Schlüssel zum Paradies - Tor zur Hölle: die Apolobamba-Region, Bolivien

Reisezeit: August / September 2004  |  von Robert Rauch

Beginn der Expedition: 1. Tag - Aufbruch von Pelechuco

Nachdem Jose die neuen Schuhe angezogen hat kann es endlich richtig losgehen, zuerst laufen wir uns in gemäßigtem Tempo warm, dann traben wir hinein in den Zustand eines ungewissen Abenteuers. Alle Zweifel lösen sich unter meinen Schritten auf. Wir legen ein beträchtliches Tempo vor, die Lungen füllen sich mit Sauerstoff und wir beginnen trotz Kälte zu schwitzen. Alles gerät in Bewegung, wir leben mit unwahrscheinlicher Intensität. Einen Moment lang geht der Nebelvorhang auf und gibt den Blick auf eine unendlich weite Bühne frei: Namenlose majestätische Andenberge und tief eingeschnittene Täler soweit das Auge reicht. Ich rufe innerlich vor Freude und sage dennoch kein Wort. Die Beklemmung, die sich in großen Städten wie La Paz regelmäßig um meinen Hals legt wie ein zentnerschwerer Mühlstein, fällt von mir ab und weicht einer unbändigen Lebensfreude.

Der Nebelvorhang schließt sich wieder und gleichzeitig beginnt es heftig zu regnen. Wir legen unsere Regenponchos an und ziehen weiter, der unablässige Regen macht uns keine Angst, er ist ein Teil der Natur wie die Sonne, der Mond und die Sterne.
2 oder 4 Stunden später steigt die Wolkendecke und gibt eine märchenhafte Almwiese frei, unmittelbar hinter ihr steigt bläulich weiß ein bizarrer Hängegletscher in die Höhe. Wir müssen also schon ziemlich hoch gekommen sein. Der Regen hat ganz aufgehört und die Wolkenwand über uns bekommt Risse, durch die goldene Sonnenstrahlen sickern. Der große Geist, der alles durchdringt und dessen Wege der Mensch nur ahnen kann, hat diesen Zauber geschaffen.
Ein kalter Fallwind treibt mächtige Wolkengebilde wie eine Schafherde vor sich her, die in alle Richtungen auseinanderstiebt, während wir die Schneegrenze überschreiten.

Wortlos treten wir, uns in der Führung abwechselnd, eine Spur in den tiefer werdenden Neuschnee, der uns nach kurzer Zeit bis unter die Knie reicht. Hin und wieder kommt die Sonne hinter den Wolken hervor und lässt die Schneedecke funkeln wie einen Teppich aus glitzernden Diamanten.
Um uns die Augen nicht zu verblitzen von soviel Glanz, setzen wir unsere Gletscherbrillen auf. Sobald Jose hinter mich zurücktritt, um mir für eine Weile die Spurarbeit zu überlassen, treibt mir der Wind spitze Schneekristalle ins Gesicht, die auf der Haut prickeln wie tausend kleine Nadeln. Nachdem mich Jose wieder vorne abgewechselt hat, kann ich mich in seinen Windschatten ducken und in der vorgetretenen Spur wieder Kräfte sammeln. So geht es hin und her.
Der Schnee zehrt an den Kräften, aber wir kommen dennoch zügig voran und verlangsamen unser Tempo nur wenig. Ein schneidend kalter Windstoss reißt meinen Poncho hoch und wickelt ihn um meinen Hals, was Jose sehr lustig findet.

Schweren Schrittes und in der dünnen Höhenluft nach Atem ringend nähern wir uns der Passhöhe, sie mag wohl auf etwa 5300m Meereshöhe liegen. Dann endlich sind wir ganz oben. Wir entschließen uns zu einer kurzen Verschnaufpause und schauen von der endlosen Schneewelt auf sich ins unendliche fortsetzende Gebirge, die sich in alle Richtungen erstrecken. Ein wundersames Märchenland fernab der Täler.

Plötzlich sehen wir von der gegenüberliegenden Passseite einen untersetzten Mann in Sandalen auf uns zukommen, der durch Felsen vor uns verborgen geblieben war. Auf dem Rücken trägt er eine schwere Last, seine tief in die Stirn gezogene Inkamütze verdeckt die Hälfte des Gesichts und der dicke erdbraune Wollpullover besteht fast nur noch aus Flicken. Die dünne Wollhose reicht ihm nur bis knapp unter die Knie, was nicht gerade die ideale Bekleidung für dieses kalte Wetter sein kann.

Wir stehen auf, nähern uns ruhig und geräuschvoll, um dem in Gedanken versunkenen und sichtlich müden Mann unsere friedliche Absicht zu demonstrieren, anstatt ihn unnötig zu erschrecken. Als er nahe genug heran ist, grüssen wir ihn, er kommt auf uns zu.
Sobald er ohne sein Bündel abzunehmen direkt vor uns steht, bemerke ich erst, wie sehr der arme Kerl mit den unbedeckten, vom Schnee zwetschgenblauen Waden in seiner leichten Bekleidung friert. Er muss wohl aus irgendeiner wärmeren Gegend kommen, in der warme Kleider nicht oft gebraucht werden.
Der Mann ist einen guten Kopf kleiner als ich, also etwa 1,60m groß. Sein Gesicht ist breit und von markanter Form, aber die Backenknochen sind bei weitem nicht so hoch wie bei Jose, seine Haut ist wesentlich heller als die eines Aymara und er wirkt trotz seiner kleinen Statur behende und kräftig.

Wir fragen ihn nach dem richtigen Weg. Zuerst spricht er in Quechua, bemerkt aber seinen Irrtum sofort an unseren fragenden Mienen und spricht in gebrochenem Spanisch weiter. Die Quechua sind die Nachfahren der großen Inkas, welche einst ein Weltreich regierten und unter denen die Aymaras die unterdrückte Dienerklasse waren. Das hat sich nach Ankunft der spanischen Conquistadores grundlegend geändert. Der Quechua erklärt uns, wie weit wir seiner Spur folgen und wo wir talwärts abbiegen müssen.
Der Himmel hat uns diesen Mann zur rechten Zeit geschickt, diese Information erspart uns lange Umwege. Wir bedanken uns mit einer Maissemmel aus Joses Rucksack, die dankend angenommen wird. Dann ziehen wir in entgegengesetzter Richtung talabwärts. Unsere Begegnung war so flüchtig wie der Schatten, den ein vorüberfliegender Vogel auf einen Bergsee wirft.

Wir wandern in eine unergründliche Einsamkeit hinein. Die Stelle, wo wir aus der in den Schnee getretenen Spur des Mannes ausscheren müssen, ist bald gefunden, Jose ist sich aber dennoch nicht ganz sicher, ob wir richtig sind. Jetzt gibt es niemand mehr, den wir fragen können. Vorbei an glasklaren Gletscherseen, eingebettet in eine wilde Hochgebirgslandschaft, steigen wir steil abwärts und lassen den Schnee hinter uns.
Sollten wir falsch abgebogen sein, bedeutet dies, dass wir irgendwann den ganzen langen Weg zur Spur des Quechua zurückgehen und von neuem die Abzweigung suchen müssten. Wir hoffen, dass wir uns das nicht antun brauchen, es würde uns einen Tag kosten.

Bei einem glucksenden Bach machen wir Rast, es ist ja schon weit über Mittag. Wir packen das Kaniawa Pulver aus und rühren uns mit Bachwasser einen dicken schwarzen Brei, in den wir Zucker mischen. Als Dreingabe gönnen wir uns jeder eine selbstgebackene Maissemmel aus Joses Rucksack.
Um unseren Durst zu stillen, haben wir Wasser in Fülle. Jemand, der von europäischer Hygiene verwöhnt und nur Mineralwasser gewöhnt ist, darf unter keinen Umständen rohes Wasser trinken, er würde schwer krank davon werden. Wir wissen das natürlich und wenn wir mit Kunden unterwegs sind kochen wir alles ab und achten auch sonst sehr auf Hygiene. Wenn wir allerdings unter uns sind, reisen wir ganz anders, es sieht uns ja niemand zu...

Immer noch unsicher wegen der eingeschlagenen Richtung brechen wir bald wieder auf und steigen tief hinab in ein nicht enden wollendes Tal. Die Wolken haben sich ganz verzogen und der freie Blick auf namenlose Eisberge, die sich nach den für diese Jahreszeit außergewöhnlich ergiebigen Niederschlägen in makellosem weiß zeigen, ist überwältigend. Die Vegetation wird mit abnehmender Höhe immer üppiger und grüner.

Sind wir richtig? Ein leiser Zweifel begleitet uns bei jedem Schritt. Plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchen ein paar Hütten vor uns auf. Wo sind wir? Wir sehen einen Mann und eine Frau, die das Strohdach ihrer Lehmhütte ausbessern. Sie bestätigen uns, dass wir richtig sind, und der Mann klettert extra vom Dach herunter, um uns die Richtung, in der Calestia liegt, zu zeigen.

© Robert Rauch, 2005
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Eine Erkundungsexpedition vom bolivianischen Apolobamba-Gebirge zu den Regenwäldern Amazoniens
Details:
Aufbruch: 30.08.2004
Dauer: 7 Tage
Heimkehr: 05.09.2004
Reiseziele: Bolivien
Der Autor
 
Robert Rauch berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
Reiseberichte von Robert sind von der umdiewelt-Redaktion als besonders lesenswert ausgezeichnet worden!
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