Vietnam
Ein neuer Tag
3. Ein neuer Tag
Am nächsten Morgen, Sonntag, den 24. November 2002, holt mich Thanh ab und ich komme gar nicht erst auf den Gedanken, das Hotelfrühstück zu mir zu nehmen. Er fährt mit mir in eine nächsten Suppenküchen, wo man das hier typische Frühstück, die Nudelsuppe Pho, zu sich nimmt. Die Küche ist gut besucht. In Vietnam bevorzugt man in Gaststätten und Ladengeschäften Neonbeleuchtungen, was für uns zwar auf den ersten Blick etwas ungemütlich wirkt, aber die asiatische Geschäftigkeit irgendwie zu unterstreichen scheint. Zwar kann ich mich mit der aus glibbrigen Reisnudeln und trockenem Fleisch bestehenden Suppe noch nicht so recht anfreunden, aber der Hunger und meine an diesem Morgen erwachte Unternehmungslust gleichen den Appetitsmangel aus. Die Wirtin stellt meinem Freund gleich neugierige Fragen über mich. Wenn Asiaten ein Gespräch mit einem Fremden beginnen, dann in der Regel mit zwei Fragen. Nach dem Alter und nach dem Verheiratetsein. In Ostasien ist Heiraten und Kinderkriegen gewissermaßen eine gesellschaftliche Pflicht, deren Nichterfüllung zu eingehenden Befragungen über die Gründe führt. Das kann für Singles zu einer recht strapaziösen Angelegenheit werden. Mit der Antwort, daß Alleinleben im Westen nichts Ungewöhnliches ist, sind die Gesprächspartner aber meistens zufrieden. Dagegen finde ich es amüsant, die Frage nach meinem Alter richtig zu beantworten, weil die Reaktion fast immer ungläubiges Staunen ist.
Hanoi hat viele Grünflächen mit Bäumen. Auf unserem Streifzug in einem kleinen Park beobachten wir ein paar Kinder, die sich zu einem Musikzug formieren, aber wohl eher zur Übung, als zu einem offiziellen Anlaß. Da höre ich plötzlich von woanders her die vietnamesische Nationalhymne - die Melodie ist mir von einer Infoseite im Internet her vertraut. Eine schmuck weiß uniformierte Kapelle spielt zu einer Radrennmeisterschaft auf. Laut einem Schild handelt es sich um ein internationales Rennen. Die Rennstrecke führt auch am Hoan-Kiem-See vorbei, in dem sich die bereits erwähnte Pagodeninsel befindet. Thanh geht mit mir über eine bunte Holzbrücke dorthin und zum ersten Mal betrete ich ein Bauwerk dieser Art. Sowohl die Brücke als auch das Inselufer sind mit prächtigen Fahnen geschmückt. Durch die bunt verschnörkelten Tore und Türen gehen viele Sonntagsspaziergänger aus und ein. Im Innern einer solchen Pagode ist es meistens recht dunkel und es riecht nach altem Holz und Räucherstäbchen. Noch bin ich etwas zu sehr in Gedanken über mein Mißgeschick bei der Unterkunftssuche und kann die schönen Farben, Formen und Düfte nicht so unbeschwert auf mich wirken lassen. In der Pagode ist ein Ladengeschäft mit ganz netten Originalmalereien zu moderaten Preisen. Aber auch zum Kaufen habe ich noch nicht die Muße. Dazu werde ich gerade in Hanoi noch mehr als genug Gelegenheit haben. Einige hundert Meter von der Insel entfernt, ebenfalls am Seeufer, beginnt die Altstadt. Manchen geht es dort zu touristisch zu. Diese Ansicht kann ich nicht so nachvollziehen. Zwar laufen dort etwa zu einem Drittel Nichtasiaten herum, aber die Andenkenläden sind nicht in der Überzahl. Vielmehr findet man dort alle möglichen Arten von Geschäften, die keineswegs nur auf das Kaufverhalten von Touristen abgestimmt zu sein scheinen. Selbst in diesem Touristenviertel sind noch viele Straßenkneipen, die hauptsächlich von Einheimischen besucht werden. Nur die laufenden Postkartenhändler, Motorroller-Taxifahrer und anderen Nepper, die mir unter anderem "Are you looking for a woman?" zurufen, lassen mich spüren, daß Ausländer hier mehr wie anderswo als Geldquelle betrachtet werden. Die Altstadtstraßen sind schmal und lassen Autoverkehr kaum zu. Auch die Mopedfahrer müssen bei den vielen laufenden Korbträgerinnen und schlendernden Globetrottern vorsichtiger sein. In einer dieser Straßen begutachten Thanh und ich eines der Hotels, die mein Du-Mont-Reiseführer empfiehlt. Der Eindruck ist auf Anhieb angenehm: blitzsaubere, einfach und zweckmäßig eingerichtete renovierte Zimmer und superfreundliches Personal. Daß mein Freund mit ihnen in der Landessprache reden kann, gibt mir umso mehr das Gefühl, jetzt richtig in Vietnam angekommen zu sein. Sogleich reserviere ich eines der Zimmer mit interessantem Ausblick nach hinten, auf benachbarte Dächer und Dachgärten. Es kostet sogar fünf Dollar weniger als das vorige. Nur mein Gepäck muß ich noch holen. Im bisherigen Hotel angekommen, bezahle ich mein Lehrgeld für vier Übernachtungen und sage, daß ich woanders hingehe. Die Rezeptionsfrau tut mir fast leid, als sie ängstlich versucht, den Grund für mein vorzeitiges Verschwinden zu erfahren. Ich habe gelesen, daß Asiaten nicht gern frontale Kritik mögen und gehe, ohne zu antworten, schnell zum Taxi. Ich kann mir ja später in Ruhe überlegen, was ich denen ins Internet-Gästebuch schreiben soll. Angesichts dessen, daß sie mir beim kurzfristigen Umbuchen keine Schwierigkeiten gemacht haben, zahle ich den vollen Betrag und beschließe, nie wieder im voraus für mehrere Tage zu buchen. Jetzt warten erst einmal ein freundliches Zimmer und eine wohlverdiente Ruhepause auf mich.
Nachmittags lerne ich ein mit Thanh verwandtes Ehepaar kennen. Der Mann ist bei der "Geheimpolizei" tätig, wie Thanh mir sagt. Bei diesem Wort entsteht in mir zunächst Unbehagen, das aber schnell vergeht, als ich erfahre, daß er dem Drogendezernat angehört. Der Polizist trägt einen Trainingsanzug mit Werbung für Diebels-Altbier und gibt mir ein paar Tips für Ausflüge in die Hanoier Umgebung. Die berühmte Halong-Bucht mit ihren unzähligen Felseninseln habe ich ins Auge gefaßt; ebenso die sogenannte Trockene Halong-Bucht - ein ebenfalls felsiges Feuchtgebiet. Ein volles Programm habe ich an diesem Sonntag. Ziemlich bald nach dem netten Teetreff geht es abends zu einem anderen Familienteil. Ans Kraftradfahren bin ich nicht gewöhnt und Thanh fährt mich mit einem mir imponierenden Geschick selbst durch engste dunkle Gassen und Hinterhöfe. Nach dem Abstellen des Mopeds in der Dunkelheit öffnen wir eine Haustür und finden direkt dahinter eine freundliche Tischrunde. Eine weitere Schwester von Thanh leitet den Haushalt. Ihre vierzehnjährige Tochter freut sich, ihr Englisch mit mir trainieren zu können. Als sie mich nach meinen Hobbies fragt und ich ihr unter anderem "Singen" nenne, muß ich natürlich gleich eine Kostprobe geben. Sowas kommt in einem fremden Land immer gut an, wenn es zum Rahmen paßt, denke ich. Unter den anderen Gästen befinden sich ein stellvertretender Theaterdirektor und ein in Vietnam bekannter Filmschauspieler. Beide geben mir, wie hier beim Bekanntmachen oft üblich, ihre Visitenkarten. Nach dem Namen des Schauspielers werde ich nach meiner Heimreise im CD-Filmlexikon suchen, aber nicht fündig werden. Es gibt nicht viele vietnamesische Filme, die in Deutschland gezeigt wurden. Zwei landesübliche Tischsitten und -beigaben lerne ich heute abend kennen: andere geben mir, weil ich Gast bin, von ihrem Teller die besten Speiseteile ab. Und auf einem kleinen Beiteller finde ich mit Zitrone beträufeltes Salz. Darin kann ich die in großer Auswahl vorhandenen Fleisch- Fisch- und Geflügelteile eintunken. Bei einem Rundgang durch das Haus lerne ich die verstorbenen Eltern von Thanh kennen: auf einem großen, auf den ersten Blick kaminähnlichen Altar stehen Porträts von einem Mann und einer Frau in mittleren Jahren. Die Ahnenverehrung stellt in Vietnam einen grundlegenden Teil der Religiösität dar. Auch nicht mehr lebende Familienmitglieder werden in den Alltag ihrer Angehörigen einbezogen, sollen Freud und Leid der Familie teilen und erhalten Geschenke von ihren Nachkommen. Für den Ahnenaltar werden Fotos aus jüngeren Jahren bevorzugt, was also nicht unbedingt heißt, daß die Abgebildeten auch jung verstorben sind. Nach dem Essen fahren Thanh und ich zum Theater. Es handelt sich um eine Sondervorstellung: ein Konzert mit Musik des kaiserlichen Hofes von Hue. Hue war lange Zeit Hauptstadt und kaiserliche Residenz. Und zum Konzert tragen die Tänzer, Musiker und Sänger farbenprächtige, zeitgenössische Kostüme, wie ich sie bisher nur einmal in einer Pekingoper sah. Durch den Kontakt zum Theaterdirektor bekomme ich die Erlaubnis, zu filmen - ein tolles Geschenk, das ich auch nach meiner Rückkehr immer wieder genießen kann. Im Unterschied zur Pekingoper wird bei dieser Aufführung keine Handlung erzählt, sondern es handelt sich um zeremonienbegleitende Instrumentalmusik und Gesänge, die vermutlich Loblieder auf den Kaiser sind. Auch Gruppentänze sind zu sehen; teilweise mit akrobatischem Charakter. Das Zeremonienwesen hat im ostasiatischen Staatsverständnis eine tiefe, nicht nur äußerliche Bedeutung. Für einen Staatsgast im alten Asien war am Ausmaß der Pracht und an dem Rang der ihn empfangenden Personen sehr genau erkennbar, wie viel oder wie wenig Wertschätzung ihm tatsächlich entgegengebracht wurde. Der Einfluß Chinas und des Konfuzianismus wird hier sehr deutlich. Da wir in der zweiten Reihe sitzen, kann ich auch die schönen Frauengesichter mit der Kamera nah heranzoomen. Sie sind angenehmerweise nicht so stark geschminkt wie in chinesischen Opern und Zirkusdarbietungen. Zum Abschluß türmen sich etwa zwölf Männer und Frauen mit tulpenförmigen Windlichtern zu einer Pyramide, was von dem, fast ausschließlich asiatischen, Publikum mit tosendem Beifall bedacht wird. Nach diesem ereignisreichen zweiten Tag bin ich froh, in ein gepflegtes Schlafzimmer zurückkehren zu können.
Aufbruch: | 22.11.2002 |
Dauer: | 4 Wochen |
Heimkehr: | 19.12.2002 |