Burgund - Kernland des europäischen Mittelalters
Vézelay
Inzwischen ist es für diese Jahreszeit wieder außergewöhnlich heiß geworden. Auf einsamer Landstraße erreichen wir Vézelay und die nur 500 Meter von der Stadt entfernte Auberge de Jeunesse Camping Municipal de Sainte-Marthe (pro Nacht 13,50 €). Ein netter Campingplatz, auf dem auch viele Jugendliche Quartier bezogen haben.
Ein Fußweg führt in die Stadt, die ihre Blütezeit im 12. Jahrhundert erlebte. Steil führt die von kleinen Läden und Restaurants gesäumte Straße durch die Altstadt hinauf zur Basilika Ste.-Marie-Madeleine. Die Gebeinde der heiligen Magdalena werden als Reliquie in der Krypta aufbewahrt. Dies macht die Kirche auch heute noch zu einem wichtigen Wallfahrtsort.
Laut der Legende verbrachte Maria Magdalena nach ihrer Vertreibung aus Palästina dreißig lange Jahre als Büßerin in einer Grotte an der Côte d'Azur. Nach ihrem Tod sollen ihre sterblichen Überreste im 9. Jahrhundert nach Vézelay gebracht worden sein. Zur Aufbewahrung der Gebeine der heiligen Magdalena erbauten die Benediktiner diese ganz besondere Kirche.
Die Gläubigen wollten sich in der Nähe der sterblichen Überreste von Heiligen wissen, denn es war ihnen so möglich, die Realisation einer tatsächlichen Begegnung mit den Heiligen zu spüren. Hier in Vézelay machten auch viele Pilger halt, die auf dem Jakobsweg unterwegs nach Santiago de Compostela waren.
Die Kirchenfassade wird von großartigen Portalen durchbrochen. Im von Helligkeit durchfluteten Langhaus überrascht die Größe des Bauwerks. Unsere volle Aufmerksamkeit gilt den thematisch gestalteten Kapitellen.
Vézelay ist eine äußerst geschichtsträchtige Stadt. In der Benediktiner-Kirche hielt Bernhard von Clairvaux seine berühmte Predigt, in der er 1146 zum 2. Kreuzzug aufrief. 1190 vereinigten in Vézelay Philippe August und Richard Löwenherz ihre Heere, um zum 3. Kreuzzug aufzubrechen. Auch Ludwig IX., der Heilige, betete bei Maria Magdalena für das Gelingen seines Kreuzzugs. Seine Gebete wurden wohl nicht erhört, denn beim 6. Kreuzzug (1248 bis 1254) kam der französische König in Gefangenschaft und auf dem 7. Kreuzzug (1270) kam er in einer weiteren verlorenen Schlacht zu Tode.
Zu den Besuchern von Vézelay zählte auch Thomas Becket, der Erzherzog von Canterbury. Nach einem Streit mit dem englischen König Heinrich II. floh er 1164 hierher und kehrte erst 1170 nach England zurück.
Im Jahre 1217 wurde in Vézelay das erste Franziskanerkloster auf französischem Boden gegründet. Der Niedergang der mittelalterlichen Paradestadt setzte 1270 ein, als es plötzlich hieß, die Gebeine der Maria Magdalena seien nicht echt.
Vézelay war und ist eine Stadt der Kunst und Kultur. Als Führer durch die Stadt dient hier die Muschel, ein Verweis auf den Jakobsweg. Davon künden die vielen Galerien und Kunstläden sowie ein kultureller Leckerbissen, den wir uns auf dem Rückweg durch das Städtchen gönnen. Das von außen völlig unscheinbare Musée Zervos erweist sich als Überraschung. Über drei Etagen erstrecken sich die Ausstellungsräume mit Werken von Picasso, Giacometti, Kandinsky, Calder, Ernst, Miro und anderen, plus Garten, plus Kellergewölbe – dabei wäre schon allein der Besuch des schicken Klos den Eintritt von 5 € wert. Eine Sonderausstellung mit dem Titel „Les Années de Guerre“ ist der Gesamtschau des Werkes von Hans Hartung (1904 bis 1989) gewidmet. Für mich eine Neuentdeckung. http://www.hans-hartung.de/ Seine Lebenserinnerungen, die er in dem Buch Autoportrait veröffentlichte, wird als Lektüre vorgemerkt.
Das Musée Zervos befindet sich im ehemaligen Wohnhaus des Literaturnobelpreisträgers Romain Rolland (1866 bis 1944). Der Nobelpreis wurde ihm 1915 für seinen zehnbändigen Roman Jean Christoph zuerkannt. Damals hatte man wohl noch mehr Zeit fürs Lesen. Der Pazifist Rolland widmete sein gesamtes Leben der Friedens- und Völkerverständigung. Er war befreundet mit Maxim Gorki und schrieb 1923, nachdem er Gandhi persönlich getroffen hatte, eine Gandhi-Biographie.
1914 veröffentlichte er den Artikel Au-dessus de la mêlée (Über den Schlachten, auch übersetzt mit Über dem Getümmel). Ein Aufsatz, der besonders in diesem Jahr, in dem sich das Ende des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Male jährt, aktuell ist. Auch schon damals schürten Intellektuelle gnadenlos die Feindbilder und hetzten zum Krieg. Dagegen schrieb Rolland an: „Es ist schrecklich, inmitten dieser geistesgestörten Menschheit leben und ohnmächtig dem Bankrott dieser Zivilisation beiwohnen zu müssen. Dieser europäische Krieg ist seit Jahrhunderten die größte Katastrophe der Geschichte, das Ende der heiligsten Hoffnungen, die wir in die humane Zusammengehörigkeit der Menschen gesetzt haben“. Und weiter: „Dieses Monstrum mit hundert Köpfen nennt sich Imperialismus. Es ist dieser ehrgeizige Wille zur Herrschaft, der alles aufsaugen, sich unterwerfen oder zerbrechen will und keine freiheitliche Macht neben sich selbst duldet.“ Rollands Schriften fanden erst nach dem Krieg, als sie unter dem Titel Der freie Geist erschienen, ihre Würdigung, ebenso wie seine Idee eines Tribunal des Gewissens, die später im Völkerbund ihren Niederschlag fand. https://www.journal21.ch/romain-rolland-au-dessus-de-la-melee-1914 Auch Romain Rolland ist für mich eine Neuentdeckung.
Soviel Kultur macht hungrig. Wir genießen ein exzellentes Mittagsmenü im Restaurant A la Fortune du Pot am Place du Champ. Das bœuf bourgonge ist ein Gedicht, ebenso wie die flambierte crème brulée. (Zwei Menüs mit Wein und Wasser: 50 Euro)
Müde und satt zurück am Campingplatz erwarten uns voller Vorfreude aufs Gassigehen unsere beiden Hunde. Also nix mit Ausruhen. Spazierengehen ist angesagt! Wir laufen durch an die Hügel geschmiegten Weinberge. Die Rebstöcke hängen voller fetter weißer und roter Trauben. Die Lese ist in vollem Gange. Am gegenüberliegenden Hügel liegt Vézelay und grüßt herüber. Ein Walnussbaum lässt seine Früchte fallen und wir kehren mit reicher Ernte zurück zum Campingplatz. Hier ergibt sich allerdings ein kleines Problem: Unsere Hunde haben den Campingplatz zu ihrem Revier erklärt und versuchen jeden Neuankömmling wütend zu verbellen. Das muss schnellstens unterbunden werden.
Aufbruch: | 18.09.2018 |
Dauer: | 13 Tage |
Heimkehr: | 30.09.2018 |