Schlüssel zum Paradies - Tor zur Hölle: die Apolobamba-Region, Bolivien

Reisezeit: August / September 2004  |  von Robert Rauch

Beginn der Expedition: 5. Tag - Anacondas und andere Tiere

Um halb sechs morgens ist das Lager abgebaut, gegessen haben wir auch schon. Jose trauert laut um seine schöne Windjacke und den Rucksack, aber ansonsten sind die Schreckgespenster der Nacht fast schon wieder vergessen.
Bei Tageslicht betrachtet ist der durch die Ameisen angerichtete Schaden geringer als befürchtet. Trotzdem wollen wir schleunigst weg und ziehen los.

Geraume Zeit laufen wir über ein langgezogenes, mit riesigen Urwaldbäumen bewachsenes Plateau über dem Fluss. Wir finden einen Flecken mit Orangenbäumchen. Das bedeutet, dass hier irgendwann in der Vergangenheit menschliche Wesen gelebt haben müssen, denn diese Pflanzen kommen im Wald nicht wild vor. Häuserruinen entdecken wir allerdings keine, die wird sich der Urwald mit seinen gefräßigen Polypenarmen längst wieder einverleibt haben, indem er jede Spur menschlichen Schaffens überwucherte.

Während eines kräftezehrenden Aufstiegs, der uns hoch über den Fluss führt entdecken wir einen "Arbol de Pan", einen Brotbaum, der Früchte trägt. Mit der Machete basteln wir uns lange Stangen mit Astgabeln an einem Ende, die als Widerhaken dienen. Mit ihrer Hilfe holen wir die langen schwarzen Fruchtschoten herunter, öffnen die harte Schale mit der Machete und essen uns schmatzend am wie frischer Brotteig schmeckenden Mark satt, in welches die harten, ungenießbaren Samen gebettet sind. Ein wahrer Festschmaus.

Etwa 500m über dem Fluss führt der Weg in steilen Serpentinen wieder ganz hinab zu einem ausgedehnten Schilfgürtel am Ufer. Wir müssen uns mit der Machete einen Weg durch das bis zu 6 Meter hohe und dichte Schilf bahnen. Dabei überraschen wir ein stattliches Zebu Rind beim Fressen - oder das Rindvieh überrascht uns. Geräuschvoll durchs Schilf rumpelnd nimmt der Fleischberg Reißaus. Das Haustier muss aus dem Dorf Tuichi kommen, es kann also nicht mehr allzu weit bis dorthin sein. Das Zebu stammt ursprünglich aus Indien, hat sich aber in allen Tropengebieten der Welt hervorragend bewährt und wurde deshalb auch nach Bolivien eingeführt. Sie tragen einen seltsamen Fetthöcker auf dem Rücken und können sehr aggressiv werden.

Es dauert doch noch weitere 2 Stunden bis wir Tuichi erreichen, welches uns sowohl von Marciano als auch von Geronimo aus Calestia als kleine Stadt mit Verkehrsanbindung beschrieben wurde. Wir kommen stattdessen in ein winziges Dorf ohne Straße. Um alles genau auszukundschaften sind wir schließlich hier - wäre immer alles genau so wie beschrieben, dann könnten wir uns solche Touren wie diese ja getrost ersparen. Mein Leben wäre jedoch ohne solche Abenteuer um vieles ärmer.

Die Leute in Tuichi sind Kambas, so wird in Bolivien der Menschenschlag genannt, durch dessen Adern eine Mischung aus Spanier- und Indioblut fließt. Die Menschen in Tuichi sind klein von Wuchs, ziemlich hellhäutig und kräftig. Irgendwie meine ich bei Kambas immer, dass ich den einen oder anderen schon mal irgendwo auf der Welt gesehen hätte, was natürlich Einbildung ist.
Hier im Outback Boliviens werden Rassenunterschiede nicht so wichtig genommen wie in der Stadt, da stellt sich die Herkunftsfrage nicht, weil man Wichtigeres zu tun hat. Die Einwohner von Tuichi sind sehr freundlich und auch offensichtlich an unserem Woher und Wohin extrem interessiert.

Der Bürgermeisters führt uns in seine Hütte und zeigt uns dort sichtlich stolz eine per Lastwagenbatterie betriebene Funkstation, mittels der täglich zu fixen Zeiten La Paz und die Provinzhauptstadt Apolo angefunkt werden.
Marciano, Jose und ich bekommen ein reichhaltiges Essen aufgetischt, über das wir uns mit Heißhunger hermachen. Danach gönnen wir uns eine erfrischende kalte Dusche und nutzen die gute Gelegenheit, um unsere Kleider zu waschen, vor allem die Socken haben es sehr nötig.

Während die Wäsche trocknet sitzen wir in Unterhosen im Schatten und warten. Bereits nach 20 Minuten ist bei der Hitze alles trocken und wir ziehen uns wieder an.

Ich notiere mir die Frequenz und die Empfangszeiten des Funkgerätes, das kann irgendwann einmal extrem hilfreich sein. Es kommt dann auch prompt eine Meldung über Funk herein, dass in der Nacht ein Jeepkonvoi von der nächstgelegenen Schlaglochpiste beim Dorf Pata nach Apolo abgeht. In 2 lockeren Gehstunden können wir die Strasse erreichen und wenn wir wollen reserviert man uns zwei Sitzplätze. Von Apolo ist es zwar noch weit nach La Paz, aber es verkehren regelmäßig und mehrmals täglich Busse in die andine Hauptstadt. Auf meiner Karte ist sogar ein kleiner Flughafen in Apolo eingezeichnet, doch das ist eines der vielen bolivianischen Märchen, auf die man sich ohne eingehende Prüfung nicht verlassen darf: Seit 15 Jahren wachsen dort, wo früher die Landebahn gewesen sein muss, Gestrüpp und Niederwald. Seitdem es Strassen gibt, hat der billigere Bus das Flugzeug als Transportmittel verdrängt.

Manuel und Celso, zwei Kambas aus Tuichi, machen uns das verlockende Angebot, Jose und mich in die tierreichen Gebiete den Rio Tuichi flussabwärts zu begleiten, durch Zufall stehen einige Pferde direkt am Dorfeingang, bräuchten also für unsere Weiterreise nicht umständlich und zeitaufwendig von einer weit entfernten Weide geholt zu werden. Ohne lange hin und her zu überlegen satteln wir 3 Pferde, bezahlen Marciano und verabschieden uns herzlich von ihm.
Zur selben Stunde sind wir bereits wieder unterwegs. Ein Nomadenleben auf Zeit.

In der Nähe des Rio Tuichi reiten wir auf einem Weg mit hohem Bambusgebüsch zu beiden Seiten dahin. Nichts kann zierlicher sein als diese baumartige Grasart. Form und Stellung der Blätter geben dem in der Sonne silbrig glänzenden Bambusgras ein Aussehen von Leichtigkeit, das mit dem hohen Wuchs angenehm kontrastiert. Beim leisesten Windhauch schwingt der Bambus hin und her als wogten Wellen in einem Meer. Es ist heiß und wir schwitzen selbst im Schatten des Bambus.
Unsere Pferde sind kräftig gebaut aber von gutmütiger Natur. Offensichtlich kennen sie den Weg und laufen fast ohne unser Zutun in die richtige Richtung. Wenn auch unser ungezwungener Trott gemütlich aussieht, gewinnen wir doch rasch an Gelände. Verständlicherweise sind die Beine nach 5 harten Marschtagen schon schwer wie Blei, trotzdem bereitet es Jose und mir große Freude, so leicht weiterzukommen.

Der Bambus weicht einem Waldgürtel, wo wir hunderte von Vogelnestern in Gestalt von Flaschen in den Bäumen hängen sehen. Es sind Werke eines drosselartigen Vogels, dessen Gesang sich mit dem heiseren Geschrei von Papageien und Aras mischt. Die lebhaft gefärbten Aras fliegen paarweise, während die kleineren grünen Papageien in krächzenden Schwärmen zu mehreren hundert Stück umherfliegen.

Der Weg kommt aus dem Wald heraus und wir gelangen in offenes und ausnehmend feuchtes Gelände mit hohem Gras. 2,5 bis 3m hohe saftige Gewächse mit großen, herzförmigen Blättern stehen dicht beisammen und bilden kleine Wälder im Gras. Ganz vereinzelt weiden Zebus aus Tuichi auf der weiten, baumlosen Fläche.

Über Anacondas

Wir verlassen den Weg, um in dem Feuchtgebiet nach Anacondas zu suchen. Dabei schrecken wir zwei Nandus, große, straußenartige Laufvögel auf, die in rasend schnellem Lauf und wilde Haken schlagend vor uns flüchten. Manuel findet mit unglaublichem Spürsinn das Nest, in dem 2 gigantische Eier liegen, ein jedes davon so groß wie etwa 20 Hühnereier.

Zwar kann ich den Fluss nicht sehen, aber sein Ufer muss ganz in der Nähe sein. Die Pferde schrecken zwei Rehe auf, die in weiten Sprüngen flüchten.

Es dauert nicht lange, bis wir eine etwa 3 Meter lange Anaconda aufstöbern, die am Rande eines kleinen Tümpels unter prächtigen Thalienblüten döst. In der Hoffnung, ein größeres Exemplar zu finden, reiten wir weiter und durchstreifen das Gelände. Zu Fuß wäre die Suche im sumpfigen Gras mühsam, aber mit den Pferden kommen wir hervorragend voran und haben vom Pferderücken aus zudem einen viel besseren Überblick.

Es dauert nur eine halbe Stunde, bis wir unter Manuels Führung eine Anaconda von furchterregenden 10m Länge mit mächtigem Schädel und einem Körper von der dicke eines Lastwagenschlauches ausfindig machen.
Niemand wird sich beim Anblick eines solchen Monsters einer gewissen Furcht erwehren können, die der Mensch seit Urzeiten in sich trägt - um überleben zu können. Trotzdem, oder gerade deshalb, sind die ganzen Schauermärchen über Anacondas allesamt erfunden. Das ist ein wildes Raubtier, nicht mehr und auch nicht weniger. Es kommt tatsächlich vor, dass einzelne Personen, vor allem junge Kuhhirten, die nicht auf den Weg achten, von einer Anaconda zur Strecke gebracht und verschlungen werden. Das ist aber äußerst selten, tödliche Unfälle von Cowboys, die durch wild gewordene Zebus verursacht werden sind hundertmal häufiger. Wenn mehrere Personen zusammen unterwegs sind ist es fast nicht möglich, dass einer von ihnen Opfer einer Anaconda - Attacke wird.

Wer nicht vor sich hinträumt wird eine Anaconda schon lange bevor er sie zu sehen bekommt riechen - sie verbreitet einen markanten, stechenden Mundgeruch.
Packt ein Mensch eine Anaconda beherzt und tunlichst ohne gebissen zu werden genau hinter dem Kopf und drückt gegen den Hals, so verfällt die Schlange blitzartig in eine Art Kreislaufkollaps, das hat in etwa den selben Effekt, wie wenn ein Mann in die Eier getreten wird. Drückt man ihr auf diese Weise Nerven und Luft ab, lässt die Anaconda sofort los und kann sich weder wehren noch angreifen. Direkt hinter dem Kopf sitzt ihr einzig schwacher Punkt - gewissermaßen die Achillesferse.

In den Tierbeobachtungs- und Sightseeing Zentren von Rurrenabaque lieben es die Touristen, sich eine solchermaßen angewürgte paralysierte Schlange vom Führer um die Schultern legen zu lassen und so für Fotos zu posieren. Wenn man die Masse von Leuten, die dort unterwegs sind bedenkt, so kann man sich unschwer vorstellen, wie oft sich eine dort lebende Anaconda täglich würgen lassen muss! Das ist Schwachsinn und obendrein eine gemeine Tierquälerei. Mag diese Art von Touristen daheim noch so angeben mit solchen seltsamen Fotos - es ist absolut nichts dabei, eine völlig unsportliche Person kann sich ohne weiteres auch eine Anaconda um den Hals hängen lassen, dazu muss man nichts können oder besonders mutig sein.

"Unsere" riesige Anaconda hat sich halb in einen kleinen Tümpel zurückgezogen, die obere Körperhälfte mit dem Kopf ragt noch aus dem Wasser - sie traut uns nicht und ist vor uns auf der Hut. Dieses prächtige und schwere Tier ist ein einziger Muskel, mit der Zugkraft eines kleinen Lastwagens. Eine Tötungsmaschine, deren Motor die Nahrungsbeschaffung und nicht Heimtücke ist.

Wir sind aus den Sätteln gestiegen, gehen nahe auf die Anaconda zu, halten aber einen Sicherheitsabstand. Diese Grenze zwischen uns und der Schlange wird von beiden Gegenübern respektiert, durch dieses sich nicht Einmischen wird ein Konflikt von vorneherein vermieden.

In der Natur lernt der Mensch, sich nicht in direkte Opposition zu den Dingen zu stellen sondern ihnen nachzugeben, mit ihnen mitzugehen, um sie durch Nachgiebigkeit zu beherrschen. Der verknöcherte, steife moderne Mensch aus den Städten hat das oft verlernt. Er glaubt nicht selten, die Natur frontal bekämpfen zu müssen wie man in der Stadt einen unbeliebten Arbeitskollegen bekämpft und ist unnachgiebig und starr wie der Schatten des Todes. Wie der sterbende Baum, den der Sturm fällt, weil er nicht mehr nachgibt. Das spricht aus Worten wie "den Berg bezwingen" oder "die grüne Hölle". Es spricht auch aus Taten wie "eine Schlange besiegen" - indem man sie sich um die Schulter hängen lässt und später auf das Foto deutend behauptet "die stammt aus dem gefährlichsten Dschungel der Welt". Einem Dschungel, in dem seit alters her eine begrenzte Zahl von Menschen gut und sicher leben.
Wenn es an einem Andenberg 2 Meter schneit, so gebietet die Vernunft, sich wegen der Lawinengefahr nicht mehr weiter hinaufzuwagen, auf die Umstände zu reagieren, nachzugeben und umzudrehen. Geht eine Seilschaft aber dennoch weiter statt umzudrehen und kommt dann, als logische Folge ihres unnachgiebigen Verhaltens, in einer Lawine um, so wird schnell vom "Killerberg" gesprochen, der "zugeschlagen" hat. Ich habe noch nie einen Berg "zuschlagen" sehen, obwohl ich in einem Gebirgstal aufgewachsen bin, es verhält sich vielmehr so, dass die Natur geachtet werden will. Zu folgsamen Kindern ist der Lehrmeister Natur gütig.

Ich versuche stets, meinen Tourteilnehmern auf verständliche Weise das Prinzip der Nichteinmischung nahe zu bringen. Dazu ist einige Zeit nötig, denn viele Menschen aus Europa sind durch ihre stressige Arbeit so auf Hochtouren, dass es grundsätzlich eine ganze Weile dauert, bis sie "entschleunigen" - womit ich das Gegenteil von Vollgas geben meine.
Weder der Berg noch die Schlange sind bösartig, das wird falsch gedeutet.

Die Anaconda frisst nur alle Monate, sonst tut sie nicht viel. Sie erlegt nur Beute, wenn sie hungrig ist, nicht aus Lust am Töten, und führt darüber hinaus im satten Zustand ein extrem langsames Leben. Ihrer Beute läuft sie nicht nach, sie legt sich auf die Lauer, um ein meist unvorsichtiges oder krankes Tier aus dem Hinterhalt zu überraschen. Hat sie ein Beutetier, meistens ein Capibara, die größte lebende Nagetierart der Welt und bis 300kg schwer, gepackt, umschlingt und erwürgt sie es. Das muss schnell gehen, ansonsten riskiert die Schlange lebensgefährliche Verletzungen durch die scharfen Zähne der durchaus nicht wehrlosen Capibaras.
Weil der Anaconda zum Zerkleinern der Beute die Beißzähne fehlen, muss sie ihr Mahl als Ganzes hinunterschlingen, mit Haut, Haar, Hörnern oder Klauen. Das dauert mehrere Tage und ist Schwerstarbeit. Hat sie das Capibara hinuntergewürgt liegt es ihr, noch unverdaut, wie ein Stein im Magen und sie kann sich fast nicht mehr bewegen. Dann ist sie völlig wehrlos. An dem Brocken verdaut sie danach wochenlang und braucht lange nichts mehr zu fressen. Ein in Millionen von Jahren bewährter Lebensentwurf.

Uns genügt es, die wahrhaft riesige Schlange zu beobachten, sie tut uns nichts und wir tun ihr nichts. Aus dem kindischen Alter, in dem man sich beweisen muss, dass man ein Mann ist, indem man ein gegen 3 Personen chancenloses Tier traktiert, sind wir längst heraus. Weil wir durchaus wissen, dass der Wald kein Kurpark ist, hat Manuel gewohnheitsmäßig ein Gewehr dabei.

Der Tag ist schon fortgeschritten und es wird Zeit, dass wir uns auf die Socken machen. Wir galoppieren zu einem vorab ausgemachten Treffpunkt am Ufer des Rio Tuichi, wo Celso bereits mit einem Motorkanu wartet, in das Jose und ich umsteigen.
Wir verabschieden uns von Manuel, der schleunigst mit den Pferden nach Tuichi zurückkehren will und schippern einen braunen, träge fließenden Seitenarm des Rio Tuichi hoch. Es ist schon dunkel, als wir das Camp auf dem höchsten Punkt einer kleinen Insel im Fluss errichten.

Ein langer, ereignisreicher Tag geht zu Ende, an dem wir mehr erlebten, als manch einer in seinem ganzen Leben. Wild, frei und manchmal gefährlich - ist es nicht erstrebenswerter, seine Zeit so intensiv zu verbringen als in einem wohltemperierten, schön ausgestatteten Büro, eingesperrt in einem menschenfeindlichen Gefängnis aus Beton und Glas, hundert Jahre alt zu werden?
Der Leser kann mir nicht wirklich einen Vorwurf dafür machen, dass ich nicht so sein kann wie andere mich haben wollen, selbst wenn ich es wirklich wollte. Ich kann nur ich sein, so wie ich bin. Mich in meinem Alter noch ändern zu wollen, wäre das Gleiche wie einer Heuschrecke das Hüpfen zu verbieten.

Nach dem Abendessen rudern wir noch einmal auf den Fluss hinaus ohne den lauten Motor zu benutzen. Alles ist trügerisch still rings um uns her, nur der Bug des Kanus pflügt das träge Wasser. In regelmäßigen Abständen tauchen die Stechpaddel leise gurgelnd ins Wasser ein und wir gleiten langsam durch die Dunkelheit dahin. Von weither dringt der Todesschrei eines von einem Raubtier zur Strecke gebrachten Lebewesens ans Ohr, wird rasch schwächer und erstirbt abrupt.

Rumoren im Wasser: Ein Alligator, scheinbar träge, einem Stück Treibholz zum Verwechseln ähnlich im Wasser lauernd, schnappt plötzlich explodierend einen unvorsichtigen Fisch. Irgendwo in Ufernähe drehen sich Körper platschend um die eigene Achse: Mehrere Alligatore haben sich in einen größeren Kadaver verbissen, drehen sich blitzschnell um die eigene Achse und reißen auf diese Art handliche Portionen heraus, die sie verschlingen.

Man hört und ahnt das alles durch die Dunkelheit ohne viel zu sehen. Die Tiere, der Wald, die Pflanzen - alles lebt und stirbt in nie endenden Tragödien und ewigem Kreislauf. Der Starke frisst den Schwachen, der Vorsichtige überlebt den Unvorsichtigen. Seit Anbeginn der Zeit, die hier an ihrem Uranfang stehengeblieben zu sein scheint. Diese gewaltige Präsenz des Lebens und dessen Gegenstück, der Tod, ist überall spürbar. Ohne Leben kein Tod und ohne Tod kein Leben. Ein ungeschriebenes Gesetz, eingebrannt in jedes schlagende Herz, jeder hier befolgt es.

In der Nacht werden wir zu winzigen Teilchen die sich im lebendigen Ganzen verlieren. Indem wir klein werden begreifen wir, wie groß das Ganze ist. Der Mensch in den Städten erfand für dieses Ganze den Namen Regenwald, um das Ungreifbare irgendwie fassen zu können. Wenn du aber den Pulsschlag dieses Kosmos nicht mit dem Herzen spürst, wie willst du ihn dann über tote wissenschaftliche Formeln als ein Lebewesen kennen lernen? Das ist so unmöglich wie der Versuch, eine Wolke vom Himmel zu holen und in einem tönernen Gefäß einzufangen.

Celso leuchtet mit einer Taschenlampe die Umgebung ab: Plötzlich glimmen rund um das im Wasser treibende Kanu hunderte rot fluoreszierender Augen auf, die starr auf das Boot fixiert zu sein scheinen. Sie gehören Alligatoren, die im Wasser treiben oder am Ufer liegen. Augen- Blicke! Eine Begegnung, so flüchtig und vergänglich wie das Leben. Zwei Welten, unsere Menschenwelt und die von erdgeschichtlich uralten Raubechsen, berühren sich scheu an einem Schnittpunkt, nur um wieder auseinander zu laufen ohne sich wirklich zu treffen. Ein gespenstisches Spiel von Wassergeistern, schaurig-romantisch und zugleich berauschend schön.

Welcher menschliche Wille bewahrt in dieser skurrilen Wasserwelt noch seinen Sinn, welches menschliche Trachten wäre hier von Dauer? Jose und ich paddeln während Celso eine alte Gitarre aus einem Sack hervorkramt und ein sentimentales Lied anstimmt, welches in der Nacht verhallt. "Weil ich arm bin, ja weil ich arm bin wirst du mich nicht lieben können" singen Jose und ich den uns wohlbekannten Refrain, dass es eine Freude ist. Jetzt sind wir einfach glücklich. Spät in der Nacht kehren wir ins Camp zurück und machen es uns dort bequem.

© Robert Rauch, 2005
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Eine Erkundungsexpedition vom bolivianischen Apolobamba-Gebirge zu den Regenwäldern Amazoniens
Details:
Aufbruch: 30.08.2004
Dauer: 7 Tage
Heimkehr: 05.09.2004
Reiseziele: Bolivien
Der Autor
 
Robert Rauch berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
Reiseberichte von Robert sind von der umdiewelt-Redaktion als besonders lesenswert ausgezeichnet worden!
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