Vietnam
Ankunft in Hanoi
2. Ankunft in Hanoi
Es geht eine zweispurige asphaltierte Straße entlang, die in der Mitte eine Leitplanke hat und somit noch halbwegs einer deutschen Kraftfahrstraße ähnelt. Damit hört die Ähnlichkeit auch schon auf. Bei 60 bis 70 Prozent der Fahrzeuge handelt es sich um Mopeds und Motorroller, die keineswegs nur die rechte Spur benutzen. Somit kommen die Autofahrer selten auf Geschwindigkeiten, die denen auf europäischen Schnellstraßen entsprechen. Etwa alle 2 Sekunden ertönt eine Auto- oder Mopedhupe und ich frage mich, ob bei diesem Konzert der jeweils Angehupte überhaupt weiß, daß er gemeint ist. Die meisten tragen auf dem Rad eine Baseballmütze, deren erkältungsvorbeugender Nutzen mir später auch noch klar werden soll. Beim Beobachten des Mopedverkehrs erfährt man bereits sehr viel über den Alltag der Vietnamesen. Mit Mopeds wird einfach alles transportiert, was draufgeht. Da sehe ich riesige Bananenstauden und Körbe, aus denen 10 lebende Gänsehälse herausragen und skeptisch die Fahrbahn betrachten. Da sitzen junge Damen lässig in ihren "Ao Dai"-Kleidern, seitlich auf dem Polster hinter ihren Fahrern. Ein Ao Dai ist ein ebenso traditionelles wie elegantes knöchellanges Frauenkleid mit Schlitzrock und einem, meistens helleren, Rock darunter. Auch der charakteristische Kegel-Strohhut, der "Non La", wird in Stadt und Land von vielen getragen. Auch vierköpfige Familien auf einem Moped sind keine Seltenheit: vorne der Vater, hinten die Mutter und in der Mitte zwei Kleinkinder. Die Landschaft um Hanoi ist flach, grün und es sind viele mit einem Non La behütete Landarbeiter zu sehen. Viele westliche Touristen hören bei einem solchen Anblick wohl schon das Rattern amerikanischer Huey-Hubschrauber. Ich persönlich möchte das Land an sich kennenlernen und nicht den Krieg. Der Himmel über Hanoi wird die meiste Zeit, die ich dort verbringe, grau und bedeckt sein. Als wir durch die Vororte kommen, sehe ich viele zwei- bis dreistöckige Wohnhäuser, die eher französisch als asiatisch wirken. Viele davon ragen einzeln mit ihren nackten Seitenwänden aus dem Flachland hervor; anscheinend waren sie mal Teil einer Häuserfront. Hanoi wurde ja um 1972 massiv von Amerikanern bombardiert - vielleicht ist dies die Ursache solcher Baulücken. Als wir den breiten gelben Song Hong, den "Roten Fluß", überqueren, bekomme ich zum ersten Mal eine Ahnung von der Weite und Wildheit vietnamesischer Landschaft. Dann überholen wir eine Hochzeitsgesellschaft. Das Brautpaar sitzt in einer Limousine und wird von einem hupenden Mopedkonvoi begleitet. Am Stadtrand von Hanoi verlassen wir die Fernstraße und fahren über holprige, ungepflasterte Sandpisten - mitten zwischen Geschäftshäusern und Marktständen hindurch. Die Luft bekommt jetzt einen richtigen Gelbstich, nicht zuletzt durch den von Lastwagen aufgewirbelten Straßenstaub. Hoffentlich finde ich in meinem Hotelzimmer ausreichend Sauberkeit und Komfort, denke ich bei dieser ersten hautnahen Konfrontation mit einem Entwicklungsland. Als verwöhnter Mitteleuropäer muß ich ja nicht gleich zum Hardcore-Globetrotter werden.
Je weiter wir in die Stadt vordringen, desto asphaltierter werden die Straßen. Und Hanoi wirkt im Inneren schöner und hauptstädtischer. Wir kommen am Kern der Altstadt vorbei und der Chauffeur weist mich auf den Hoan-Kiem-See hin. Das wohl bekannteste Panorama Hanois. Ein von Bäumen umsäumtes Gewässer mit einer Pagoden-Insel drin. Das Hotel liegt in einem geschäftigen, aber nicht so touristenbevölkerten Viertel. So stand es auf der hauseigenen Homepage, über die ich auch mein Zimmer gebucht habe. Wir kommen in eine Seitenstraße und als ich vor dem Hotel aussteige, stehe ich zum ersten Mal mitten im richtigen Vietnam: überall offene Läden, Kneipen und Suppenküchen. Vor und in den Gaststätten hockt man auf kindermöbelgroßen Stühlen und trinkt grünen Tee aus winzigen Porzellanbechern. Und die Straßenhändler und Lieferanten mit ihren Non-La-Hüten und zweikörbigen Tragestangen laufen in kleinen, schnellen Schritten kreuz und quer über Bürgersteig und Straßenrand. Der watschelnde Klang ihrer Sandalen ist eines der Geräusche, die mir noch lange nach meiner Reise in den Ohren klingen werden. Direkt auf der Eingangstreppe zum Hotel sitzt eine alte Frau mit einem Korb voller lebender Hühner. Aber die Zeit, solche Eindrücke auf mich wirken zu lassen, kann ich mir ja später nehmen. Die Empfangshalle des Hotels ist noch einigermaßen ansehnlich, aber als einer meiner Begleiter mit mir und dem Gepäck ins Treppenhaus kommt, beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Schlecht verputzte, zum Teil beschädigte Wände lassen das Haus nicht mehr so einladend wirken und das große, dunkle Schlafzimmer wecken in mir sofort Zweifel, ob ich hier wirklich die gebuchten vier Nächte bleiben soll. Vom Balkon des im vierten Stock befindlichen Zimmers habe ich einen ganz interessanten Blick auf die charakteristische Hanoier Nebenstraße, an der ich soeben ausgestiegen bin. Der für vietnamesische Stadthäuser typische große Balkon ist mit Blumenkästen und, leider recht schmutzigen, Stühlen und Tischen ausgestattet. Das Bad hat ein schwer verschließbares "Fenster" zum Treppenhaus, durch das Radiomusik und Küchengeräusche aus dem Hotel zu hören sind. Ich schalte die zerbrochene Badezimmerlampe an und lasse mir Wasser in eine extrem abgenutzte Wanne laufen. Egal, ich war vierundzwanzig Stunden unterwegs... Insgesamt wirkt das Hotel wie ein koloniales Bürgerhaus, das um 1900 sicher zu den besseren Hanoier Wohnstätten gehörte, aber spätestens seit dem Weggang der Franzosen immer nur notdürftig und mit Minimalaufwand renoviert wurde. Vom Zimmer aus rufe ich meine achteinhalbtausend Kilometer entfernte Mutter an. Sie sagt, ich klinge wie von nebenan. Auf dem Bett liegend grüble ich, ob ich mir dieses Hotel wirklich vier Tage lang antun soll. Ich habe ja für so lange gebucht, und die Leute sind mir bei einer kurzfristigen Reiseverschiebung bereits entgegengekommen. Zum Ausruhen bleibt nur kurze Zeit. Die Rezeption meldet sich telefonisch und sagt, ein Freund würde auf mich warten. Auch gut. Vielleicht ist etwas Ablenkung jetzt besser, als die muffigen Vorhänge anzustarren. Unten begrüßt mich Thanh, ein Bruder der Frauen, die in meinem Elternhaus arbeiten. Er hat einige Jahre in der DDR gelebt und spricht deutsch. Bei unserem ersten kleinen Spaziergang nimmt Thanh mich an die Hand - eine in Vietnam zwischen Männern normale Geste. Und das ist gut so: hier eine Hauptverkehrsstraße zu überqueren, erscheint mir auf den ersten Blick wie ein Vabanquespiel. Aber ich werde noch lernen, worauf es dabei ankommt. Die Temperatur an diesem Novembernachmittag ist sommerlich. Thanh geht mit mir in eins der Straßencafés und ich genieße den ersten vietnamesischen Kaffee. Er wird hier gern ganz stark und mit viel Zucker getrunken. Viele Straßen Hanois wirken schon recht modern. Boutiqen und Einkaufszentren westlichen Stils haben auch hier ihren Einzug gehalten. Aber der Zauber traditioneller asiatischer Geschäftigkeit hat auf mich nach Einbruch der Dunkelheit umso stärkere Wirkung. Die Gerüche, die ich auf dem Rückweg zum Hotel entlang der Läden wahrnehme, sind mit denen in deutschen China-Imbissen nicht zu vergleichen und fast nie unangenehm. Neben einheimischen Gewürzen, Früchten und Fleischgerichten sind es die Räucherstäbchen von Hausaltären, die hier die Luft beherrschen. Im Hotelzimmer, welches auch mein neuer Freund nicht gerade behaglich findet, besprechen wir den nächsten Tag. Wir wollen eine erste Spazierfahrt machen und dabei nach einem anderen Hotel suchen. Einen erholsamen Schlaf finde ich bei diesen Verhältnissen nicht. Auch das Straßengeräusch von den vielen Mopeds und Hupen läßt mich bis etwa halb eins nicht zur Ruhe kommen. Es ebbt dann aber erstaunlich schnell ab. Nicht jeder Tag kann Sonnenschein bringen, denke ich mir im Halbschlaf. Auch nicht auf einer so tollen Reise, wie es diese noch werden soll.
Aufbruch: | 22.11.2002 |
Dauer: | 4 Wochen |
Heimkehr: | 19.12.2002 |