Um fremde Welten zu sehen, muss man nicht ans Ende der Welt fahren
Sarajevo
Ich weiss nicht, wann wir das erste Mal im Bus wieder lachen und witzeln konnten, aber es dauerte seine Weile. Passend zur Stimmung setzte bald Schnee ein, als wir durch die bosnische Landschaft über Pässe, Hochebenen und durch romantische Täler in Richtung Sarajevo fuhren. Sarajevo – die Stadt, wo mit dem Anschlag auf Franz Ferdinand der Erste Weltkrieg begann und mit dem Mord an zwei Mädchen der Bosnienkrieg ausgelöst wurde. Ironie der Geschichte: Sarajevo selbst war beide Male nicht schuld an dem Unheil, das hier ausgelöst wurde. Auf einmal, ohne Vorankündigung, führt die Strasse aus einem eben solchen Tal hinaus – und man befindet sich mitten in der Altstadt. In der bosnischen Hauptstadt herrschte trotz später Jahreszeit tiefster Winter. Im Schneegestöber stiegen wir, schwer beladen mit unseren Koffern, in dünnen Sommerschuhen und Frühlingsjacken, vom Hauptplatz die Gassen hinauf zum Hotel.
Sarajevo lässt sich in Worten nur schwer beschreiben. Ein wenig wie ein Märchen aus Tausenundeiner Nacht mutet es an. Zauberhaft in die hügelige Landschaft eingefügt ist die Altstadt, halb aus osmanischer, halb aus österreichisch-ungarischer Zeit. Minarette und Kirchtürme überragen die Dächer, am Morgen wird man vom Gebetsruf des Muezzin und durch die Kirchglocken geweckt. Ein Europa innerhalb eines Europas in Europa? Vor dem Krieg war Sarajevo ein Schmelztiegel der Kulturen und ein wunderbares Beispiel dafür, dass Multikulti funktionieren kann. Hier lebten Bosniaken, die den Islam von den Osmanen übernommen hatten, katholische Kroaten, orthodoxe Serben und Juden friedlich zusammen. Man respektierte sich, man war befreundet untereinander. Sarajevo wurde das Jerusalem Europas genannt. Und nach dem Krieg? Nun, es sei teilweise immer noch so. Aber irgendetwas sei anders. Viele Serben seien abgewandert, Kroaten und Juden habe es auch fast keine mehr. Der Krieg habe Sarajevo geprägt, noch heute sei er in den Köpfen der Menschen präsent, so hört man von verschiedenen Seiten. Die Leute sind offen, wie ich es noch selten erlebt habe. Mit jedem kann man über alles reden. Mit einem Teppichverkäufer kamen wir ins Gespräch: Sarajevo sei nicht mehr wie früher. Die bosnische Regierung ermögliche eine gute Ausbildung der Leute, investiere Geld, aber schaffe es nicht, den Menschen eine Perspektive im Land zu bieten. Viele würden Bosnien verlassen.
Nedzad
Ein eindrückliches Erlebnis hatten wir auch mit einem Taxifahrer, Nedzad sein Name. Sein Englisch war miserabel, dennoch gab er sein Bestes. Nachdem er mit ausgeschaltetem Taximeter eine Extrarunde durch die Altstadt eingelegt hatte, um uns eine Strasse zu zeigen, wo sich vier Gotteshäuser verschiedener Religionen innerhalb von hundert Metern aneinanderreihten – das sei das wahre Sarajevo gewesen – erzählte er uns vor dem Hotel in seinem Auto noch zwanzig Minuten lang von seinem Leben. Die Menschen seien müde von der Politik. Die muslimischen, kroatischen und serbischen Regierungsvertreter blockierten sich gegenseitig, brächten das Land auf keinen grünen Zweig. Dennoch wähle jeder weiterhin seine nationalistische Partei (es ist dies einer von vielen Widersprüchen in diesem schönen Land). Er selber sei Muslim, aber wir sollen wissen, dass er nichts mit diesen Extremisten am Hut habe: „You know, me, normal Muslim. For me, religion not first position. First, two sons, second, work, religion only seven or eight position, you understand me? Sorry, me very bad English. Good man is good man, bad man is bad man, religion not important, you understand me? In Bosnia, normal Muslims. Sorry, my English very bad.” Als er mit seinem Latein, eh Englisch am Ende war, griff er zum Telefon und fragte seinen Sohn am anderen Ende der Leitung, ob er übersetzen könne. Es gebe viele „mixed marriages“ in Bosnien, so der Sohn. Auf die Frage, ob er sich nach dem alten Jugoslawien zurücksehne, nach dem alten, multikulturellen Sarajevo, wird Nedzad melancholisch, überlegt, seufzt und sagt: „You know, past time, old, before war. Now, not Yugoslavia, Yugoslavia past time.“ Er bedankte sich überschwänglich bei uns, dass wir seine Stadt besuchten, ihm zuhörten, schüttelte uns dreien im Taxi jeweils zweimal die Hand und entschwand durch die Gasse wieder in seinen grauen Berufsalltag.
Faruk
Früher an diesem Tag führte uns ein junger Mann namens Faruk durch Sarajevo und erzählte uns von der Belagerung seiner Heimatstadt von vor zwanzig Jahren. Er war damals ein dreizehnjähriger Junge und verbrachte einen Grossteil seiner Jugend in dieser Todeszone. Wir besichtigten den Flucht- und Versorgungstunnel aus der und in die belagerte Stadt, froren uns dabei die Zehen ab, was nicht weiter störte, weil wir grösstenteils gebannt seinen interessanten Ausführungen folgten, er mit seinem, wie uns von einem serbischen Schüler in unserer Gruppe gesagt wurde, typisch trockenen jugoslawischen Humor. Wir fuhren in die tief verschneiten Berge, die einem Wintermärchenland glichen, besichtigten die heruntergekommene Bobbahn der Olympiade von 1984, welche wie ein Mahnmal an den früheren weltstädtischen Glanz Sarajevos erinnerte und heute, einem Totenskelett gleich, wie ein Fremdkörper in der weissen Märchenwelt oberhalb der Stadt steht.
Bobbahn der Olympischen Winterspiele von 1984 - damals war Sarajevo noch eine andere Stadt als heute.
Aufbruch: | 03.04.2015 |
Dauer: | 9 Tage |
Heimkehr: | 11.04.2015 |
Bosnien und Herzegowina