Batterien aufladen
Männer
In der Nacht ist die Frau neben mir samt Hängematte verschwunden. Wir sind zum ersten Mal die ganze Nacht durchgefahren. Wahrscheinlich ist sie in irgendeinem der kleinen Dörfer ausgestiegen. Draussen auf Deck ist es nass, es hat geregnet, aber ich habe nichts gemerkt. Habe wohl doch geschlafen, obwohl ich mich nicht ausgeruht fühle. Ich mache meine obligate Tour hinauf zu Hans, dem Steuermann. Er wird bis Mittag fahren. Alle sechs Stunden lösen sich die beiden Steuermänner ab. Ab jetzt wird Tag und Nacht durchgefahren. Die gefährlichen Stellen mit den Sandbänken sind vorbei, der Fluss ist breiter und tiefer.
im Steuerhaus
Beim Frühstückfassen kommt Gilberto vorbei. Sanft schaukelt er meine Hängematte und seine strahlenden Augen verzaubern mich. Ich vermute immer mehr, dass Männer bei einer Hochzeit nicht das gleiche versprechen, wie Frauen. Mit einem Blick auf meine grosse Hängematte meint er, da hätten ohne weiteres zwei Personen Platz darin. Das wäre ja noch schöner, alles muss ich nun wirklich nicht ausprobieren, auch wenn ich im Allgemeinen ziemlich experimentierfreudig bin. Aber einen Platz ganz für mich brauche ich. Hier in diesem vollen Schiff mehr denn anderswo.
Diablo hat es übrigens auch noch nicht aufgegeben, mich in seine Kabine zu locken. Unterdessen wird er schon sehr poetisch: "que linda eres, un beso de tus labios y me siento en cielo." Ich brauche ihn, um meinen Laptop immer wieder aufzuladen und immer wenn er mich sieht, fragt er mich, ob ich jetzt Zeit hätte.
Mittendrin sitzt einer mit einer Infusion
Heute Nacht ist nicht nur die Frau wieder verschwunden, die sich zwischen Raissa und mich gedrängt hatte, auch andere Personen verlassen das Schiff. Zwar kommen auch immer wieder welche dazu, aber das Gedränge lässt etwas nach. Die beiden Hängematten, die mir die Sicht auf den grossen Spiegel an der Wand verdeckt hatten, sind auch wieder weg und ich kann meine Männerstudien fortsetzen. Es sind nämlich vor allem Männer, die vor dem Spiegel stehen bleiben. Ein kurzer kritischer Blick, einmal mit den Fingern durch die Haare streichen, die Mütze zurechtrücken, den Bauch einziehen und mit einem befriedigten letzten Blick auf das Spiegelbild, gehen sie weiter. Es amüsiert mich ungemein, wenn ich diese Zeremonie diskret aus meiner Hängematte beobachten kann. Einmal hat mich einer entdeckt und mir ein stolzes Lächeln geschenkt.
Mein Blick zum Spiegel
Heute bleibe ich vorwiegend unter Deck. Der Sonnenbrand von gestern ist doch unangenehmer als ich zuerst glaubte. Aus dem Spiegel starrt mir ein rotes Monster entgegen und es ist nichts mit dem stolzen Blick, den ich bei den Männern immer wieder sehe. Im Gegenteil, ich komme mir wie eine Kombination von Stink- und Faultier vor.
Die Waren für das Dorf sind bereit zum Ausladen
Das Dorf erwartet uns schon
Biernachschub
Kapitän Diablo überwacht das Ausladen
und da ist noch einer, der alles genau wissen will
Immer wieder legen wir bei einem kleinen Dorf an. Da werden Waren für den Dorfladen ausgeladen. Besen, Toilettenpapier, Schachteln, Süssgetränke und immer viel Bier. Und kaum legen wir an, stürmen die Verkäufer herein. Ich kaufe kleine Bananen, denn die haben mir bisher meistens das Frühstück ersetzt. Und ich lasse mir von einer Frau mit einer Machete eine Kokosnuss schälen. Mit einem Plastikröhrchen trinke ich die süsse Kokosmilch und esse einen Teil des frischen Kokosfleisches. Mit solchen Einlagen komme ich gut über den Tag und streike bei der Essensausgabe. Nicht dass es nicht schmecken würde, aber ich bin im Essen eben nicht ganz so abgebrüht, wie es manchmal den Anschein hat. Und ich habe etwas Mühe, mit dem Einheitsgeschirr in das man das Essen aufhäuft und mit dem Löffel isst. Ausserdem sind die Portionen riesig.
In der Küche werden Fische geschuppt
und Bananen geschält
Heute Abend gibt es übrigens Fisch. Ich wollte noch eine Foto von den Hühnern im Unterdeck machen, aber da gibt es keine mehr. Der Verschlag ist weg, der Boden gesäubert. Es hat wie vermutet keines überlebt. Ich frage in der Küche nach. Man hat heute in einem der Dörfer Fische gekauft und die werden jetzt den ganzen Nachmittag ausgenommen und geschuppt. Das Werkzeug, das die beiden Hilfsköche fürs Schuppen verwenden? Ein gewöhnlicher Löffel!
Fast hätte ich von der Händlerin aus dem Dorf einen grossen gebratenen Fisch gekauft. Aber irgendwie fehlten mir der Mut und das Geschirr dazu. Die gebratenen Fische werden warten müssen, bis wir in Iquitos eintreffen. Das soll übrigens am Sonntag-Morgen um 10.00 Uhr sein. So hat es jedenfalls Hans gesagt. Jemand anderen habe ich nicht mehr gefragt. Mag im Moment nicht rätseln, welcher der vielen Antworten, die man auf eine einfache Frage erhält, ich glauben soll.
Bei Per und Anne-Maria war ich am Nachmittag auch noch eine Stunde zu Besuch. Anne-Maria geht es zum Glück wieder besser, das Schlimmste scheint überstanden. Ich habe ihnen die Geschichte meiner Lodge erzählt. Sie amüsierten sich vor allem über die Müsterchen aus der Planungsphase. Ich hoffe, dass wir morgen während des Tages daran vorbei fahren, so dass ich sie sehen kann.
Bei Per und Anna-Maria
Juan nennt mich heute immer wenn er mich sieht: Naranjita. Es dauert eine ganze Weile bis ich begreife was er meint. Er weiss, dass ich auch noch ein oranges Poloshirt habe. Er hatte das grüne ausgewählt, aber das hat er gestern gewaschen. Und jetzt würde ihm das orange eben doch gefallen. "Tut mir leid, Juan, das habe ich heute Morgen Hans geschenkt". "Schade", meint Juan. Den Namen werde ich jetzt wohl behalten. Naranjita, kleine Orange.
Am Abend mache ich mit den Kindern wieder Kino. Wenn es dunkel wird, setzen wir uns hinter den Steuermann ins Steuerhaus. Da gibt es eine Steckdose, und ich kann so ganz nebenbei meinen Laptop wieder aufladen, während wir uns zusammen Schneefotos ansehen. Sie bedrängen mich schon den ganzen Tag. Sie wollen aber auch sehen, was ich im Laufe des Tages auf dem Schiff aufgenommen habe und amüsieren sich köstlich, wenn sie sich selber in den Bildern wieder entdecken.
Spät abends kommt noch einmal Besuch. Gilberto will sehen, wie es mir geht. "Wie kannst du in diesem Lärm einschlafen?" fragt er mich. Irgendwo plärrt immer ein Radio, Kinder spielen, ein Bebe weint, Männer plaudern. Und über alles dröhnt der Motor des Schiffes, knarren die Gestänge über mir. Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich einen grossen alten Fussballkasten, an dem mehrere Leute hebeln und Tore schiessen. Ich weiss nicht, woher dieses Bild kommt, aber es drängt sich immer wieder auf, wenn ich mich mit geschlossenen Augen auf die Geräusche konzentriere. Wie ich da einschlafen kann? Ich schliesse die Augen, verschliesse die Ohren, ziehe die Decke über das Gesicht, damit ich die Lampe nicht mehr sehe, die weiter hinten noch brennt und lasse mich von Gilberto sanft in den Schlaf schaukeln. Eigentlich braucht es gar nicht viel, um glücklich zu sein.
Aufbruch: | 29.05.2010 |
Dauer: | 3 Wochen |
Heimkehr: | 20.06.2010 |