Reisebericht nach Kabul Afghanistan November 2005
Erschreckende Szenen im Kinderkrankenhaus
:: Montag, 7. November 2005
Heute war frühes Aufstehen angesagt. Der komplette Tag war reserviert für die Untersuchungen zusammen mit Dr. Sharif, dem Chefarzt der kinderorthopädischen Abteilung des Indira-Ghandi-Kinderkrankenhauses und mit Frau Dr. Zubaida, der Kinderkardiologin. So machten wir uns dann, bewaffnet mit der kompletten Fotoausrüstung von Alex, den mitgebrachten Medikamentenpaketen für das Kinderkrankenhaus, unseren Patientenblättern, Kartons mit Spielsachen und diversen Hilfsmitteln wie Taschenlampen usw. auf den Weg zum Kinderkrankenhaus. Dort angekommen wurde uns bewusst, dass bereits viele Eltern mit ihren Kindern auf uns warteten. Sowohl vor dem Krankenhaus als auch in einem riesigen Wartezimmer warteten mehrere Dutzend Menschen auf den Beginn der Untersuchungen. Wir konnten auf Grund der Menschenmenge nicht schätzen, um wie viele Patienten es sich handeln würde. Nach dem sehr freundlichen Empfang durch die beiden Ärzte begaben wir uns in das Zimmer des Vize-Direktors der Klinik, in welchem die Untersuchungen stattfinden sollten.
Im Untersuchungszimmer des Indira-Ghandi-Kinderkrankenhauses von Kabul
Die Kinder mit ihren Eltern wurden mehr oder weniger nacheinander in das Untersuchungszimmer gelassen, wo wir uns versammelt hatten, um die Untersuchungen durchzuführen. Wir hatten schon im Vorfeld besprochen, wer welche Aufgaben an diesem Tag übernehmen sollte. So war Alex für die Erstellung der medizinischen Fotos zuständig, Falk für die Erfassung der Patientendaten in den Patientenblättern, Fatima und ich für die Ausgabe der Geschenke für die Kinder nach den erfolgten Untersuchungen.
Alex dokumentiert die Patienten auf Fotos
Markus besprach die untersuchten Fälle sofort mit den beiden Ärzten. Die schwierigste Situation für alle Beteiligten bestand in der Vorauswahl der Kinder, denen wir eine medizinische Behandlung in Deutschland anbieten können würden. Viele dieser Kinder litten gleich an mehreren Krankheiten, So sahen wir etliche Verbrennungsopfer, Kinder mit starken Verbrennungen nach einem Stromunfall, sehr viele Kinder mit Osteomylitis (Knochenentzündung), Kinder mit Knochenfehlstellungen, die entweder angeboren waren oder durch fehlende Versorgung nach Knochbrüchen entstanden sind und leider auch sehr viele Kinder mit teilweise äußerst schweren Herzfehlern, die man ihnen durch die Blaufärbung des Gesichtes schon von Weitem ansah.
schwere Verletzungen nach einem Stromunfall
Bei einigen Kindern benötigten wir für eine weitere Analyse und anschließenden Diagnose noch weitere Untersuchungen (Blutuntersuchungen, Röntgenbilder etc.). Da diese Untersuchungen in Afghanistan nicht kostenlos durchgeführt werden, gaben wir diesen Patienten das benötigte Geld für die Untersuchung und baten darum, uns die Ergebnisse später wieder einzureichen.
angeborene Fehlstellung von Gliedmaßen
So wurden fast im Minutentakt die Kinder und ihre Eltern zu uns vorgelassen. Besonders betroffen waren wir von einigen Fällen meist sehr kleiner Kinder, die unter solch schweren Krankheiten (meist Herzfehlern) leiden, dass keine medizinische Hilfe, auch nicht in Deutschland, möglich ist.
In dem Bewusstsein, dass diese Kinder in Kürze sterben würden, versuchten wir trotzdem unserer Arbeit in Ruhe nachzugehen. Die Blicke der jungen Mütter werden wir jedoch nie vergessen können, wenn wir ihnen mitteilen mussten, dass keine Hilfe möglich ist. Sie hatten riesige Hoffnung geschöpft als sie hörten, dass Ärzte aus Deutschland in Kabul sind und eventuell Hilfe anbieten können. Wenn diese Hoffnung dann so abrupt zunichte gemacht wird, bricht für viele dieser Frauen verständlicherweise eine Welt zusammen. Es machte aus unserer Sicht jedoch auch keinen Sinn, bei hoffnungslosen Fällen einer Hoffnung Nahrung zu geben und diese dann später zunichte machen zu müssen.
für diese Mutter bricht eine Welt zusammen
So erlebten wir bei diesen Untersuchungen eine derart große Differenz von Gefühlen, die wirklich nur schwer zu verarbeiten ist. Alle Daten der Kinder, für die eine Behandlung zumindest medizinisch möglich ist, wurden genau erfasst. Die mitgelieferten Untersuchungsergebnisse wie Röntgenbilder usw. wurden zu dem jeweiligen Patientenblatt sortiert und so vergingen etliche Stunden.
Nach dem Mittagessen führten wir die Untersuchungen der Kinder fort. Am Nachmittag beendeten wir dann diese Untersuchungen, da Dr. Sharif mit uns noch seine Station in der Kinderorthopädie besuchen wollte, wo es auch etliche Patienten gäbe, denen er mangels Material nicht helfen könne. Der allgemeine Zustand des Kinderkrankenhauses selbst war eine Reise in die tiefste Vergangenheit. Die Gänge, die sanitären Anlagen waren in einem erbärmlichen Zustand. Es fehlt dort wirklich an Allem, selbst an einfachen Sachen wie Reinigungsmöglichkeiten. Auch die angebotene Toilette der Ärzte und Klinikleitung verbesserte unseren Eindruck nicht. Wir fragten uns, wie Patienten in dieser Umgebung genesen können. Unser Weg führte uns durch einige Gänge der Klinik, durch ein Treppenhaus zur orthopädischen Station. Dort machte sich schon auf dem Flur ein eigentümlicher Geruch bemerkbar und die Zustände waren noch schlechter, als auf den bisher gesehenen Fluren des Krankenhauses. In den Zimmern standen jeweils sechs "Betten", die mehr alten Feldmatratzen ähnelten, mit jeweils einer Bank daneben, auf der die Mutter des jeweiligen Kindes saß. Die Kinder und auch die Mütter wirkten sehr verstört.
Mitten in unseren Untersuchungen auf der Station erhielten wir die Nachricht, dass Fatimas Vater angekommen sei. Sofort machten Falk, Fatima und ich uns auf den Weg aus dem Krankenhaus hinaus auf den Vorplatz. Ein echtes Wunder war geschehen. Neben dem Vater von Fatima waren auch noch eine Schwester, ein Freund des Vaters und weitere Verwandte aus Shebar angereist. Wir waren sehr froh, endlich den echten Vater des Mädchens vor uns zu haben. Nach den ersten tränenreichen Begrüßungen erhielten wir einen Einblick, wie der Vater von der Rückkehr seiner Tochter erfahren hatte. So war der Vater der festen Überzeugung, Fatima würde nicht mehr leben, weil er in den vergangenen drei Jahren mehrfach versucht hatte, Kontakt zu seiner Tochter zu bekommen, was ihm leider nicht gelungen ist. Umso größer war der freudige Schock beim Anruf des ominösen Onkels bei einem afghanischen Mann in dem Dorf des Vaters, der mitteilte, dass Fatima in Kabul angekommen sei. Sofort habe er sich auf den Weg gemacht, um seine Tochter in Empfang zu nehmen. Alle bisherigen Versuche unsererseits, den Vater von der Rückkehr seiner Tochter zu unterrichten, waren also gescheitert.
Fatimas Familie ist endlich angekommen
Wir erfuhren, dass es dem Vater nicht gut geht und er unter Herzproblemen leide und außerdem eine halbseitige Lähmung hat. Wir vereinbarten, dass Fatima den Nachmittag mit ihrer Familie verbringen und sie abends zusammen zum Deutschen Hof kommen solle, um Fatimas Gepäck mitzunehmen. Erstaunlicherweise ging Fatima frohen Mutes mit ihren Verwandten mit. Welche Gefühlswelten das Treffen des Vaters mit seiner Tochter nach drei Jahren verursacht hat, kann kaum erahnt werden. Wir begaben uns ohne Fatima wieder zurück auf die Station der Kinderorthopädie.
Was uns in den einzelnen Zimmern erwartete, kann mit Worten nicht beschrieben werden. Bei dem ersten Fall, den wir sahen, handelte es sich um einen ca. zehnjährigen Jungen, der vor drei Wochen von einem Baum gefallen war. Sein Unterarm war mit einem Verband verbunden. Unter unbeschreiblichem Wimmern des Jungen wurde dieser Verband mehr oder weniger sanft entfernt. Zum Vorschein kam eine normale Mullauflage, die sich offensichtlich mit einer offenen Wunde verbunden hatte. Die gesamte Mullauflage war rötlich-gelb durchtränkt. Zur Entfernung dieser Mullauflage forderte der Arzt eine Pinzette an. Diese rostige Pinzette wurde ihm in einer übel aussehenden Schale gereicht und er machte sich an die Entfernung der mit Blut und Eiter durchtränkten Auflage. Uns stockte der Atem. Was musste dieser Junge durchmachen? Welche Schmerzen musste er erleiden? Die Elle des Armes schaute aus einer ca. zehn cm großen offenen Wunde am Handgelenk heraus. Die gesamte Wunde um den Knochen hatte sich stark entzündet und begann, sich aufgrund des Faulungsprozesses immer weiter und tiefer fortzusetzen. Das gesamte Fleisch in dieser Wunde war nicht mehr existent. Uns wurde schnell klar, woher der Geruch vom Flur kam. Hier auf dem Zimmer intensivierte sich dieser Gestank ins Unermessliche. Alex hatte den schwierigsten Teil in diesen Momenten und keiner von uns wollte mit ihm tauschen. Er musste von dieser Wunde medizinische Fotos anfertigen und sich demzufolge sehr nah an die eiternde Wunde heranbegeben. Alex weiß bis heute nicht, wie er die Fotos erstellt hat, aber durch Zähne zusammenbeißen hat er es geschafft, die Übelkeit für einen Moment zu vergessen. Der nächste Fall eines ca. dreizehnjährigen Mädchens stand dem Vorangegangenen in Nichts nach, im Gegenteil, es sollte noch wesentlich schlimmer kommen. Nach einem Autounfall mit schweren Quetschungsverletzungen wurde dem Mädchen ein Fixateur eingesetzt, der die Knochen des Fußes wieder in die richtige Stellung zum Bein setzen sollte. Durch die ebenfalls offene großflächige Verletzung, lag das gesamte Sprunggelenk und Teile des Fußes offen vor uns. Die gesamte Wunde war hochgradig infiziert und wir sahen überall nur das rohe Fleisch, Sehnen, Gelenke und Knochen, die insgesamt sehr eitrig waren. Die Entfernung des Verbandes verlief ähnlich wie bei dem Jungen. Ein Wunder war für uns alle, dass diese Kinder nicht vor Schmerzen wahnsinnig geschrieen haben, aber wahrscheinlich hatten die Kinder dazu nicht mehr die Kraft.
unbeschreibliche Zustände auf der kinderorthopädischen Station
Die meisten von uns hatten in vorangegangenen Hilfsaktionen schon viel gesehen, die Erlebnisse dieses Tages jedoch waren für alle sehr schwer zu verkraften. Wir wussten nicht, ob wir heulen oder uns übergeben mussten.
Wir fragten Dr. Sharif, warum diesen Kindern nicht geholfen werden kann. Er erklärte uns, dass eine Operation zum Richten der Knochen fachlich ohne Probleme möglich sei, er bräuchte dazu allerdings Material, wie Nägel, Kürschnerdrähte usw. Da dieses Material jedoch nicht zur Verfügung steht, könne er auch nicht operieren. Das Einzige was er tun kann, sei eine notdürftige Wundversorgung. So lägen diese Kinder so lange mit ihren offenen Wunden auf seiner Station in der Hoffnung, dass irgendwann Hilfe aus dem Ausland kommt, sei es durch Lieferung von OP-Materialien oder durch Abholung der Kinder zur Behandlung im Ausland. Wenn diese Hilfe jedoch zu lange auf sich warten ließe, bliebe ihm keine andere Wahl, als die betroffenen Gliedmaßen zu amputieren. Ein sehr erschreckender Zustand... und dass nur 6-7 Flugstunden von Deutschland entfernt...
Nach diesem Untersuchungsmarathon verabredeten wir uns mit Dr. Sharif und Dr. Zubaida für den nächsten Tag, um weitere Kinder untersuchen zu können.
Zurück im deutschen Hof erwartete uns bereits Fatima mit ihren Verwandten. Sie schien glücklich und zufrieden zu sein, was uns sehr froh stimmte. Nach weiteren Gesprächen mit dem Vater, bei denen die weiteren notwendigen Behandlungen von Fatima abgestimmt wurden und er auch gebeten wurde, wegen seines eigenen Gesundheitszustandes morgen zur Untersuchung ins Krankenhaus zu kommen, verabschiedeten wir die gesamte Familie.
Aufbruch: | 02.11.2005 |
Dauer: | 8 Tage |
Heimkehr: | 09.11.2005 |