Reisebericht aus Afghanistan

Reisezeit: Juni 2003 - Februar 2005  |  von Igor Schmitz

Weiter gehts

Arbeitsalltag

Der halbstündige Flug in der zehnsitzigen und nicht ganz vollbesetzten Propellermaschine durch die sonnige, klare Luft ist sehr angenehm. Die Piloten, beide von Pactech, dem Flugpendeldienst der europäischen Union, der ausschließlich für die Aufrechterhaltung der Aufbauarbeiten von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen in den entlegenen Regionen Afghanistans eingerichtet worden ist, beherrschen ihr Handwerk. Der Flug führte mich über eine surreal anmutende Landschaft. Die Berge, Hügel und Täler erinnern mich an Bilder verschiedener Hollandbesuche am Meer. Man hat den Eindruck, als habe jemand die durch Welleneinfluss entstandene Wattebene der Nordsee, diesen Daumenabdruck der Wasserwellen im sandigen Boden, um ein tausendfaches vergrößert und hierher gebracht. Jetzt im Winter sind die Hügel fast frei von Bewuchs, nur hier und da schimmert ein wenig Gras durch diese nur scheinbar menschenleere, lehmbraune Landschaft, nur aufgelockert durch die dunklen Punkte großer Schaf- und Ziegenherden, die einsam durch die Einöde dieses Landes ziehen.
Hüpfend kommt unser Flugzeug auf der Schotterpiste zum Stillstand. Der Pilot muss vor der Landung eine zusätzliche Runde über der Rollbahn einlegen, um die dort grasenden Ziegen zu vertreiben. Beim Ausstieg sauge ich die saubere und kalte Bergluft tief in mich hinein, leider verpesstet durch die Dieselabgase unseres Landcruisers, der umgehend vor der Bordtüre des Flugzeuges zum Stillstand kommt, kaum hat die Maschine ihre Parkposition erreicht. Einer unserer Fahrer ist gekommen um mich, Dr. Elias und Ulrich abzuholen. Unmittelbar hinter dem Flughafen durchqueren wir den Fluss, den Qal'eh-ye-Now-River, der den Ort, nicht nur geografisch, in zwei verfeindete Stadtteile teilt. Nicht weit von hier befindet sich der Compound der Malteser, meine eigentlichen Arbeitsstelle.

Es ist bereits später Nachmittag des nächsten Tages als die Sonne ihre letzten wärmenden Strahlen des Tages auf die teils Schneeverhangene Kulisse des Paropamisus-Gebirges, einem Gebirgsausläufer des Hindukushs, wirft. Vor einigen Minuten hat der Muezzin (arabisch mu'adhdhin), die Gläubigen mit seinem Ruf "Allah ist der Größte. Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah." zum vierten Gebet des Tages gerufen. Schade nur, dass auch hier der elektrische "Fortschritt" Einzug gehalten hat in Form von Kassettenrekordern, deren Hallverzerrte Stimmen, die des Muezzin ersetzt haben. Wie wohltönend muss es gewesen sein, als noch Menschen, oft Blinde, die Aufgabe des Muezzin inne hatten. Blinde wurden für diese wichtige Gemeindeaufgabe gerne ausgewählt, weil diese naturgemäß von ihrem erhöhten Ausguck auf den Minaretten keinen Blick auf die Frauen in den umliegenden Wohnhäuser werfen konnten.
Es ist kurz nach Feierabend, die meisten der 20 einheimischen Angestellten haben bereits den Compound der Malteser verlassen. Nur die Wächter, sehnsüchtig auf ihre Ablösung durch ihre unbewaffneten Kollegen um sechs Uhr wartend, sitzen noch in ihren kleinen Bretterverschlägen, leise Teewasser auf ihren kleinen, gasbetriebenen Heizstrahlern kochend. Auf den winzigen Basaren der Stadt verpacken die Händler ihre Waren sicher für die aufziehende Nacht, die einfachen Holzverschläge der eingeschossigen Lehmbauten mit ihren runden Kuppeldächern fest verschließend. Nur noch wenige Menschen bewegen sich, oft nur mit Sandalen an den Füßen bekleidet, durch den tiefen, kalten Morast der Straßen; zu Fuß, auf Eseln reitend oder ihre Waren auf den hier typischen Pferdekutschen transportierend, die mit ihren buntschillernden Verzierungen und den vielen winzigen, blechern klingenden Glöckchen allgegenwärtig sind. Nur einige wenige Drogenbarone, Bezirksvorsteher, Governor genannt, und Warlords können sich in dieser Gegend ein Auto leisten. Die Menschen sind auf dem Weg nach Hause um mit den Vorbereitungen für ihr einfaches Nachtmahl zu beginnen. Ruhe, nur Unterbrochen durch das Bellen vereinzelter Hunde, und eine mit der Nacht aufziehend bittere Kälte breiten sich über die Stadt aus.

Ich setze mich in einen der Toyota Land Cruiser um von den umliegenden Hügeln der Stadt aus einen ersten Überblick über den in tiefem Schlamm versinkenden Ort zu bekommen. Nur mit 4-Rad-Antrieb ist der kurze Weg die 60 Meter Anhöhe hinauf zu schaffen. Hinauf auf den sanft-gerundeten Hügel, von dem aus die Einwohner der Stadt einen so wundervollen Blick auf unseren Compound, meist jedoch auf die Expertinnen die hier arbeiten, zu erhaschen suchen. Auf seiner Kuppe, in der ansonsten leeren Landschaft, steht ein einzelner Baum direkt neben dem Grab eines unbekannten Toten, der von hier Oben einen wunderbaren Ausblick auf die Stadt genießen kann. Vor mir liegt Qal'eh-ye-Now.

Qal'eh-ye-Now, die Hauptstadt der Provinz Badghis, in 120 km Luftlinie von Herat (25 km von Taraki) und 50 km von der Turkmenischen Grenze, entfernt. In der Stadt leben ungefähr 25.000 Einwohner, in der gesamten Provinz Badghis mit einer Gesamtfläche vergleichbar der Hessens ca. 550.000 Einwohner.
Sieht man sich die Verteilung der vier wichtigsten Städte Afghanistan auf einer Landkarte an, dann fällt auf, dass sie sich in Form einer Raute über das Land verteilen. Im Norden Mazār-e Sharīf, die Stadt die Gründungsort der Nordallianz war, dem lockeren Bündnis von Gegnern der Taliban. Im Westen Kabul, der Hauptstadt des Landes. Im Süden Kandahār, das der Legende nach von Alexander dem Großen gegründet worden sein soll und das Hauptquartier der Taliban in der Zeit zwischen 1992 und Dezember 2001 war. Im Westen dann Herat. Diese vier Städte sind untereinander durch eine Ringstraße, den Hindukush weitesgehend umgehend, miteinander verbunden. Qal'eh-ye-Now liegt auf dem Stück der Aorta, dass Herat mit Mazār-e Sharīf verknüpft. Es gehört nicht viel Fantasie dazu sich vorzustellen, wie es um ein Land bestellt ist, dessen wichtigste Lebensader, also auch zwischen Herat und Mazār-e Sharīf, während drei bis vier Wintermonaten nur erschwert zu bereisen ist, bzw. wie wichtig es ist, dass diese Straße für Menschen und Güter frei passierbar ist.

Ruhig liegt die schachbrettartig angelegte Stadt da. Die am Verkehrs­aufkommen gemessen viel zu breiten Straßen sind vollkommen verlassen. Lehmbraun und eine schmutziges Weiß sind die dominierenden Farben, nur wenige grüne Nadelbäume durchmischen den Ort. Vereinzelt kann man kleinere Ansammlungen schlanker, hoher und silbernschimmernder Bäume ausmachen. Diese Bäume werden einer Tradition gemäß bei der Geburt eines Sohnes vom Vater des Sprösslings gepflanzt, damit der Sohn, wenn er selber geheiratet hat, genügend Bauholz für das neue Heim der jungen Familie vorfinden kann. Nicht aus Umweltschutzgründen, sondern schlichter Mangel an Bäumen und Wäldern in dieser kargen Gegend, führte zu dieser Tradition. Weiter weg fällt mir der beliebteste Picknickplatz der Bevölkerung Qal'eh-ye-Now´s, ein Hain mit Pistazienbäumen ins Auge, dessen Früchte mit die wichtigste Einkommensquelle der Menschen hier darstellen. Heute liegt er verlassen dar. Man sieht ihm nicht an, dass im letzten Jahr im Kampf um die besten Ernteplätze 20 Menschen ihr Leben bei Schießereien gelassen haben. Auf den, den Ort umgebenen Hügeln kann man immer noch die verlassenen Geschützstellungen ausmachen, deren "herausragende" Position, die Beherrschung der Stadt so einfach machte. Verschiedener Orts steigen schmale Rauchfahnen aus den meist einfachen Häusern, in denen mitunter zehn bis fünfzehn Familienangehörige wohnen. Bis zum Jahr 2002 war für sie das nächstgelegene Krankenhaus in Herat, zehn Autostunden oder zwei Tagesreisen per Esel entfernt.

Die an die Malteser gestellte Aufgabe in Badghis seit 2002 ist die Errichtung eines Gesundheitssystems in dieser aus sieben Distrikten bestehenden Provinz im Nord-Westen Afghanistans. De facto teilten sie sich diese Aufgabe mit BRAC, einer anderen Nichtregierungsorganisation (NRO oder NGO) aus Bangladesh. Genauer umschreiben bedeutet das, dass die Malteser für das Gesundheitssystem in vier Distrikten zuständig sind (und damit ca. 350.000 Menschen), BRAC in drei Distrikten. Der organisatorische Aufbau des Gesundheitssystems umfasst den Bau, die Einrichtung und den Unterhalt der Einrichtungen (Medikamente, Brennstoff, Bürobedarf etc.) ebenso wie die Anstellung, die Ausbildung und Bezahlung des dafür benötigten lokalen Personals. Dafür wird zur Zeit ein Provinzkrankenhaus in Qal'eh-ye-Now weiter ausgebaut, ein Distriktkrankenhaus in Qades und zehn weitere Basisgesundheitseinrichtungen in den verschiedenen zu betreuenden Distrikten. Seit dem tödlichen Anschlag auf die Mitarbeiter von Medcins sans Frontiere (MsF) in Qades, einem der von den Maltesern betreuten Distrikte Badghis´, war es für Expats nicht mehr sicher genug in Qal'eh-ye-Now zu bleiben. Auch die Malteser kapitulierten vor der Gewalt und zogen sich solidarisch mit MsF nach Herat zurück, im Konvoi mit anderen NGOs und unter Begleitschutz des amerikanischen Militärs. Seitdem wird das gesamte Projekt, bis dahin von deutschen Ärzten und Pflegern betreut, in einer Art Fernbedienung betreut, also durch Kontrolle einheimischer Supervisoren. In Realität heißt das nichts anderes, als dass seit einem halben Jahr, keine Weißnase mehr einen Fuß für länger als einen Tag in das Krankenhaus gesetzt hat, geschweige denn in die Basisgesundheitseinrichtungen. Dies soll sich nun durch eine erste "Expedition" von drei Fachkräften ändern. Das Erkundungsteam besteht aus Dr. Elias, als medizinischen Koordinator, Ulrich, als Architekt und Sicherheitsbeauftragtem der Malteser in Westafghanistan zuständig für Schulbauprojekte und baulichen Maßnahmen am Krankenhaus, und mir, neuem Programm­verant­wort­lichem für das Gesamtprojekt. Ich soll beratend, in allen Fragen des Managements des Krankenhauses und der Bauprojekte, den beiden anderen zur Seite stehen.

Es ist früher Morgen. Um sieben hat der Wecker geklingelt. Noch ver­schlafen, aber nach einer erholsamen Nacht, die nur von vereinzelt kläffenden Hunden und dem Ruf des Muezzin um halb fünf rüde unter­brochen worden ist, gehe ich über den Hof Richtung Badezimmer. Gott-sei-Dank hat der Nachwächter die Gasheizung bereits ein­ge­schal­tet, nur der geflieste Steinboden ist immer noch kalt. Die warme Dusche weckt die Lebensgeister, holt mich aber auch wieder zurück in meine Realität, die ich hier in Afghanistan lebe. In Qal'eh-ye-Now fällt das Frühstück in der nachtkalten Küche, dank fehlenden Angebotes, noch dürftiger aus als in Herat. Üblicher­weise gibt es Nescafé oder Tee mit Nan (Fladenbrot) und Eiern in jeder erdenklichen Variante: gestern Rührei, heute Pfannkuchen und morgen Spiegelei und übermorgen wieder Rührei etc.. Das Einerlei ruft in jedem von uns Heißhunger auf all die Dinge wach, die eben hier nicht zu bekommen sind. Überhaupt dreht sich manches Gespräch um die, oft als solche empfundenen "Mangelerscheinungen" wie Wurst, Alkohol oder Brot.
Gegen acht Uhr geht es, wieder gemeinsam, die 30 Meter hinüber ins Büro. Habe ich erwähnt, dass auch das kalt ist? Entlang geht es lehmverputzter, fensterloser Grundstücksmauern von bis zu fünf Metern Höhe. Wovor fürchten sich die Menschen eigentlich so sehr, dass sie sich selber so einkasernieren? Nur augenfällige Zeugnisse von frisch verrichteter Notdurft entlang der Mauern bezeugen die Anwesenheit von Menschen.

Der Arbeitstag beginnt, wie immer, mit einem Teammeeting bei einer heißen Tasse grünem Tee und eingemümmelt in unsere dicken Daunenjacken. Dr. Elias, unser äthiopischer Arzt und Medizinischer Koordinator für das gesamte Projekt, wartet immer noch auf die Jahres­ab­schlus­s­be­richte unsere sechs lokalen Supervisoren zu: Die zehn häufigsten Todesursachen im Provinzkrankenhaus. Für Kinder unter 15 Jahren sind die Daten bekannt. In der Reihenfolge der Häufigkeit ihres Auftretens sind dies: Hirnhautentzündung, Andere Krankheiten, Lungenentzündung, Durchfallerkrankungen, Hypovolumischer Schock, Tuberkulose, Schussverletzungen (an 7. Stelle!), Bauch­fellentzündung, Harnwegs­entzündungen, Entzündungen der Brust. Eine relativ häufig auftretende Krankheit ist der Milzbrand. Immer wieder kommen Männer in die Klinik, die an dieser in Europa seltenen Krankheit leiden. Meist sind es jüngere, unverheiratete Männer, die ihren Geschlechtstrieb draußen auf den menschenleeren Weidegründen der Fettschwanz­schafe, eben an diesen befriedigt haben.

Milzbrand oder Anthrax, ist eine der am längsten bekannten Krankheiten und trat früher in Form einer Epidemie auf und wird auch heute noch in manchen Regionen der Welt beobachtet. Er kann insbesondere von Rindern, Schweinen, Pferden oder Schafen auf den Menschen übertragen werden, eine Übertragung von Mensch zu Mensch wurde nicht beobachtet. Die Inkubationszeit beträgt zwei bis drei Tage. Beim Menschen gibt es äußere und innere Formen des Milzbrands. Die äußere Form, der Hautmilzbrand, wird vor allem durch infizierte Tierhäute oder -kadaver über Schnitte in der Haut oder Hautabschürfungen übertragen. Dieser vergleichsweise ungefährliche Typ bleibt oft auf die äußeren Symptome beschränkt, der Erreger kann aber auch in den Blutkreislauf gelangen und so zu Fieber, Schüttelfrost, Lymphdrüsenschwellungen und Erschöpfungszuständen führen. Der Kranke hat bösartige Pusteln an exponierten Stellen der Haut, so genannte Milzbrandkarbunkel.

Sehr traurig stimmen mich die erschreckend hohen Zahlen von Frauen, die mit Brandwunden in die Krankenhäuser West-Afghanistans ein­ge­liefert werden. Viele Frauen übergießen sich selbst mit Benzin und entzünden es dann. Frauen und junge Mädchen, die hierin die einzig ihnen verbleibende Fluchtmöglichkeit sehen, einer ungewollten Heirat oder einer Bestrafung seitens ihrer männlichen Familienangehörigen für "Schamloses Verhalten", wie ohne männliche Begleitung auf die Straße zu gehen, zu entgehen suchen. Alleine in Herat waren es im zweiten Halbjahr 2004 über 150 Mädchen und Frauen, die dieser grausigen Selbstverstümmelung den Vorzug vor einer eventuellen Bestrafung gegeben haben. Genauso schrecklich sind die Verletzungen, die Frauen sich aus den genannten Gründen selber zufügen, wie das Schlucken von Glasscheiben oder Rasierklingen, Nadeln oder ähnlichem.

Uli, Architekt und Sicherheitsbeauftragter der Malteser in Herat und Badghis, schlägt sich immer noch mit einer Baufirma herum, die bereits für Ende September die Fertigstellung einer Schule in einer der Distrikte zugesagt hatte aber auch heute noch nicht, Januar des Folgejahres, die Arbeiten fertig gestellt hat.
Die allgemeine Sicherheitslage erlaubt es nach wie vor nicht, dass Expats die Projekte in den einzelnen Distrikten besuchen und damit sinnvoll beaufsichtigen können. Dies hängt nach wie vor u.a. mit den Auswirkungen der im Juli 2004 fünf ermordeten Mitarbeiter von Medcins sans Frontiere (MsF) in Qades, im gleichnamigen Distrikt, zusammen. Die Mörder werden bis heute von den zuständigen Gouverneuren gedeckt. Es geht das Gerücht um, dass der, durch die Regierung in Kabul abgesetzte, Gouverneur Qades´ mit dem Mordauftrag nichts anderes bezweckte, als seinem Nachfolger deutlich machen zu wollen, dass dieser nicht für ein sicheres Arbeitsumfeld für NGOs sorgen könne. Nur er könne das. Die Mörder laufen noch Heute frei rum, ihre Namen sind bekannt und manchmal sind sie in Qal'eh-ye-Now auf den Bazaren zu sehen.

Unser Gespräch wird durch das Aufreißen der Tür unterbrochen. Afghanen kennen nicht wirklich eine Privatsphäre. Gespräche werden ohne Ansehen von Dringlichkeit unterbrochen, immer in der Annahme, dass das eigene Anliegen sofort behandelt werden sollte. In der Türöffnung steht unsere Köchin, sie hätte gerne den Vormittag heute frei. Sie arbeitet halbtags, nur wenn einer der Expats in Qal'eh-ye-Now ist, arbeitet sie bis fünf Uhr; vor der Dunkelheit muss sie zu Hause sein. Sie hätte Besuch zu Hause und müsse nun dort kochen. Etwas kurzfristig, aber OK. Auf meinen Vorschlag, dass sie sich dafür einen Urlaubs­tag nehmen müsse, nur die Antwort, dass sie dann den Nachmittag frei haben wolle. Auch in Ordnung. Dann gibt es also für Heute nur halbes Geld, statt der üblichen 5 US$ dann eben nur 2 ½ US$.

Zum nächsten Tagesordnungspunkt. Die Mietpreiserhöhung für das von den Maltesern angemietete Gebäude, in dem das Medikamentenlager, die Kommunikationsanlagen und die Generatoren zur Stromversorgung untergebracht sind. Ursprünglich lag die Miete bei 280 US$. Im Frühjahr des letzten Jahres hatte ein Erdrutsch die Hälfte des An­wesens zugeschüttet. Auf Grund dessen wurde die Miete reduziert auf 150 US$. Gestern kam nun der Grundstückseigentümer ins Büro mit der Mitteilung, er wolle jetzt 300 US$, da eine andere NGO das Gebäude anmieten wolle. Nur zum Hintergrund, Mietverträge haben in Afghanistan üblicherweise eine Laufzeit von einem Jahr, die Miete ist in zwei Raten für das komplette Jahr zu zahlen.
Gestern hatte uns der Bruder der Eigentümergemeinschaft stinksauer verlassen, da ich nur mit demjenigen verhandeln wollte, der die letzten Male als Verhandlungspartner der Familie genannt worden war. Dann müssten wir eben das Gebäude innerhalb von 24 Stunden verlassen, so seine letzten Worte. Heute sollen die Verhandlungen erneut aufgenommen werden. Wieder werden wir zwei Stunden mit Teetrinken und viel Palaver vertun. Letztendlich brauchten wir noch drei weitere Treffen und fünf Litern Tee um uns auf 290 US$ zu einigen. Den doppelten Mietpreis wollte ich auf keinen Fall akzeptieren, aber ich habe keine Möglichkeit die Medikamente innerhalb eines Tages irgend­wo anders unterzubringen, rein logistisch schon nicht. Das Doppelte ginge aber auf keinen Fall, da sich das sehr schnell in der Gemeinde herumsprechen würde und man damit Tür und Tor für alle anderen Eigentümer der von uns angemieteten Gebäude für neue Forderungen öffnen würde. Es steckt mir aber sehr wohl auch noch das Schicksal von BRAC in den Knochen, einer anderen NGO die in Badghis arbeitet. In ihr Compound in Ab Kamali, nur fünf km von Qal'eh-ye-Now entfernt, warf ein enttäuschter Hausbesitzer in der letzten Woche eine Handgranate, als BRAC sich entschlossen hatte, das billigere Anwesen eines anderen Anbieters anmieten zu wollen. Nur viel Glück ist es zu verdanken, dass hierbei niemand verletzt worden ist. Auch das ist Afghanistan. Eigene vermeintliche Ansprüche werden immer noch mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten versucht durchzusetzen, Gewalt als legitimes Werkzeug und niemand in Sicht, der uns davor beschützen könnte. Also muss ich letztendlich akzeptieren. Aber war ich nicht eigentlich nach Afghanistan gekommen, auch, um zu helfen? Ist meine Hilfe denn wirklich gewollt, oder am Ende doch nur das Geld der Geber?

Nächster Punkt. Malteser besitzen insgesamt in West-Afghanistan zehn Autos. Die monatlichen Unterhaltskosten pro Fahrzeug sind mit von 1500 US$ pro Monat und pro Fahrzeug festgesetzt. Eine auf den ersten Blick unglaubliche Summe. Bedenkt man aber den Zustand der Straßen, dann macht diese Summe wiederum Sinn. Feldwege in Europa sind besser, als die meisten Straßen hier. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie solche Straßen eigentlich auf Deutsch genannt werden würden. Es gibt kein Wort dafür. Flussbett träfe es wohl noch am genauesten, oder eben auf Englisch Off road.
Heute geht es kurz nur darum, welches Fahrzeug mit einer Codan-Anlage (Funkverkehr) ausgestattet werden soll- Handys funktionieren weder in Qal'eh-ye-Now noch auf der gefährlichen Strecke zwischen Qal'eh-ye-Now und Herat.

Und wieder geht die Tür auf und wieder kommt die Köchin herein um Geld zum Einkaufen abzuholen und um nachzufragen, was wir denn Mittags und Abends essen wollen. Spinat mit Reis zum Lunch und Bratkartoffel zum Dinner, solche Entscheidungen sind in Qal'eh-ye-Now schnell gefällt- siehe Frühstück. Nur das erst ein Übersetzer gefunden werden muss, der ihr aus dem Englischen ins Dari übersetzen muss.
Ihr einsetzender Redefluss wird jäh von unserem Funker unterbrochen. Ihm ist gerade eingefallen, dass seine Mutter in Koma liegt, und er heute nicht arbeiten kann. Also muss auf die Schnelle ein Ersatzfunker organisiert werden. Immerhin ist unser Übersetzer schon im Zimmer. Der Tageswächter kann einspringen, dessen Aufgabe übernimmt ausnahmsweise ein Bruder des Nachtwächters Nummer Zwei. Das wäre geregelt.

Der Funker geht, einer der Fahrer kommt. Das Radio in seinem Auto sei kaputt, ob er es auf dem Bazar reparieren lassen könnte. Da wird Uli laut und das zu Recht, wie sich gleich herausstellt. Er hätte ihm, dem Fahrer, doch schon in Herat gesagt, dass dafür im Moment kein Geld da sei. Und jetzt hat er die Frechheit und versuche es bei mir, dem Greenhorn in der Runde. Wie sich herausstellt geht es um den selben Fahrer, der über unseren Mann aus der Administration bei mir hatte anfragen lassen, ob er denn wieder zurück nach Herat dürfte. Seine Frau würde im Laufe noch dieser Woche ihr erstes Kind erwarten und kein Mann sei im Hause. Auch der Vater dieses Fahrers arbeitet für die Malteser. Er ist in Qal'eh-ye-Now als Nachtwächter Nummer Eins im Materiallager engagiert. Der Vater stünde nun draußen vor der Tür und sei in Tränen aufgelöst. Immer noch kein Mann zu Hause. Klar doch kann einer der beiden fahren. Wenn der werdende Vater fahren wolle, nur zu. Ich würde ihn mit dem ersten Fahrzeug, dass zurück nach Herat geht, wieder zurückschicken. Erst meine kurze Nachfrage in der Administration in Herat, per Funk und nach drei vergeblichen Anläufen überhaupt eine Verbindung zu bekommen, brachte dann aber zu Tage, dass seine Frau erst im der sechsten Monat sei, zur Panik also kein Anlass besteht. Wie mit so etwas umgehen? Rausschmeißen?

Solche oder ähnliche Hinterhältigkeiten habe ich in Afghanistan immer wieder erlebt. Einer wird gegen den Anderen ausgespielt. Me, myself and I, "Ich" immer an erster Stelle. Wie geschehen bei einem anderen Fahrer, dem ich nach einer schwierigen Fahrt, aus Entgegenkommen, angeboten hatte, dass Malteser die Reinigung seiner ölverschmierten Kleidung, ausnahmsweise, übernehmen würde. Ohne rot zu werden schaut mir der Kerl ins Gesicht und fragt dreist, ob wir denn nicht immer die Reinigung seiner Kleidung übernehmen könnten, er würde schließlich häufiger dreckig werden. Antrag abgelehnt und die Reinigung deiner Kleidung heute werde ich auch nicht übernehmen. Ich hab dir den kleinen Finger gereicht und du wolltest die ganze Hand- so nicht.

11.00 Uhr. Endlich ist die Sitzung beendet und Uli und ich können das Krankenhaus besuchen. Ich möchte mir einen Eindruck vom Zustand der Gebäude machen. Es muss außerdem eines, der insgesamt zehn Gebäude vermessen werden. Die Bauabteilung soll, in Rücksprache mit dem medizinischen Koordinator, eine Neuorganisation der Raumbelegung und der dringend notwendige Renovierungsmaßnahmen planen und koordinieren.

Gerade wird eine hochschwangere Frau, eine BMO (Blue-moving-Object) wie burqatragende Frauen von Expats hinter vorgehaltener Hand schon einmal spaßeshalber genannt werden, auf einer Pferdedecke und von vier Männer getragen, aus einem Taxi gehoben. Leise stöhnt die Frau auf, als sie von den Männern in ihrer Decke auf den kalten Kiesboden gelegt wird. Keiner der beiden Pfleger, die ich auf dem Gelände sehen kann, macht Anstalten sich um die Hochschwangere zu kümmern. Erst einer ihrer Begleiter kann in der "Notaufnahme" eine Bahre besorgen, auf der man die Frau auf die Entbindungsstation tragen kann. So verschwindet sie aus meinem Blickfeld und ich mache mich dran das eingeschossige Hauptgebäude durch die Notaufnahme zu betreten.
Der Geruch der mir entgegenschlägt lässt mich nach Atem ringen. Die hygienische Situation im Krankenhaus ist unbeschreibbar. Die Toiletten funktionieren nicht, dafür hat aber einer der Pfleger sein Motorrad in der Dusche geparkt, draußen könnte es ja nass werden. Die Böden der ca. zwölf Quadratmeter großen Patientenzimmer, alle mit bis zu sechs Patienten belegt, erstarren vor Schmutz. Der warme Gestank der Kerosinöfen in den Zimmern, gepaart mit dem pestilenzartigem Geruch der Ausdünstungen der Kranken und ihrer zahlreichen Familienangehörigen verschlägt mir fast den Atem. Mehrfach muss ich die Räume verlassen um meine Nase zu beruhigen. Die Gläser der Fenster sind entweder zersprungen, oder gar nicht erst zu öffnen. Die, die zu öffnen wären lassen keine Luft herein, da man alle Fenster des Krankenhauses, zum Schutz vor der klirrenden Kälte über den Winter mit Plastikfolie verhangen hat. Es ist düster in den Zimmern. Da es keinen Strom gibt, funktionieren natürlich auch die viel zu wenigen nackten Glühbirnen nicht. Die rußverfärbte Farbe blättert von den schimmeligen Wänden. Auf den schummrigen Fluren sehe ich ab und zu Krankenpfleger im Halbschatten auftauchen. Meist sind sie jedoch in ihren Zimmern, unsichtbar für Patienten aber Tee kochend. Die Schwestern und Pfleger haben nahezu die Hälfte der zur Verfügung stehenden Räume zu persönlichen Aufenthaltsräumen erklärt, inkl. der besten Einrichtungsgegenstände. In einem der, eigentlich Patienten zugedachten Räume, sind sogar zwei Doktoren fest eingezogen- auch so kann man die Kosten für ein Zimmer oder eine Wohnung einsparen.

Ärzte und Pfleger stehen ratlos herum, verstehen nicht, als ich sie anweise die, bis dahin untätigen Reinigungskräfte, zu holen um die Zimmer umgehend zu putzen. Plötzlich bricht Regsamkeit aus. Befehle werden geschrieen und halbherzig befolgt. Selbst den Ärzten sind meine Anweisungen für mehr Sauberkeit fremd, der Habitus von Halbgöttern in Weiß aber, auch hier in der Abgelegenheit dieses äußersten Zipfels Afghanistans, nicht. Einer der Ärzte weigert sich gar überhaupt Frauen zu betreuen, mit der Begründung "da ist alles so schleimig"!

Die Putzmänner treten auf, lautstark von den Ärzten ihre Anweisungen empfangend. Einmal da, werden alle Besucher des Raumes verwiesen, das Hab und Gut der Patienten, dass bis dahin friedlich unter den Betten lagerte (Schränke gibt es nicht) auf die Kranken geschmissen und Brackwasser eimerweise über den Boden verschüttet und mit Uralt-Besen verteilt. Ich kann nicht den ganzen Tag daneben stehen und jedem auf die Finger schauen, also weiter.

Die OP-Räume riechen wenigstens sauber, hinter der Eingangstüre werde ich aufgefordert meine Straßenschuhe gegen Gummischuhe einzutauschen. Das ließe hoffen, wären diese nicht mindestens ebenso verschmutzt wie meine eigenen Straßenschuhe. Stört aber keinen, einem Automatismus ist Genüge getan. Über Sinn und Zweck wird nicht nachgedacht, der Verantwortliche bemerkt es ja nicht einmal.
Der Kittel des Desinfektors hat auch schon seit Wochen keine Seife mehr zu schmecken bekommen. In seinem Arbeitszimmer steht der Autoklav, ein Gerät, das benutztes OP-Besteck reinigt. Gleich nebenan der Gasbrenner, auf dem in einem Schnellkochtopf lustig Reis vor sich hinköchelt. Die Handwaschbecken der Operateure sind verkalkt, aber es tröpfelt wenigstens warmes Wasser aus seinen undichten Hähnen. Mehr brauche ich heute nicht zu sehen. Nur noch schnell ein paar Fotos geschossen, das Aufmaß gemacht und zurück ins Büro.

Für heute reicht es mir. Nichts wie nach Hause in den Compound, wo wir wohnen und wo der Tag mit einer sauberen Dusche begann. Ein künstliches Stück "Europa" in Afghanistan, vergleichbar nur mit dem Botschaftsgelände eines befreundeten Staates auf eigenem Grund. Hier gelten andere Regeln, vertraute Regeln. Regeln, die ich verstehe. Heute bin ich froh mich hierher zurückziehen zu können, zum zweiten Mal zu duschen und mich später in ein sauberes Bett zu legen. Morgen ist ein neuer Tag. Und überhaupt, Rom ist schließlich auch nicht an einem Tag erbaut worden.

© Igor Schmitz, 2007
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Ich war als Architekt zwei Mal, indirekt, für die Kreditanstalt für Wideraufbau (KfW) in Afghanistan tätig. Zu meinen Aufgaben zählte u.a. die Organisation und Durchführung von Wideraufbaumaßnahmen von Schulen und Gesundheitszentren, auch außerhalb der Sicherheitszone der ISAF. Dabei standen der Aufbau und die Pflege von persönlichen Beziehungen zu Ministerien und örtlichen Entscheidern (Shura-Mitgliedern) und Dorfbewohnern immer am Anfang eines neuen Projektes.
Details:
Aufbruch: Juni 2003
Dauer: 20 Monate
Heimkehr: Februar 2005
Reiseziele: Afghanistan
Der Autor
 
Igor Schmitz berichtet seit 17 Jahren auf umdiewelt.
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