Las Vegas
Fremont
Sonntagmorgen, 3.30. Der Wecker ist wieder erwacht und spielt Musik. Ich stelle ihn erst einmal ruhig und drehe mich noch einmal um. Aber er gibt nicht auf, das ist heute schliesslich seine Aufgabe und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich bereit zu machen. Gepackt habe ich gestern, es bleibt noch das Badezimmer aufzuräumen. Ein letzter Blick, und ich verlasse mein Zimmer, in dem ich mich die letzten Tage sehr wohl gefühlt hatte. Das immer wieder ein ruhiger Rückzugsort war, wenn mir das ewige Geklimper und Gebimmel in den Casinos zu viel wurde.
Beim Haupteingang fahren ständig Taxis vor. Zu jeder Tages- und Nachtzeit kommt jemand an, fährt jemand ab. Es ist also überhaupt nicht schwierig, zum Flugplatz zu kommen. Ausserdem ist der so nahe, dass man die startenden und landenden Flugzeuge von hier aus sehen kann. Ich bin früh, schon vor fünf Uhr stehe ich in der Schlange der Wartenden vor dem Checkin-Schalter. Die Halle ist voll von Leuten und erst langsam geht mir auf, wie lange die Schlange ist. Sie geht durch die ganze Halle, kehrt dort um, und windet sich um die aufgestellten Abgrenzungen in unzähligen Kehrschleifen, bis sie endlich vor den Delta-Schaltern endet. 30 Minuten stehe ich schon an und bin doch kaum vorwärts gekommen. Der Typ hinter mir will in 45 Minuten starten. Der hat hier keine Chance. Ich habe draussen eine zweite Schlange gesehen, die aber nur nationale Flüge abwickelt, vielleicht hat er dort eher eine Chance. Für mich gibt es keine andere Möglichkeit, ich habe noch gut zwei Stunden bis zum Abflug, aber die Chancen stehen schlecht.
Langsam sickert das Gerücht durch, dass in Atlanta und in New York verschiedene Flüge abgesagt wurden. Wegen Schnee. Wieder einmal merke ich, wie verrückt dieses Reisen heutzutage ist. Du stehst an irgendeinem Flughafen dieser Welt und hast keine Ahnung, was im Rest der Welt passiert. Und doch kann es sein, dass es dich ganz konkret betrifft, was da abläuft. Im Moment jedenfalls gibt es nichts anderes zu tun, als abwarten.
Überall kommen jetzt Handys zum Einsatz. Man ruft irgendwo an, beklagt sein Pech, sagt Termine ab und lässt sich trösten, ablenken. Auch ich rufe in die Schweiz an. Brauche jetzt jemanden, der mir einen Moment zuhört. Ist aber auch deprimierend. Da verzichte ich auf meinen so wichtigen Schlaf am Morgen und bin drei Stunden später noch keinen Schritt weiter. Endlich vorne am Schalter. Wenn der mich jetzt ganz schnell abwickelt und ich ausserdem renne, könnte ich den Flug noch erreichen. "Nein", meint er, "ihr Flug in die Schweiz ist abgesagt. Sie fliegen erst am Abend nach Atlanta. Danach geht es weiter über Paris nach Zürich". Das sind ja tolle Aussichten. Das gibt eine Verspätung von mehr als einem ganzen Tag. Und was mache ich jetzt hier?
Mein Zimmer steht mir nicht mehr zur Verfügung, also nutze ich die Gelegenheit und fahre mit dem Taxi zur Fremont Street. Das ist das traditionelle Quartier, da wo die ersten Casinos entstanden sind. Hier war ich schon einmal. Ist allerdings 35 Jahre her und bestimmt hat sich alles verändert. Es gibt die beiden bekannten Quartiere in Las Vegas: den Strip, da wo all die neuen Themenhotels stehen, da wo ich mich in den letzten Tagen aufgehalten habe, und die Fremont-Street, wo die traditionellen Casinos stehen.
Neu ist, dass die Fremont-Street jetzt mit einem Dach überspannt ist. Abends wird es mit Bildern bestrahlt, so habe ich es jedenfalls auf Fotos gesehen. Ich erinnere mich an die vielen Lichter vom Golden Nugget. Ja, hier war ich schon einmal. Drinnen sieht es aus, wie bei den neuen Casinos. Die ganz grossen Roulette-Tische an denen ich damals mein Glück versucht habe, sind verschwunden, dafür stehen auch hier die platzsparenden kleineren Varianten. Ich setze mich an einen und wechsle wieder einmal 20 Dollar ein. Bin ja noch immer im Plus, denn die 50 Dollar Spielgeld, die ich bei der Präsentation bekommen hatte, habe ich unterdessen umgesetzt und damit richtige 50 Dollar gewonnen, reingewaschen sozusagen.
Während ich wie gewohnt mit kleinsten Einsätzen versuche, möglichst lange im Spiel zu bleiben, tauscht das junge Paar neben mir diskret einen nach dem anderen von ihren 100-Dollar-Chips ein. Ich brauche etwas Zeit bis ich merke, was da eigentlich abläuft. Einer der Manager aber hat das erkannt, kommt zu dem jungen Mann, erkundigt sich, in welchem Hotel er wohne und lädt ihn ein, das nächste Mal hier im Golden Nugget zu übernachten. "You'r very welcome here", sagt er und drückt ihm eine Membercard in die Hand. Rechts von mir hat sich unterdessen ein Mann hingesetzt. Er scheint mir etwas benommen zu sein, klaubt eine 100-Dollar-Note aus dem Sack und setzt gleich den ganzen Betrag wahllos auf irgendwelche Zahlen. Und verliert alles, weil die Zahl, bei der die Kugel zum stehen kommt, nicht dabei war. Das macht er noch mindestens 7-mal. Ich verliere langsam die Übersicht. Sein Kommentar, wenn der Groupier jeweils die Chips einsammelt: "Oh god!" Einmal gewinnt er 350 Dollar, doch auch diese sind nach 2 Runden weg. Es ist morgens 9 Uhr und meine 20 Dollar sind leider auch fort. Mit meiner niedrigen Risikobereitschaft kann ich mir nun endlich den Traum von der gewonnenen Million aus dem Kopf schlagen.
Es ist Zeit fürs Frühstück. Im Ess-Saal wird ein Champagner-Brunch serviert. Genau das ist es, was ich brauche. Zwar spüre ich den Champagner schon bald, aber Lachs und Crevetten, Rührei und Schinken und Orangensaft mildern die Wirkung etwas. Ich lasse mir Zeit, merke aber, dass das ziemlich ungewöhnlich ist. Die meisten Leute gehen nach 30 Minuten bereits wieder hinaus. Doch Zeit ist heute das, was ich zum Überfluss habe.
Dann bummle ich ein wenig durch die Strassen der Stadt. Ich schlendere um ein paar Ecken und bin in einer komplett anderen Umgebung. Hier in einem dieser kleinen Hotels bin ich damals mit meiner Freundin abgestiegen. Wir haben auf unserer 3-monatigen Reise durch die Staaten immer in den günstigsten Hotels übernachtet und soweit ich mich erinnern kann, schien uns Las Vegas eine der billigsten Städte unserer Reise. Ob wir in diesem 'Little Hotel' waren? Heute sind sie alle geschlossen, abgetakelt, abbruchreif. Ich bin nur zwei Strassenzüge von der Fremont-Street entfernt und die Gegend macht einen komplett verfallenen Eindruck. Eigentlich suche ich ein ruhiges Restaurant, um an meinem Reisebericht zu schreiben, die Notizen zu überarbeiten, aber sowas gibt es hier nicht.
Dafür entdecke ich eine Bank an der Strasse. Ich setze mich zu der alten Frau, die bereits darauf Platz genommen hat. Eigentlich möchte ich gern mit ihr ins Gespräch kommen, aber sie versteckt ihr Gesicht hinter einer grossen Kapuze und ich bin unterdessen gar nicht mehr sicher, ob es wirklich eine Frau sei. Sie holt aus einer ihrer unzähligen Taschen einen Donut und verteilt ihn auf der Strasse. Füttert sie die Vögel? Ich versuche sie anzusprechen, bekomme aber nur ein mürrisches ja, das mir zu verstehen gibt, dass sie nicht an einem Gespräch interessiert ist. Immerhin weiss ich aufgrund ihrer Stimme, dass sie eine Frau ist. Inzwischen scheint die Sonne heiss vom Himmel. Ich bemerke, dass ich hier vor dem Parkhaus vom Golden Nugget sitze. Dauernd fahren goldene Stretchlimousinen vorbei. Sie sind so lang, dass sie manchmal zirkeln müssen, um die Kurve um die Bauabschrankungen zu finden. Ja Stretchlimousinen gibt es in dieser Stadt jede Menge. Am Strip waren sie schwarz und standen Schlange vor jedem Casino. Hier sind sie golden.
Irgendwann wird es mir zu heiss, und ich suche einen neuen Platz. Mir fehlt mein Zimmer, wo ich mich jetzt gerne zurückziehen würde. Handtasche und Laptop deponieren und vor allem die Jacke ablegen könnte. Ich entdecke den Zugang zum Hotel und von da den Pool des Golden Nugget. Hier gibt es eine nette Poolbar und der Kellner serviert mir einen Mangodrink. Ja und da kann ich mich in den Schatten setzen, die Leute beobachten und habe einen freien Blick auf das Aquarium, wo sich als besondere Attraktion die Haie im Kreise drehen. Trotz aller Frustration über die wirklich engen Platzverhältnisse der Tiere, trotzdem ein faszinierender Anblick.
Ich bleibe hier, bis die Laptopbatterie aufgibt. Leider gibt es hier draussen keinen Stecker, wo ich sie wieder aufladen könnte. Also zurück auf die Strasse. Da komme ich mit einem Mann ins Gespräch, der ein Plakat mit witzigen Fragen bei sich trägt. Er ist hier in der Fremont-Street aufgewachsen. "Früher sind wir hier noch mit den Fahrrädern hin und her gefahren", erzählt er. Ja, früher hat er auch öfters im Casino gespielt, aber er hat gesehen, wie Freunde Auto und Haus verloren haben und ganze Familien zugrunde gingen. "Am Ende gewinnt immer das Casino", meint er, "das System ist so. Leben kann man in Las Vegas ganz gut, wenn man hier nicht mitmacht". Er erzählt von seinem Quartierrestaurant, wo er für 16 Dollar ein gutes 4-Gang-Menu erhält mitsamt Getränken. "Man muss nur wissen wo, dann lebt es sich hier angenehm". Er ist sehr nett und wir reden über Gott und die Welt. Das heisst irgendwann vor allem über Gott und als er mit einem anderen Passanten in eine heisse Diskussion gerät, wie die Haltung von König Salomon gegenüber dem Geld war und was die Bibel darüber genau aussagt, verabschiede ich mich diskret.
Es ist Zeit, zurück zum Flugplatz zu gehen. Der junge Taxifahrer kommt aus Äthiopien. Er lebt erst seit ein paar Jahren in den Staaten, ist unterdessen Amerikaner und findet das Leben hier angenehm. Allerdings, um eine Familie aufzuziehen, ist ihm die Stadt zu schnell, zu viel Stress, zu wenig Geborgenheit. Ist er verheiratet? "Nein, aber ich habe Kinder", lächelt er. "Die beste Art, Kinder zu haben". "Ja, für dich als Mann vielleicht, für die Frau sieht das bestimmt anders aus". "Das mag sein", gibt er zu, "aber solange die Frau gut zu mir ist, ist das auch für sie OK". Männerlogik.
Der Flughafen von Las Vegas ist gross. Und er ist vollgestopft von Spielautomaten. Sowohl in der Ankunftshalle, wie auch in der Abflughalle, überall stehen sie, diese bunten, blinkenden, klimpernden Glücksversprecher. Ich habe ein einziges Souvenir gekauft: einen Ring aus Glas. Scheint mir eine passende Erinnerung an diese Stadt: Glück und Glas, wie leicht bricht das.
Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Abschied von einer Stadt voller Faszination und Widersprüche. Mit gewieften Geschäftemachern und netten Menschen. Vieles ist künstlich, vorgetäuscht, vieles ist aber auch echt und manchmal erst auf den zweiten Blick als das zu erkennen.
Aufbruch: | 25.02.2009 |
Dauer: | 5 Tage |
Heimkehr: | 01.03.2009 |