Venezuela individuell April/Mai 2007
Tag 17 ... PSUV-Auftakt in Mérida
Ein Genosse von der KP Venezuelas will mich um 11 Uhr treffen, daher fällt meine Fahrt mit der Hochseilbahn Téleférico aus. Bis 11 Uhr besuche ich den Mercado Principal de Mérida an der Avenida de las Americas in Mérida. Dorthin kann ich downtown laufen, via Plaza de Sáez und dann über die grosse Brücke, von der aus sich ein super Ausblick in das gutbewaldete Tal eines Baches ergibt. Dort halten sich auch gerne etliche Vögel bis hin zu den Condoren auf, wie ich auf dem Rückweg dann noch gut mit der Handycam festhalten kann. Ich kaufe TShirts für 15.000 Bolivares mit Andenmotiven und Caps vom Copa de la América mit dem hübschen Papageienmotiv drauf. Für so einen Schal wollen sie 20.000 Bolivares. Viele hübsche Tongefässe sind zu schwer und zu zerbrechlich für Fluggepäck.
Um 11 Uhr treffe ich jenen Genossen. Er hat natürlich gar keine Zeit für mich und muss schon zum nächsten Termin auswärts mit seinem Auto hetzen. Die 15 Minuten bei einem Kaffee in einer Bäckerei mit mir werden zweimal durch Anrufe bei ihm unterbrochen. Was lässt sich da besprechen? Richtig, eigentlich nichts. Grrr!
Aber natürlich will er mich morgen nochmals sprechen, da hätte er hoffentlich etwas Zeit ... leider gibt es gerade so viel zu tun. Gerade??? Ihr werdet euch noch wundern, Genossen, wieviel Arbeit ihr euch aufhalsen könnt, wenn ihr weiter so powert in Richtung Sozialismus und die Arbeit nicht auf weitere Schultern verteilt ... meine Meinung ... . (Und ich habe die Problematik der "Multifunktionäre" in der DDR seinerzeit kennengelernt, auch wenn ich nie zu ihnen gehörte.)
Alirio verabschiedet sich rasch und springt in sein Auto. Ich nehme einen Bus zurück in das Stadtzentrum. Dort gehe ich in das Hotel, hole meinen Laptop, und gehe anschliessend in das Breitband-Internetcafe nahe der Plaza de Bolivar und der Banco de Venezuela. Danach gehe ich essen im "Café Doros", welches an der Plaza de Bolivar liegt. Anschliessend Geld abheben bei der Banco de Venezuela.
Ich bringe meinen Laptop zurück ins Hotel und ziehe mit meiner Handycam im TShirt der KP Venezuelas los zur Auftveranstaltung der PSUV in Mérida. An der Plaza de Bolivar treffe ich noch jemanden, der mich anspricht und den Ort dieser Veranstaltung sucht. Er glaubt nicht, dass dies in einem C.C. ist ... dies müsse doch öffentlich auf einem grossen Platz irgendwo sein! Schliesslich nimmt uns ein Diputado, ein Stadtparlamentsabgeordneter, zu dieser Veranstaltung mit.
Als ob sich die neugründende Partei verstecken müsste, findet das Ereignis in einem Saal im 3. oder 4. Stockwerk eines grossen Gebäudes statt. Alles nicht ausgeschildert, nicht sonderlich bekannt... . Was ist los mit den angehenden Sozialisten in Mérida?
Das Empfangskomitee bilden 4 hübsche jugendliche Damen in roten TShirts der Gobierno Bolivariano de Mérida (Bolivarianische Regierung des Bundesstaates Mérida). Bei ihnen muss sich mit Name und Ausweisnummer und Rufnummer einschreiben, wer teilnehmen will. Dann gibt es eine Mappe mit 2 Blättern Papier und einem Stift sowie Zutritt in den Plenarsaal. Der Raum ähnelt einem grossen Kino. Die Bühne ist mit roten Girlanden und Blumengebinden sehr geschmückt, der Präsidiumstisch mit rotem Tischtuch bedeckt, das Rednerpult wird vorbereitet und der Mikrofontest findet gerade statt. Noch, gegen 16.15 Uhr (offizieller Beginn ist 16 Uhr) ist der Saal fast leer. Sonderlich pünktlich sind die revolutionären Sozialisten aus der Anhängerschaft des Presidente nicht, da hat der Comandante wohl mehr eine noch recht spontane Truppe hinter sich. Immerhin füllt sich der 500-Leute-Saal binnen einer Stunde zu ca. 75%. Es werden rote Kappen ausgeteilt, auf denen vorne die Umrandung eines fünfzackigen Sterns in weiss und hinten Mérida prangt. Einige Teilnehmer können nicht genug von diesen Kappen bekommen, besonders ein Teilnehmer auf Krückstöcken bettelt um die 5. oder 6. Kappe ziemlich aufdringlich in Sicht- und Hörweite von mir. Ich schätze mich glücklich, als eine der Jungsozialistinnen, die die Kappen austeilen, auch mir eine solche Kappe reicht. Wie ich ja insgesamt auch noch 3 kleine Flaschen Gratis-Wasser abbekomme von dem, was sie dort so verteilen. Ein Blick auf das Etikett verrät mir, dass es nicht von der Marke Pepsi stammt, sondern eine venezolanische Marke ist.
Ich filme erst die aktiven Jungsozialistinnen bei ihrer Arbeit und schenke der hübschesten von ihnen ein TShirt, welches Bush zeigt und als Hauptgefahr der Menschheit darstellt und auf www.motherearth.org zu finden und zu bestellen ist. Dann filme ich den Saal und anschliessend die Reden, die gehalten werden. Die letzte Rede hält eine Frau namens Lily Varela, es ist inhaltlich die beste und leidenschaftlichste Rede. Der erste Redner ist der Gouverneur des Bundesstaates Mérida, der mit 50 Minuten viel zu lang spricht und nicht unbedingt den Nerv der Menschen trifft, auch meinen trifft er nicht. Er hatte mal ein Zweistundengespräch mit dem Presidente, soviel bleibt bei mir hängen. Der zweite Redner spricht nicht vom Pult aus, sondern nimmt das Mikrofon und wirkt stellenweise wie ein Entertainer. Er versteht, Reaktionen zu provozieren. Inhaltlich stellt er Bolivar über Marx, Lenin, Trotzki, Che Guevara, Mao und alle sonstigen Theoretiker der Linken und sieht darin die Theorie für die PSUV. Nun ja, Simon Bolivar ist in viele Richtungen interpretierbar, denke ich mal. Zuletzt darf endlich jene Frau sprechen, die offen Probleme anspricht und beim Namen Leute nennt, die einst beim Putsch gegen den Presidente in 2002 mithalfen und jetzt auf einmal so tun, als würden sie den Sozialismus und die Bolivarianische Revolution in Venezuela verteidigen wollen. Sie verlangt, solche Elemente schonungslos zu entlarven und nicht als Mitglieder der PSUV zuzulassen. Für mich ist diese Lily Varela eine überzeugende Revolutionärin. Ihre freie Rede ist die kämpferischste von allen mit dem meisten Beifall.
Eine ganz reizende Blondine hinter mir kommt mit mir zuweilen ins Gespräch. Sie meint, die Spaltungen innerhalb der Linken in Mérida seien längst nicht überwunden. Nennenswerte Fraktionen hätten sich dem Strassenkampf verschrieben, im Saal seien etliche Anhänger aus etlichen Institutionen. Beim Abschied hält sie mir ihre rechte Wange hin. Ich frage mich, wo es hier in Mérida Strassenkampf gibt ... .
Die kleine Jungsozialistin, der ich das TShirt geschenkt hatte, spricht mich noch an, bevor ich die Sitzreihe verlassen kann. Sie verabredet sich mit mir für morgigen Sonntag 10 Uhr im "Café Doros", sie will eine Kopie meines Filmmitschnitts auf DVD haben. Ob ich auch pünktlich da wäre ... aber ja doch, ich halte immer mein Wort und würde sie auch zum Frühstück einladen. Die Wange hält sie mir nicht hin... notiert sich aber meinen Namen.
Draussen ist es dunkel. Mir fällt ein, dass ich nur noch 3 DVD-Rohlinge habe und der Akku meiner Handycam leer war, als die Veranstaltung zu Ende ging und ich dort filmte. Ich habe Glück, jener chinesische grosse Laden an der Strasse Richtung Brücke unterwegs hat noch geöffnet und verkauft mir 20 DVD-Rohlinge für nur 1.500 Bolivares pro Stück, all die Telefonshops haben leider nur CD-ROM im Angebot. Beruhigt gehe ich in eine Pizzeria, die fast neben dem Hotel LA PEQUENA VENECIA liegt. Der Kellner gibt sich als Mitglied des MVR zu erkennen, einer früheren Partei aus revolutionären Anhängern des Presidente. Auch jener boheme-mäßig aussehende alternative junge Typ am Nebentisch sei ein chavista. Für 10.500 Bolivares erhalte ich eine riesige Käse-Schinken-Pizza, zwei kleine 0,25 Liter Flaschen Bier von der regionalen Sorte sowie 2 grosse Glas Wasser. Aus rein politischen Gründen gebe ich dem Kellner 20.000 Bolivares, davon also fast 50% Trinkgeld.
Da das Brennen einer DVD ca. 40 min dauert und es nach 21 Uhr ist, brenne ich so ziemlich die ganze Nacht hindurch an den 3 x 3 DVDs Filmaufnahmen von der Veranstaltung. Nichts mit Gut N8 also!!!
Aufbruch: | 26.04.2007 |
Dauer: | 4 Wochen |
Heimkehr: | 20.05.2007 |