Reisebericht nach Kabul Afghanistan November 2005

Reisezeit: November 2005  |  von Andreas Timmler

Ankunft in Kabul / die ersten Eindrücke

:: Donnerstag, 3. November 2005

Auch nach Mitternacht war an Schlafen nicht zu denken, da sowohl der kleine Qasem, als auch die neben uns sitzenden Leute in sehr lautem Ton unterhielten. Laut den Monitoren im Flugzeug befanden wir uns irgendwo in der Nähe von Kiev. Ca. 2 Stunden vor der Landung in Kabul, kurz nach Sonnenaufgang, schliefen wir jedoch ein.

Wir wurden durch die Crew geweckt und uns wurde ein Frühstück serviert. Eine besondere Aufregung machte sich bei Falk und seiner Pflegtochter Fatima breit, gab es in den vergangenen drei Jahren der Behandlung in Deutschland doch keinerlei Kontakt zu Fatimas Familie. Über einen Mittelsmann hatten wir im Vorfeld versucht, mit dem Vater in Kontakt zu treten und ihm mitzuteilen, dass seine Tochter am 03.11.2005 in Kabul ankommen werde. Würde diese Nachricht bei Fatimas Familie angekommen sein? Würde ihre Familie schon am Flughafen auf sie warten? Wie würden die Reaktionen sein, wenn Fatima ihre Familie nach drei Jahren zum ersten Mal wieder sehen würde? Wie würde die Verständigung klappen, da sie in diesen drei Jahren ihre Muttersprache Dari (Farsi) komplett verlernt hatte? Auf Grund dieser besonderen Situation war die Aufregung mehr als verständlich.

Um ca. 8 Uhr am 03.11.2005 sind wir dann in einer völlig anderen Welt gelandet. Die Eindrücke am Kabul International Airport waren sehr abenteuerlich. Nach wie vor stehen dort noch sehr viele Flugzeugwracks und ausgebrannte Hubschrauber herum. Auf dem Flugfeld wurden wir schon vom Vater der elfjährigen Morsal empfangen, der dort als Angestellter in leitender Position arbeitet. Im Flughafengebäude herrschte das reinste Chaos, bestehend aus ankommenden Passagieren, Flughafenmitarbeitern und Gepäckträgern. Unser Mitarbeiter vor Ort - Sadeq - und der Vater von Morsal lotsten uns an der Visastelle und Passkontrolle vorbei, was den Ablauf sehr vereinfachte. Das Gepäckband, das gerade mal eine Länge von ca. 25 Metern hat, war umgeben von afghanischen Männern, die die Gepäckstücke an sich rissen.

Trotzdem gelang es uns, alle 43 Gepäckstücke von uns zu ergattern und zu sichern. Der Tross aus jetzt sechs Erwachsenen und sechs Kindern und allen Gepäckstücken begab sich langsam aus dem Flughafengebäude hinaus auf den Vorplatz, wo bereits ein alter Toyotabus auf uns wartete.

Verladen von Gepäck auf afghanische Art

Verladen von Gepäck auf afghanische Art

Unserem europäischen Empfinden nach hätten eigentlich noch drei weitere Busse folgen müssen, aber in Kabul "ticken" die Uhren etwas anders. Alle Gepäckstücke wurden sehr abenteuerlich in und auf dem Dach dieses Busses verladen und mit einigen wenigen Schnüren gesichert. Unterdessen verabschiedeten wir Morsal, die direkt vom Flughafen ihren Eltern übergeben werden konnte. Von Fatimas Verwandten war weit und breit keine Spur zu sehen. Die Bitte des Fahrers, in diesen Bus einzusteigen, wirkte eher wie ein schlechter Scherz, nach einigen Versuchen aber saßen bzw. lagen wir übereinander gestapelt in diesem Fahrzeug, das beschriftet war mit "EMERGENCY - life Support for civilian war victims". Ehrlich gesagt, fühlten wir uns zu diesem Zeitpunkt eher als Empfänger dieses "life Supportes" als Geber... Zur weiteren Absicherung unserer auf dem Dach befindlichen Gepäckstücke saß der Sohn von Sadeq auf dem Dach des Busses, was das unglaubliche Bild perfekt abrunden musste.

Verabschiedung von Morsal

Verabschiedung von Morsal

Vom Flughafen ging es auf direktem Weg zum Haus unseres Mitarbeiters Sadeq. Dort angekommen wurden wir zuerst in das Haus gebeten und wurden mit Tee, Gebäck, Nüssen, Mandeln, Pistazien und verschiedenen Kichererbsen versorgt. Nach dieser ersten Verpflegung und dem ersten Smalltalk wurde uns ein sehr delikates, afghanisches Mittagessen, bestehend aus Reis, Gemüse und verschiedenem Fleisch, serviert. In der Runde in dem Raum waren - wie für Afghanistan üblich - nur Männer.

afghanische Leckereien

afghanische Leckereien

Nach längeren Gesprächen und dem Sortieren des Gepäckes wurden dann Qasem und die kleine Nadia von Ihren Vätern abgeholt.

Verabschiedung von Qasem

Verabschiedung von Qasem

Aus tiefer Dankbarkeit des Vaters von Nadia wurden wir mit Glitzer-Konfetti überstreut, ein afghanischer Brauch, der eine tiefe Dankbarkeit ausdrücken soll. Diesem Konfetti sind wir in den Folgetagen immer wieder begegnet, da dieser sehr auf unserer Haut klebte.

Abschied von Nadia und ihrem Vater

Abschied von Nadia und ihrem Vater

Später brachen wir mit zwei Fahrzeugen auf, um im Deutschen Hof, unserer Unterkunft für eine Woche, die Zimmer zu belegen. Die "Straßen" in Kabul kann man nur sehr schwer beschreiben. Teilweise ist zwar eine Asphaltdecke vorhanden, der größte Teil der Straßen ähneln jedoch eher großen Feldwegen, bestehend aus Schlaglöchern, kleinen Felsbrocken, und unendlich viel Dreck und Staub. Die Verkehrsregeln, die jeder Fahrer für sich selbst aufstellt, sind eigentlich recht einfach: Die lauteste Hupe und der dreisteste Fahrer hat immer Vorfahrt. Alle Hupen sind sehr laut und alle Fahrer sind sehr dreist. Der Verkehr ist ein unbeschreibliches Chaos ohne irgendeine Struktur. Bei der hier herrschenden Anarchie müssten schwere Unfälle an der Tagesordnung sein. Doch durch den massiven Einsatz von Hupe, Lichthupe, Warnblinker und teilweise von Schlagstöcken der Verkehrspolizisten werden etliche Craches vermieden.

Auf dem Weg zum deutschen Hof

Auf dem Weg zum deutschen Hof

Nach dem Einchecken im Deutschen Hof Kabul konnten wir nachmittags noch zwei Familien besuchen. Ein Hauptgrund unseres Einsatzes in Kabul war dieses Mal die Besuche von ehemaligen Kindern. Wir wollten uns erkundigen, wie es den Kindern nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan ergangen ist. Außerdem hatten wir sehr viele Geschenke der deutschen Gastfamilien erhalten, die wir gerne an die Kinder weiterleiten wollten. Auf der Fahrt zur ersten Familie ging es quer durch Kabul und wir konnten erste Eindrücke der vom Krieg so sehr gezeichneten Stadt aufnehmen. Es war erschreckend, wie ein Großteil der Häuser immer noch - 4 Jahre nach Ende des Krieges - aussehen. Besonders hat sich der Anblick des ehemaligen Präsidentenpalastes eingeprägt, von dem wirklich nur noch zerbombte Reste und Ruinen übrig geblieben sind.

die Ruinen des ehemaligen Präsidentenpalastes

die Ruinen des ehemaligen Präsidentenpalastes

Sehr angenehm empfanden wir die unglaubliche Gastfreundlichkeit der afghanischen Familien. So wurden wir immer wie absolute Ehrengäste empfangen. Nach den offiziellen und herzlichen Begrüßungen bei den Familien wurden wir in das Wohnzimmer gebeten. Wohnzimmer in Afghanistan bestehen aus einem großen roten Teppich, der den gesamten Boden des Raumes bedeckt. Rundherum ist der Raum mit Polstern ausgestattet, auf denen man im Schneidersitz Platz nimmt. In der Mitte des Raumes werden die bereits erwähnten afghanischen Leckereien serviert. Generell nehmen Frauen und Mädchen nicht an diesen Treffen teil, sie halten sich in dieser Zeit in anderen Räumen auf. Da nur die wenigsten Häuser mit Strom ausgestattet sind, werden bei anbrechender Dunkelheit Kerzen oder Gasbrenner angezündet, was der Situation eine sehr ruhige und angenehme Stimmung verleiht.

Andreas und Alex mit einem afghanischen Gastgeber

Andreas und Alex mit einem afghanischen Gastgeber

Auf der Fahrt zur zweiten Familie, die wir an diesem Tag noch besuchen wollten, sind wir wieder in das unglaubliche Verkehrschaos geraten, so dass wir für die ca. fünf Kilometer lange Strecke über eine Stunde benötigten. Mit einbrechender Dämmerung wirkt die Kulisse in den Straßen wie in einer Stadt bei einem Vulkanausbruch. Der unglaubliche Staub, verbunden mit den manchmal vorhandenen Scheinwerfern der Autos, gibt einen gespenstischen Blick auf die Straßen und kaputten Häuser.

Szenen wie nach einem Vulkanausbruch

Szenen wie nach einem Vulkanausbruch

Trotz der sehr ungemütlichen Fahrt gewann teilweise die Müdigkeit die Oberhand, so dass Alex, Falk und Fatima es schafften, trotz der Unannehmlichkeiten einzuschlafen.

Fatima im Taxi

Fatima im Taxi

Der Besuch der zweiten Familie gestaltete sich wie schon gehabt. In einer Männerrunde wurden wir wieder vorzüglich versorgt. Nach diesen ersten Erlebnissen sehnten wir uns sehnlich nach der Ruhe im Deutschen Hof, wo wir den Tag bei einigen kühlen Getränken ausklingen lassen konnten. Eine Frage, die uns alle sehr beschäftigte war, was mit Fatimas Familie los sei. Würde die Familie vielleicht am kommenden Tag kommen?

© Andreas Timmler, 2005
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Erfahrungen aus Afghanistan anlässlich eines humanitären Hilfseinsatzes für kranke und verletzte Kinder
Details:
Aufbruch: 02.11.2005
Dauer: 8 Tage
Heimkehr: 09.11.2005
Reiseziele: Afghanistan
Der Autor
 
Andreas Timmler berichtet seit 18 Jahren auf umdiewelt.
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