now´s, ein Hain mit Pistazienbäumen ins Auge, dessen Früchte mit die wichtigste Einkommensquelle der Menschen hier darstellen. Heute liegt er verlassen dar. Man sieht ihm nicht an, dass im letzten Jahr im Kampf um die besten Ernteplätze 20 Menschen ihr Leben bei Schießereien gelassen haben. Auf den, den Ort umgebenen Hügeln kann man immer noch die verlassenen Geschützstellungen ausmachen, deren "herausragende" Position, die Beherrschung der Stadt so einfach machte. Verschiedener Orts steigen schmale Rauchfahnen aus den meist einfachen Häusern, in denen mitunter zehn bis fünfzehn Familienangehörige wohnen. Bis zum Jahr 2002 war für sie das nächstgelegene Krankenhaus in Herat, zehn Autostunden oder zwei Tagesreisen per Esel entfernt.
Die an die Malteser gestellte Aufgabe in Badghis seit 2002 ist die Errichtung eines Gesundheitssystems in dieser aus sieben Distrikten bestehenden Provinz im Nord-Westen Afghanistans. De facto teilten sie sich diese Aufgabe mit BRAC, einer anderen Nichtregierungsorganisation (NRO oder NGO) aus Bangladesh. Genauer umschreiben bedeutet das, dass die Malteser für das Gesundheitssystem in vier Distrikten zuständig sind (und damit ca. 350.000 Menschen), BRAC in drei Distrikten. Der organisatorische Aufbau des Gesundheitssystems umfasst den Bau, die Einrichtung und den Unterhalt der Einrichtungen (Medikamente, Brennstoff, Bürobedarf etc.) ebenso wie die Anstellung, die Ausbildung und Bezahlung des dafür benötigten lokalen Personals. Dafür wird zur Zeit ein Provinzkrankenhaus in Qal'eh-ye-Now weiter ausgebaut, ein Distriktkrankenhaus in Qades und zehn weitere Basisgesundheitseinrichtungen in den verschiedenen zu betreuenden Distrikten. Seit dem tödlichen Anschlag auf die Mitarbeiter von Medcins sans Frontiere (MsF) in Qades, einem der von den Maltesern betreuten Distrikte Badghis´, war es für Expats nicht mehr sicher genug in Qal'eh-ye-Now zu bleiben. Auch die Malteser kapitulierten vor der Gewalt und zogen sich solidarisch mit MsF nach Herat zurück, im Konvoi mit anderen NGOs und unter Begleitschutz des amerikanischen Militärs. Seitdem wird das gesamte Projekt, bis dahin von deutschen Ärzten und Pflegern betreut, in einer Art Fernbedienung betreut, also durch Kontrolle einheimischer Supervisoren. In Realität heißt das nichts anderes, als dass seit einem halben Jahr, keine Weißnase mehr einen Fuß für länger als einen Tag in das Krankenhaus gesetzt hat, geschweige denn in die Basisgesundheitseinrichtungen. Dies soll sich nun durch eine erste "Expedition" von drei Fachkräften ändern. Das Erkundungsteam besteht aus Dr. Elias, als medizinischen Koordinator, Ulrich, als Architekt und Sicherheitsbeauftragtem der Malteser in Westafghanistan zuständig für Schulbauprojekte und baulichen Maßnahmen am Krankenhaus, und mir, neuem Programmverantwortlichem für das Gesamtprojekt. Ich soll beratend, in allen Fragen des Managements des Krankenhauses und der Bauprojekte, den beiden anderen zur Seite stehen.
Es ist früher Morgen. Um sieben hat der Wecker geklingelt. Noch verschlafen, aber nach einer erholsamen Nacht, die nur von vereinzelt kläffenden Hunden und dem Ruf des Muezzin um halb fünf rüde unterbrochen worden ist, gehe ich über den Hof Richtung Badezimmer. Gott-sei-Dank hat der Nachwächter die Gasheizung bereits eingeschaltet, nur der geflieste Steinboden ist immer noch kalt. Die warme Dusche weckt die Lebensgeister, holt mich aber auch wieder zurück in meine Realität, die ich hier in Afghanistan lebe. In Qal'eh-ye-Now fällt das Frühstück in der nachtkalten Küche, dank fehlenden Angebotes, noch dürftiger aus als in Herat. Üblicherweise gibt es Nescafé oder Tee mit Nan (Fladenbrot) und Eiern in jeder erdenklichen Variante: gestern Rührei, heute Pfannkuchen und morgen Spiegelei und übermorgen wieder Rührei etc.. Das Einerlei ruft in jedem von uns Heißhunger auf all die Dinge wach, die eben hier nicht zu bekommen sind. Überhaupt dreht sich manches Gespräch um die, oft als solche empfundenen "Mangelerscheinungen" wie Wurst, Alkohol oder Brot.
Gegen acht Uhr geht es, wieder gemeinsam, die 30 Meter hinüber ins Büro. Habe ich erwähnt, dass auch das kalt ist? Entlang geht es lehmverputzter, fensterloser Grundstücksmauern von bis zu fünf Metern Höhe. Wovor fürchten sich die Menschen eigentlich so sehr, dass sie sich selber so einkasernieren? Nur augenfällige Zeugnisse von frisch verrichteter Notdurft entlang der Mauern bezeugen die Anwesenheit von Menschen.
Der Arbeitstag beginnt, wie immer, mit einem Teammeeting bei einer heißen Tasse grünem Tee und eingemümmelt in unsere dicken Daunenjacken. Dr. Elias, unser äthiopischer Arzt und Medizinischer Koordinator für das gesamte Projekt, wartet immer noch auf die Jahresabschlussberichte unsere sechs lokalen Supervisoren zu: Die zehn häufigsten Todesursachen im Provinzkrankenhaus. Für Kinder unter 15 Jahren sind die Daten bekannt. In der Reihenfolge der Häufigkeit ihres Auftretens sind dies: Hirnhautentzündung, Andere Krankheiten, Lungenentzündung, Durchfallerkrankungen, Hypovolumischer Schock, Tuberkulose, Schussverletzungen (an 7. Stelle!), Bauchfellentzündung, Harnwegsentzündungen, Entzündungen der Brust. Eine relativ häufig auftretende Krankheit ist der Milzbrand. Immer wieder kommen Männer in die Klinik, die an dieser in Europa seltenen Krankheit leiden. Meist sind es jüngere, unverheiratete Männer, die ihren Geschlechtstrieb draußen auf den menschenleeren Weidegründen der Fettschwanzschafe, eben an diesen befriedigt haben.
Milzbrand oder Anthrax, ist eine der am längsten bekannten Krankheiten und trat früher in Form einer Epidemie auf und wird auch heute noch in manchen Regionen der Welt beobachtet. Er kann insbesondere von Rindern, Schweinen, Pferden oder Schafen auf den Menschen übertragen werden, eine Übertragung von Mensch zu Mensch wurde nicht beobachtet. Die Inkubationszeit beträgt zwei bis drei Tage. Beim Menschen gibt es äußere und innere Formen des Milzbrands. Die äußere Form, der Hautmilzbrand, wird vor allem durch infizierte Tierhäute oder -kadaver über Schnitte in der Haut oder Hautabschürfungen übertragen. Dieser vergleichsweise ungefährliche Typ bleibt oft auf die äußeren Symptome beschränkt, der Erreger kann aber auch in den Blutkreislauf gelangen und so zu Fieber, Schüttelfrost, Lymphdrüsenschwellungen und Erschöpfungszuständen führen. Der Kranke hat bösartige Pusteln an exponierten Stellen der Haut, so genannte Milzbrandkarbunkel.
Sehr traurig stimmen mich die erschreckend hohen Zahlen von Frauen, die mit Brandwunden in die Krankenhäuser West-Afghanistans eingeliefert werden. Viele Frauen übergießen sich selbst mit Benzin und entzünden es dann. Frauen und junge Mädchen, die hierin die einzig ihnen verbleibende Fluchtmöglichkeit sehen, einer ungewollten Heirat oder einer Bestrafung seitens ihrer männlichen Familienangehörigen für "Schamloses Verhalten", wie ohne männliche Begleitung auf die Straße zu gehen, zu entgehen suchen. Alleine in Herat waren es im zweiten Halbjahr 2004 über 150 Mädchen und Frauen, die dieser grausigen Selbstverstümmelung den Vorzug vor einer eventuellen Bestrafung gegeben haben. Genauso schrecklich sind die Verletzungen, die Frauen sich aus den genannten Gründen selber zufügen, wie das Schlucken von Glasscheiben oder Rasierklingen, Nadeln oder ähnlichem.
Uli, Architekt und Sicherheitsbeauftragter der Malteser in Herat und Badghis, schlägt sich immer noch mit einer Baufirma herum, die bereits für Ende September die Fertigstellung einer Schule in einer der Distrikte zugesagt hatte aber auch heute noch nicht, Januar des Folgejahres, die Arbeiten fertig gestellt hat.
Die allgemeine Sicherheitslage erlaubt es nach wie vor nicht, dass Expats die Projekte in den einzelnen Distrikten besuchen und damit sinnvoll beaufsichtigen können. Dies hängt nach wie vor u.a. mit den Auswirkungen der im Juli 2004 fünf ermordeten Mitarbeiter von Medcins sans Frontiere (MsF) in Qades, im gleichnamigen Distrikt, zusammen. Die Mörder werden bis heute von den zuständigen Gouverneuren gedeckt. Es geht das Gerücht um, dass der, durch die Regierung in Kabul abgesetzte, Gouverneur Qades´ mit dem Mordauftrag nichts anderes bezweckte, als seinem Nachfolger deutlich machen zu wollen, dass dieser nicht für ein sicheres Arbeitsumfeld für NGOs sorgen könne. Nur er könne das. Die Mörder laufen noch Heute frei rum, ihre Namen sind bekannt und manchmal sind sie in Qal'eh-ye-Now auf den Bazaren zu sehen.
Unser Gespräch wird durch das Aufreißen der Tür unterbrochen. Afghanen kennen nicht wirklich eine Privatsphäre. Gespräche werden ohne Ansehen von Dringlichkeit unterbrochen, immer in der Annahme, dass das eigene Anliegen sofort behandelt werden sollte. In der Türöffnung steht unsere Köchin, sie hätte gerne den Vormittag heute frei. Sie arbeitet halbtags, nur wenn einer der Expats in Qal'eh-ye-Now ist, arbeitet sie bis fünf Uhr; vor der Dunkelheit muss sie zu Hause sein. Sie hätte Besuch zu Hause und müsse nun dort kochen. Etwas kurzfristig, aber OK. Auf meinen Vorschlag, dass sie sich dafür einen Urlaubstag nehmen müsse, nur die Antwort, dass sie dann den Nachmittag frei haben wolle. Auch in Ordnung. Dann gibt es also für Heute nur halbes Geld, statt der üblichen 5 US$ dann eben nur 2 ½ US$.
Zum nächsten Tagesordnungspunkt. Die Mietpreiserhöhung für das von den Maltesern angemietete Gebäude, in dem das Medikamentenlager, die Kommunikationsanlagen und die Generatoren zur Stromversorgung untergebracht sind. Ursprünglich lag die Miete bei 280 US$. Im Frühjahr des letzten Jahres hatte ein Erdrutsch die Hälfte des Anwesens zugeschüttet. Auf Grund dessen wurde die Miete reduziert auf 150 US$. Gestern kam nun der Grundstückseigentümer ins Büro mit der Mitteilung, er wolle jetzt 300 US$, da eine andere NGO das Gebäude anmieten wolle. Nur zum Hintergrund, Mietverträge haben in Afghanistan üblicherweise eine Laufzeit von einem Jahr, die Miete ist in zwei Raten für das komplette Jahr zu zahlen.
Gestern hatte uns der Bruder der Eigentümergemeinschaft stinksauer verlassen, da ich nur mit demjenigen verhandeln wollte, der die letzten Male als Verhandlungspartner der Familie genannt worden war. Dann müssten wir eben das Gebäude innerhalb von 24 Stunden verlassen, so seine letzten Worte. Heute sollen die Verhandlungen erneut aufgenommen werden. Wieder werden wir zwei Stunden mit Teetrinken und viel Palaver vertun. Letztendlich brauchten wir noch drei weitere Treffen und fünf Litern Tee um uns auf 290 US$ zu einigen. Den doppelten Mietpreis wollte ich auf keinen Fall akzeptieren, aber ich habe keine Möglichkeit die Medikamente innerhalb eines Tages irgendwo anders unterzubringen, rein logistisch schon nicht. Das Doppelte ginge aber auf keinen Fall, da sich das sehr schnell in der Gemeinde herumsprechen würde und man damit Tür und Tor für alle anderen Eigentümer der von uns angemieteten Gebäude für neue Forderungen öffnen würde. Es steckt mir aber sehr wohl auch noch das Schicksal von BRAC in den Knochen, einer anderen NGO die in Badghis arbeitet. In ihr Compound in Ab Kamali, nur fünf km von Qal'eh-ye-Now entfernt, warf ein enttäuschter Hausbesitzer in der letzten Woche eine Handgranate, als BRAC sich entschlossen hatte, das billigere Anwesen eines anderen Anbieters anmieten zu wollen. Nur viel Glück ist es zu verdanken, dass hierbei niemand verletzt worden ist. Auch das ist Afghanistan. Eigene vermeintliche Ansprüche werden immer noch mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten versucht durchzusetzen, Gewalt als legitimes Werkzeug und niemand in Sicht, der uns davor beschützen könnte. Also muss ich letztendlich akzeptieren. Aber war ich nicht eigentlich nach Afghanistan gekommen, auch, um zu helfen? Ist meine Hilfe denn wirklich gewollt, oder am Ende doch nur das Geld der Geber?
Nächster Punkt. Malteser besitzen insgesamt in West-Afghanistan zehn Autos. Die monatlichen Unterhaltskosten pro Fahrzeug sind mit von 1500 US$ pro Monat und pro Fahrzeug festgesetzt. Eine auf den ersten Blick unglaubliche Summe. Bedenkt man aber den Zustand der Straßen, dann macht diese Summe wiederum Sinn. Feldwege in Europa sind besser, als die meisten Straßen hier. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie solche Straßen eigentlich auf Deutsch genannt werden würden. Es gibt kein Wort dafür. Flussbett träfe es wohl noch am genauesten, oder eben auf Englisch Off road.
Heute geht es kurz nur darum, welches Fahrzeug mit einer Codan-Anlage (Funkverkehr) ausgestattet werden soll- Handys funktionieren weder in Qal'eh-ye-Now noch auf der gefährlichen Strecke zwischen Qal'eh-ye-Now und Herat.
Und wieder geht die Tür auf und wieder kommt die Köchin herein um Geld zum Einkaufen abzuholen und um nachzufragen, was wir denn Mittags und Abends essen wollen. Spinat mit Reis zum Lunch und Bratkartoffel zum Dinner, solche Entscheidungen sind in Qal'eh-ye-Now schnell gefällt- siehe Frühstück. Nur das erst ein Übersetzer gefunden werden muss, der ihr aus dem Englischen ins Dari übersetzen muss.
Ihr einsetzender Redefluss wird jäh von unserem Funker unterbrochen. Ihm ist gerade eingefallen, dass seine Mutter in Koma liegt, und er heute nicht arbeiten kann. Also muss auf die Schnelle ein Ersatzfunker organisiert werden. Immerhin ist unser Übersetzer schon im Zimmer. Der Tageswächter kann einspringen, dessen Aufgabe übernimmt ausnahmsweise ein Bruder des Nachtwächters Nummer Zwei. Das wäre geregelt.
Der Funker geht, einer der Fahrer kommt. Das Radio in seinem Auto sei kaputt, ob er es auf dem Bazar reparieren lassen könnte. Da wird Uli laut und das zu Recht, wie sich gleich herausstellt. Er hätte ihm, dem Fahrer, doch schon in Herat gesagt, dass dafür im Moment kein Geld da sei. Und jetzt hat er die Frechheit und versuche es bei mir, dem Greenhorn in der Runde. Wie sich herausstellt geht es um den selben Fahrer, der über unseren Mann aus der Administration bei mir hatte anfragen lassen, ob er denn wieder zurück nach Herat dürfte. Seine Frau würde im Laufe noch dieser Woche ihr erstes Kind erwarten und kein Mann sei im Hause. Auch der Vater dieses Fahrers arbeitet für die Malteser. Er ist in Qal'eh-ye-Now als Nachtwächter Nummer Eins im Materiallager engagiert. Der Vater stünde nun draußen vor der Tür und sei in Tränen aufgelöst. Immer noch kein Mann zu Hause. Klar doch kann einer der beiden fahren. Wenn der werdende Vater fahren wolle, nur zu. Ich würde ihn mit dem ersten Fahrzeug, dass zurück nach Herat geht, wieder zurückschicken. Erst meine kurze Nachfrage in der Administration in Herat, per Funk und nach drei vergeblichen Anläufen überhaupt eine Verbindung zu bekommen, brachte dann aber zu Tage, dass seine Frau erst im der sechsten Monat sei, zur Panik also kein Anlass besteht. Wie mit so etwas umgehen? Rausschmeißen?
Solche oder ähnliche Hinterhältigkeiten habe ich in Afghanistan immer wieder erlebt. Einer wird gegen den Anderen ausgespielt. Me, myself and I, "Ich" immer an erster Stelle. Wie geschehen bei einem anderen Fahrer, dem ich nach einer schwierigen Fahrt, aus Entgegenkommen, angeboten hatte, dass Malteser die Reinigung seiner ölverschmierten Kleidung, ausnahmsweise, übernehmen würde. Ohne rot zu werden schaut mir der Kerl ins Gesicht und fragt dreist, ob wir denn nicht immer die Reinigung seiner Kleidung übernehmen könnten, er würde schließlich häufiger dreckig werden. Antrag abgelehnt und die Reinigung deiner Kleidung heute werde ich auch nicht übernehmen. Ich hab dir den kleinen Finger gereicht und du wolltest die ganze Hand- so nicht.
11.00 Uhr. Endlich ist die Sitzung beendet und Uli und ich können das Krankenhaus besuchen. Ich möchte mir einen Eindruck vom Zustand der Gebäude machen. Es muss außerdem eines, der insgesamt zehn Gebäude vermessen werden. Die Bauabteilung soll, in Rücksprache mit dem medizinischen Koordinator, eine Neuorganisation der Raumbelegung und der dringend notwendige Renovierungsmaßnahmen planen und koordinieren.
Gerade wird eine hochschwangere Frau, eine BMO (Blue-moving-Object) wie burqatragende Frauen von Expats hinter vorgehaltener Hand schon einmal spaßeshalber genannt werden, auf einer Pferdedecke und von vier Männer getragen, aus einem Taxi gehoben. Leise stöhnt die Frau auf, als sie von den Männern in ihrer Decke auf den kalten Kiesboden gelegt wird. Keiner der beiden Pfleger, die ich auf dem Gelände sehen kann, macht Anstalten sich um die Hochschwangere zu kümmern. Erst einer ihrer Begleiter kann in der "Notaufnahme" eine Bahre besorgen, auf der man die Frau auf die Entbindungsstation tragen kann. So verschwindet sie aus meinem Blickfeld und ich mache mich dran das eingeschossige Hauptgebäude durch die Notaufnahme zu betreten.
Der Geruch der mir entgegenschlägt lässt mich nach Atem ringen. Die hygienische Situation im Krankenhaus ist unbeschreibbar. Die Toiletten funktionieren nicht, dafür hat aber einer der Pfleger sein Motorrad in der Dusche geparkt, draußen könnte es ja nass werden. Die Böden der ca. zwölf Quadratmeter großen Patientenzimmer, alle mit bis zu sechs Patienten belegt, erstarren vor Schmutz. Der warme Gestank der Kerosinöfen in den Zimmern, gepaart mit dem pestilenzartigem Geruch der Ausdünstungen der Kranken und ihrer zahlreichen Familienangehörigen verschlägt mir fast den Atem. Mehrfach muss ich die Räume verlassen um meine Nase zu beruhigen. Die Gläser der Fenster sind entweder zersprungen, oder gar nicht erst zu öffnen. Die, die zu öffnen wären lassen keine Luft herein, da man alle Fenster des Krankenhauses, zum Schutz vor der klirrenden Kälte über den Winter mit Plastikfolie verhangen hat. Es ist düster in den Zimmern. Da es keinen Strom gibt, funktionieren natürlich auch die viel zu wenigen nackten Glühbirnen nicht. Die rußverfärbte Farbe blättert von den schimmeligen Wänden. Auf den schummrigen Fluren sehe ich ab und zu Krankenpfleger im Halbschatten auftauchen. Meist sind sie jedoch in ihren Zimmern, unsichtbar für Patienten aber Tee kochend. Die Schwestern und Pfleger haben nahezu die Hälfte der zur Verfügung stehenden Räume zu persönlichen Aufenthaltsräumen erklärt, inkl. der besten Einrichtungsgegenstände. In einem der, eigentlich Patienten zugedachten Räume, sind sogar zwei Doktoren fest eingezogen- auch so kann man die Kosten für ein Zimmer oder eine Wohnung einsparen.
Ärzte und Pfleger stehen ratlos herum, verstehen nicht, als ich sie anweise die, bis dahin untätigen Reinigungskräfte, zu holen um die Zimmer umgehend zu putzen. Plötzlich bricht Regsamkeit aus. Befehle werden geschrieen und halbherzig befolgt. Selbst den Ärzten sind meine Anweisungen für mehr Sauberkeit fremd, der Habitus von Halbgöttern in Weiß aber, auch hier in der Abgelegenheit dieses äußersten Zipfels Afghanistans, nicht. Einer der Ärzte weigert sich gar überhaupt Frauen zu betreuen, mit der Begründung "da ist alles so schleimig"!
Die Putzmänner treten auf, lautstark von den Ärzten ihre Anweisungen empfangend. Einmal da, werden alle Besucher des Raumes verwiesen, das Hab und Gut der Patienten, dass bis dahin friedlich unter den Betten lagerte (Schränke gibt es nicht) auf die Kranken geschmissen und Brackwasser eimerweise über den Boden verschüttet und mit Uralt-Besen verteilt. Ich kann nicht den ganzen Tag daneben stehen und jedem auf die Finger schauen, also weiter.
Die OP-Räume riechen wenigstens sauber, hinter der Eingangstüre werde ich aufgefordert meine Straßenschuhe gegen Gummischuhe einzutauschen. Das ließe hoffen, wären diese nicht mindestens ebenso verschmutzt wie meine eigenen Straßenschuhe. Stört aber keinen, einem Automatismus ist Genüge getan. Über Sinn und Zweck wird nicht nachgedacht, der Verantwortliche bemerkt es ja nicht einmal.
Der Kittel des Desinfektors hat auch schon seit Wochen keine Seife mehr zu schmecken bekommen. In seinem Arbeitszimmer steht der Autoklav, ein Gerät, das benutztes OP-Besteck reinigt. Gleich nebenan der Gasbrenner, auf dem in einem Schnellkochtopf lustig Reis vor sich hinköchelt. Die Handwaschbecken der Operateure sind verkalkt, aber es tröpfelt wenigstens warmes Wasser aus seinen undichten Hähnen. Mehr brauche ich heute nicht zu sehen. Nur noch schnell ein paar Fotos geschossen, das Aufmaß gemacht und zurück ins Büro.
Für heute reicht es mir. Nichts wie nach Hause in den Compound, wo wir wohnen und wo der Tag mit einer sauberen Dusche begann. Ein künstliches Stück "Europa" in Afghanistan, vergleichbar nur mit dem Botschaftsgelände eines befreundeten Staates auf eigenem Grund. Hier gelten andere Regeln, vertraute Regeln. Regeln, die ich verstehe. Heute bin ich froh mich hierher zurückziehen zu können, zum zweiten Mal zu duschen und mich später in ein sauberes Bett zu legen. Morgen ist ein neuer Tag. Und überhaupt, Rom ist schließlich auch nicht an einem Tag erbaut worden.
Id, Suffis und Gefahren
Morgen beginnt Id ul-Adha, das höchste islamische Opferfest, das drei Tage dauern wird. Id ul-Adha wird in Afghanistan meist nur Id genannt, ausgesprochen mit einem langen I, manchmal auch Eid geschrieben. Das Opferfest ist das höchste islamische Fest. Es wird zum Höhepunkt der Hadsch gefeiert, der Wallfahrt nach Mekka, die jährlich im Monat Dhu al-hidscha stattfindet.
Zur Erinnerung: nach moslemischer Zeitrechnung schreiben wir heute das Jahr 1383 in der islamischen Welt. Gerechnet wird der 1. Muharram 1 A.H. (Anno Higerae), also Tag Eins der muslimischen Zeitrechnung, gewöhnlich ab Donnerstag dem 15. Juli 622 nach dem julianischen Kalenders. An diesem Tag zog der Prophet aus Mekka nach Medina.
Noch vor dem id al-fitr, dem Fastenbrechen am Ende des Ramadan, ist es das wichtigere der zwei Eid-Feste. Beim Opferfest wird des Propheten Ibrahim (Abraham) gedacht, der die göttliche Probe bestanden hatte und bereit war, seinen Sohn Ismail Allah zu opfern. Als Allah seine Bereitschaft und sein Gottvertrauen sah, gebot er ihm Einhalt, und Ibrahim und Ismail opferten daraufhin voller Dankbarkeit im Kreis von Freunden und Bedürftigen einen Widder. Seit dem ist es für alle rund drei Millionen gläubigen Muslime weltweit Pflicht, zur Feier des Opferfestes ein Tier zu schlachten, wenn sie es sich denn finanziell leisten können. Dabei ist es üblich das Tier anschließend in drei Teile aufzuteilen. Ein Teil für die Verwandtschaft, ein Teil wird an Bedürftigen abgegeben und der dritte bleibt der eigene Familie. Es ist guter Brauch, allen Freunden und Verwandten zum Opferfest die besten Wünsche zu versichern. Das führt zu so aberwitzigen Besuchermarathons, wie ihn Yamma, unser Logistiker, Jahr für Jahr zu wiederholen gedenkt. Er besucht an den drei Feiertagen mehr als 70 (!) Familienangehörige. Im Allgemeinen wird an Id ein Schaf geschlachtet, es wird rituell unter Gebeten und der Anrufung Allahs geschächtet.
Heute, am Vortag von Id, will ich in die Innenstadt, nahe der Bazare in die Altstadt Herats. Dem Teil, der noch, oder fast noch nicht dem Aufschwung der Stadt zum Opfer gefallen ist. Die Altstadt Herats ist in einem Schachbrettraster um die Dschami-Moschee, der großen blauen Moschee, herum angesiedelt. Von ihr weg, oder zu ihr hin, je nach Sichtweise, führen vier große Prachtstraßen rechtwinklig auf die Boulevards, die die ehemaligen Stadtumfassungsmauern ersetzt haben. Hier spielt sich das Leben noch in den Suqs ab, ein quirliges Leben voller vertrauter und fremder Gerüche und Geräusche. Heute aber wird das ansonsten schon geordnet chaotische Treiben in der Altstadt um das Blöken abertausender Schafe ergänzt. Wohin man auch schaut, Schafe über Schafe. Es müssen fast ebenso viele Schafe auf den Straßen sein, wie Herat Einwohner überhaupt hat. Schon in den letzten Tagen vor dem großen Fest haben sich unzählige Bauern aus der Umgebung mit ihren Herden Richtung Stadt aufgemacht, manche führten nur eine handvoll Tiere mit sich, andere bis zu 50 Tiere. Um all diese in die Stadt einfallenden Herden unterscheiden zu können, die eigenen von fremden Tieren, haben die Viehtreiber ihre Tiere durch Farbflecken auf den Hinterleibern oder auch am ganzen Körper gekennzeichnet. So begegne ich mit Erstaunen, statt der ansonsten nur dreckig beige-weißen Schafe, gelbgepunkteten oder grün-gestreiften Tiere. Zwischen all diesen hunderttausenden Tieren, im Übrigen auch Ziegen und Kühen, bewegen sich wie in Zeitlupe hupende Autos, knatternde Motorrad-Rikschas, quietschende Millie-Busse, wie hier die öffentliche Busse genannt werden und klingelnde Fahrräder durch die Rushhour. Die ganze Atmosphäre erinnert mich sehr an die letzten Vorweihnachtstage, an denen die Innenstädte vor Menschen überquellen, eine Vorfreude spürbar ist, aber auch der Stress gehetzter Menschen, die auf den letzten Drücker noch Geschenke besorgen wollen. Genau so fühlt es sich heute in Herat an, nur dass hier Millionen von Schafe Teil des moslemischen Weihnachtens sind. Zwischen den Herden bewegen sich zielsicher unzählige Familienvorstände, unnötig zu erwähnen, dass es ausschließlich Männer sind. Mit fachkundigem Blick, mal hier in ein Tier zwickend, mal dort eines näher begutachtend oder doch schon Desinteresse heuchelnd bewegen sie sich punktgenau auf Umwegen auf das Objekt ihrer heutigen Begierde zu. Jetzt gilt es zu handeln.
Ein Schaf kostet je nach Gewicht zwischen 3 und 6000 Afghani, also zwischen ca. 60 und 120 €. Eine unvorstellbare Summe für die meisten Afghanen. So viel Geld nur für Essen ausgeben, können sich nur die wenigsten Familien leisten. Also machen sie es so, wie die Besitzer der Tiere. So, wie die einzelnen Tierherden einer Gemeinschaft von Eigentümern gehören, so teilen sich auch mehrere Endverbraucher je ein Tier. Der Kilopreis für Schafsfleisch liegt ungefähr bei 120 Afghani, immer noch 2,50 € und immer noch viel Geld für die meisten Männer, die im Schnitt ca. 250 Afghani pro Tag verdienen. Das muss reichen um eine ganze Familie zu versorgen. Umso atemberaubender das Aufgebot an Speisen, wenn man von Afghanen nach Hause zum Essen eingeladen wird. Die Tische, hätten sie den Tische, denn gegessen wird auf dem Boden, bögen sich durch unter der Last des Essen, das einem dort aufgetischt wird. In meinen Augen eine Verschwendung, für Afghanen eine Selbstverständlichkeit, die die Gastfreundschaft gebietet.
Der Kilopreis Schafsfleisch hat im Übrigen direkte Auswirkungen auf meine eigene Ernährung. Wir Expats essen mit unseren lokalen Mitarbeitern jeden Tag gemeinsam zu Mittag. Und die würden Sturm laufen, wenn das Essen am Monatsende zu teuer käme. Also gibt es fast jeden Tag Reis mit Kichererbsen oder einem anderen Gemüse, nur ab und zu angereichert mit Fleisch, und ein wenig Salat. Das klingt eintöniger als es ist, da unser Koch sich darauf versteht das Gemüse in immer neuen Variationen auf den Tisch zu bringen, gleichbleibend ist nur das stundenlange Einkochen des Gemüses. Kraft bringend soll das literweise hinzugefügte Öl sein, dass die meisten Speisen triefend einnässt, obwohl ich da so meine Zweifel habe.
Zurück auf die Straßen Herats an diesem sonnigen Vormittag, dem Vortag des Id ul-Adha-Festes. Handelseinig mit den Verkäufern zu werden ist eine Sache, die Ware anschließend nach Hause zu bringen eine andere. Schafe sind Herdentiere und ohne ihre Herde fühlen sie sich augenscheinlich nicht sonderlich wohl. Nicht alle Tiere, Frischware im besten Sinne des Wortes, werden an den Läufen gefesselt um sie transportieren zu können. Das tun nur diejenigen, die die Tiere mit dem Fahrrad oder Motorrad nach Hause bringen müssen. So sieht man ab und an bis zu drei Menschen und ein Schaf auf einem Motorrad durch das Gewühl aus Tier- und Menschenleibern manövrieren. Plötzlich hupt es hinter mir laut. Eine Motorradrikscha möchte vorbei. Noch im vorbeiziehen streckt sich ein Kalbskopf, der Rest des Tieres ist durch eine Plane verdeckt, raus auf die überfüllte Straße. Nur um Haaresbreite verpasst das Tier meine Schulter. Plötzlich wird mein Blick auf ein, in Deutschland unvorstellbares Spektakel gelenkt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite versuchen mehrere Männer drei Schafe in den offenen Kofferraum eines nagelneuen Mercedes zu bugsieren. Kaum sind zwei der Tiere sicher untergebracht, man müht sich gerade am dritten, da springt schon wieder eines der sicher verstaut geglaubten Tiere zurück auf die Straße, hilflos seine Herde suchend. So wiegt der ungleiche Kampf einige Minuten hin und her. Letztendlich entschließen sich die Käufer der Tiere doch diese zu fesseln und einem der Kundschaft suchenden Handwagen anzuvertrauen. Und ab geht's nach Hause, für das Schaf wird es die letzte Reise sein. Dort angekommen macht sich gleich ein bestellter Metzger ans Schächten und zerteilen des Tieres in handliche Portionen. Für das gesamte Tier benötigt er im Schnitt nur zwei Stunden, als Lohn darf er das Fell des Schafs, nun ein Festtagsbraten, behalten. Geht man an diesem Abend durch die Straßen der Stadt so kann man allerorten Rinnsale voller Blut in den engen Gassen der Stadt entdecken. Ging es Morgens noch laut zu auf den Bazaren, so breitet sich nun im Abendlicht der hereinbrechenden Nacht eine friedvolle Ruhe in der Stadt aus. Die Menschen sind zuhause im Kreise ihrer Liebsten und breiten sich auf einen dreitägigen Marathon aus Essen, wechselseitigen Besuchen und nochmaligem Essen vor. Es ist eine Zeit des Wohlbehagens. Nicht zu vergleichen mit der habgierigen Hast des "kleinen" Id-Festes zum Ende des Ramadans, wenn die Menschen sehnsüchtig darüber aufatmen, dass die schwere Zeit des Fastens für dieses Jahr wieder ein Ende gefunden hat.
Ruhe und Zufriedenheit breitet sich in der 3600 Jahre alten Stadt aus.
Die Hadschis, die Pilgerfahrer, kehren zurück in ihre Heimat. Ein paar Mal hatte es Unruhen in der Stadt gegeben, da einigen Pilgerwilligen das Visum für die heilige Stadt verweigert worden war. Afghanistan waren in diesem Jahr 20000 Visa zugeteilt worden, 27000 Menschen aber wollten die Reise nach Mekka antreten. Das es kein Recht auf ein Visum nach Saudi-Arabien gibt, wollte diesen Gläubigen nicht in den Sinn. Also zogen sie protestierend von Ministerium zu Ministerium, aber auch vor einige NGO-Anwesen. Als könnten diese irgendetwas ändern. Heute aber ist es friedlich. Und nur die Schafe, die im Dämmerlicht den Heimweg zurück zu ihren Koppeln antreten, ahnen nichts von dem Glück, das sie den heutigen Tag überleben ließ.
Aufbruch: | Juni 2003 |
Dauer: | 20 Monate |
Heimkehr: | Februar 2005 |