Dreiländereck - Marseille 2022 / 2023
Fortuna oder Lisbonne 2023 - 30.12.2022
Bern - Greyerz
10:15 Uhr
Es ist 10:15 Uhr, seit kurz vor acht bin ich unterwegs, gute 30 Kilometer habe ich in den Beinen, aber es läuft deutlich beschwerlicher auf den Straßen als gestern. Ich sitze auf einer Holzbank vor einer traumhaften Bergkulisse. Um über diese jedoch zufällig zu stolpern musste ich einen Umweg in Kauf nehmen. Ich schob das Reiserad einen matschigen Berg gerade so hinauf, nur mühsam Schritt für Schritt zurücklegen könnend. Den Blick allerdings wieder auf das Positive richtend waren die vergangenen zwei Stunden mit die schönsten auf dem Rad. Neben dem Donaudurchbruch und dem böhmischen Paradies in Tschechien versteht sich. Zauberhafte Nebelschleier bei knapp über null Grad Celsius, traumhafte Täler und sich durch kleine Gehöfte mäandrierende Bachläufe sind der unmögliche Versuch eine nicht beschreibbare Szenerie zu schildern. Irgendwann gegen neun Uhr stand dann die Sonne hinter einer Bergkuppe am Himmel, erstrahlte in ihrer ganzen Pracht und wuchs durch den Nebel zu einer goldenen Kugel an, die immer größer wurde. Ich stellte mir vor, dass dieses Licht den gesamten Raum einnimmt und jegliche Dunkelheit auflöste. Ich spürte es. An diesem Morgen war die Welt ein kleines wenig gereinigt und geheilt, sie erschien frischer und kostbarer.
12:46 Uhr
Ich sitze in Bruck bei ungefähr 70 Kilometern. Ich bin müde und vermeide es so gut es geht mich im Spiegel anzusehen. Der Grund hierfür ist das trotz kürzlichem Friseurbesuch äußerst zerzauste Haar unter der Mütze und dem Helm. Der erste Kaffee des Tages ist getrunken, der zweite wartet dampfend darauf, der oder das Croque Monsieur ist zu 50 Prozent gegessen. Mein Französisch darf wieder aktiviert werden. Die Bedienung strahlt, vermutlich weil ich den Altersdurchschnitt um rund 361 Prozent senke. Marginal gedankenverloren wird mein Blick von dem von weißen Schleiern umwundenen Schloß Gruyerz angezogen. Ein wenig komme ich mir hier gestrandet vor wie der Außerirdische in Matt Haigs Roman „Ich und die Menschen“. Alles hat sich verändert. Alles befindet sich kontinuierlich in der Veränderung. Ich habe keine Motivation mehr weiterzufahren. Auch wenn ich jetzt aufgewärmt und gestärkt bin. Es ist eine besondere Gegend hier. Aber heute Abend am Ufer des Genfer Sees einen Spaziergang zu unternehmen kann auch nicht verkehrt sein als kleiner Motivationsweitwurf.
Es ist ein merkwürdiger Anblick das bepackte Reiserad mit dem neongelben Helm über dem Lenker hängend vor der Boulangerie inmitten all der Blechlawinen zu sehen. Zwei andere Radreisende kamen mir heute entgegen. Eventuell waren es auch keine, da sie jeweils nur eine Satteltasche am Gepäckträger mit sich führten. Ansonsten gibt es die Phasen da ich mir wünschte mit elektronischer Unterstützung und einem S-Pedelec mit bis zu 45 Kilometern in der Stunde beinahe schwerelos über den Asphalt gleiten zu können. In der Schweiz wäre das auch auf dem Radweg möglich. Aber mit meinem „Biorad“ weiß ich am Ende zumindest, dass ich die Energie aufwendete all die Kilometer mit meinen Beinen, meinem Willen und dem Vertrauen zurückzulegen.
Eine kleine Pfütze liegt etwas verloren auf dem schwarzen Parkplatz. In ihr springen die fallenden Regentropfen und ich erkenne meine Motivation weiter zerfließen.
In der Tat ist es ein wenig befremdlich bei diesem Wetter um diese Jahreszeit unterwegs zu sein. Aber was soll ich tun. Bislang klappte es, die Tour kommt mir schon wie eine ewigliche Reise vor und die Natur zeigt sich von ihren schönsten Seiten. Nicht immer aber manchmal.
John ist jetzt in Basel am Rhein, die gestrigen Gespräche schwingen in voller Intensität in mir nach und ich weiß, dass wir auf die eine oder andere Art in Verbindung bleiben werden. Das wir ein gutes Team abgaben, davon zeugen die Gesprächsthemen: The first sentence of Moby-Dick „Call me Ishmael“, the brains of artists, Gandhis birth of Mahatma in Africa after he was forced to leave a train (first class) because he was not white, the bones temple „Kutná Hora“ in the Czech Republic or the universe, god, the meaning behind everything and metaphysics.
Wenn ich eine ruhige Minute finde muss ich mindestens drei Gedichte schreiben:
- Fortuna
- Marseille
- Der Wassermann-Fisch
Die Titel sind vorerst nur einfache Platzhalter und können womöglich noch angepasst werden.
Greyerz - Montreux
18:03 Uhr
Endlich liege ich im Bett um meine Glieder ein wenig auszuruhen. Nachdem ich das HR Giger Museum und das unmittelbar links daneben liegende tibetische Museum mit Stupa nur von außen eruiert habe, stiefelte ich wieder zurück zu meinem Velo. Auf dieser Tour wird es mit Satteltaschen prinzipiell nicht abgeschlossen, da vermutlich kein Mensch außer mir so verrückt sein würde dieses Rad zu nehmen. Ich fahre weiter und habe um 14:00 Uhr noch rund 50 Kilometer mit schweren Beinen vor mir. Es läuft schleppend. Nach einer halben Stunde ziehen dunkeldichte Regenwolken auf, schwere Tropfen fallen auf mich hernieder, starker Wind kommt auf und ich bin verloren.
Was mache ich eigentlich nur um diese Jahreszeit auf dem Sattel?
Kurz gehe ich meine Beweggründe durch. Das letzte Mal unternahm ich eine Radreise im August / September 2021. Mit dem Sturz kurz vor Straßburg durfte ich mich in Folge mit Krücken bewegen. Seitdem setzte ich mich nicht mehr als einen Tag auf das Zweirad. Ein wenig glich es einem zerplatzten Traum gleich einer Seifenblase bei falscher Luftfeuchtigkeit. Auf das Jahr 2023 wollte ich eine Reise nicht hinausschieben, so entschied ich mich kurzerhand für den Jahreswechsel.
El niño und la niña sind nicht mehr im Reimen samt unzähliger anderer Dinge auf diesem immens großen Wirkungsgeflecht dieses Planeten. Also ist es möglicherweise bei sich wandelnden Klimabedingungen gar nicht so abwegig, im Dezember eine Radtour zu machen.
Marseille als Destination hat neben dem Namen eine besondere Magie inmitten der Straßenzeilen und eines Tages werde ich von dort ausgehend über Arles, Toulouse, Lourdes und die Pyrenäen durch Spanien bis nach Santiago de Compostela fahren.
Last but not least ist da immer noch die Endlichkeit des Lebens samt der Erforderlichkeit den Dingen von Bedeutung zu folgen, die das eigene Herz höher schlagen lassen.
Für morgen früh habe ich nach kurzer Überlegung (während dem Schauen der zweiten Hälfte von „Der Ghostwriter“ und „The Freshman“) eine Beförderung via Zug (Sparbillett) bis Genf inklusive Velo-Tagesticket gekauft, um meine Beine zu schonen, mir ein wenig die Beine zu vertreten und in irgendeinem x-beliebigen Café zu schreiben.
Vom Bett mit theoretisch idealem Seeblick (bei Helligkeit) habe ich den Eiffelturm, ein paar (zumindest mehr als vier) farbige Oldtimer (vermutlich in Cuba stehend) als auch den Big Ben irgendwo neben der Nadel Kleopatras vor Augen. Drei Fotografien an der Wand. Der Kaffeevorrat im Zimmer ist geplündert, das Früchtebrot samt einer Tafel Schokolade und ein paar Müsliriegeln in meinem Magen platziert.
Aber zurück zu der Situation von heute Nachmittag: Gefühlt trägt mich der Wind mehr zurück, als dass ich gegen ihn ankommen könnte. Ich bin kurz vor der Verzweiflung. Ich stolpere über asphaltierte Feldwege ohne Unterstellmöglichkeiten. Dann stehen am Feld ein paar Wetterschützer namens Bäume sowie eine Bank, ich ziehe die Regenhose an und breche das Früchtebrot ab, damit ich keinen Hungerast bekomme. Mir erscheint es äußerst unrealistisch, die Distanz vor Anbruch der Dunkelheit zurückzulegen. Ich überlege bei einem der vereinzelten in der Landschaft weilenden Höfe zu klingeln. Aber was soll ich sagen? Dass ich auf die glorreiche Idee gekommen bin vom Dreiländereck bis nach Marseille zu fahren und urplötzlich von einer Schlechtwetterfront überrascht wurde - daher eine Schlafmöglichkeit benötige?
Nein… So trete ich kontinuierlich in die Pedale gleich einem Perpetuum Mobile kurz vor dem Ende. Langsam aber beharrlich geht es voran. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Immer wieder meine ich mich mit einem der Menschen vergleichen zu müssen, die irgendetwas vermeintlich signifikantes in meinen Augen gemacht haben. So wie die Zwillinge oder Brüder die mit dem Rad von Berlin nach Shanghai fuhren oder die Seele aus „Besser Welt als nie“. Ich bin dabei „nur“ ein kleines Wesen inmitten dieser 510 Millionen Quadratkilometer-Welt. Ja, gegebenenfalls ist mein Ich ein vermeintliches Unikat, ein Leisetreter, zumindest kein schlechtes Spektakel wie der ins Wasser geworfene Stein namens „Paris 23.12.2022“. Schon wieder zu viel ich und zu wenig wir - wo ist sie hingerückt die in einen Mantel der Individualität gekleidete Menschlichkeit?
Vermutlich werde ich noch mindestens 11 Dekaden meines irdischen Daseins damit verbringen müssen zu beten, all die spirituellen Orte dieser Welt zu besuchen, mich in Liebe und Vergebung zu üben, mich in Selbstliebe, Annahme und Akzeptanz zu baden, über meine Gefühle so wie es der Allgemeinheit entspricht zu sprechen sowie Herzensarbeit zu machen. Vielleicht befinde ich mich auch schlichtweg auf dem falschen Dampfer mit dem Schreiben, sollte den Stahlrahmen samt Speichen an den Nagel hängen, das Abenteuer in einer Flaschenpost vorbeiziehen sehen und mich den wirklich wichtigen Dingen widmen. Beispielsweise könnten diese ein EFH auf Kredit und Raten finanzieren, das stets aktuellste Kraftfahrzeug (Verbrenner, Diesel oder Elektro) leasen, die zehn Gebote über mein Kopfkissen hängen und als meine Lebensmaxime wie ein liberal-konservativer Geistlicher in jeden einzelnen meiner Gedankengänge einfließen lassen oder mich in der Kunst der Sozialisierung üben lauten.
Aber wer weiß schon wahrlich was morgen geschieht in einer Zeit, da Mauern gebaut werden und Windmühlen sich drehen?
Aufbruch: | 29.12.2022 |
Dauer: | 10 Tage |
Heimkehr: | 07.01.2023 |
Frankreich
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