Dreiländereck - Marseille 2022 / 2023

Reisezeit: Dezember 2022 - Januar 2023  |  von Julian H.

Reaching Rotterdam - 07.01.2023

Marseille

Der Abschied ist ein kontinuierliches Kapitel des Lebens und die Müdigkeit wird am Morgen zu Füßen der Kathedrale Notre-Dame de la Garde weggespült. All die vergangenen Tage waren vielleicht nichts weiter als die Sehnsucht nach einem Abenteuer in der Ferne, als ein Suchen einer Bedeutung und Entschleunigung in der Geschwindigkeit, in der alles möglich ist. Die Freude bedarf der Aufwendung kontinuierlicher Energie, es ist ein immerwährender Kampf der Kräfte. Ob ich ein friedvoller Krieger bin weiß ich nicht, gegebenenfalls bin ich auch nur ein verkappter Träumer der eine Naivität in sich trägt die in dieser Welt weder Raum noch Inhalt hat.
Gestern Abend gingen der aus Dalhousie im Norden Indiens geborene und in Paris lebende Inder mit jeweils einem überdimensionalen Pizzakarton an die Steinkante des alten Hafens, dort Pizzastücke in Erinnerungen an Capri und Clark Gable essend, auf das gleichmäßige Wogen der seidenen Wasseroberfläche blickend über Gedichte und weitere von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit darstellende Dinge redend. Schließlich standen wir auf und gingen gemächlich am Pier entlang, ich noch mit meinem überdimensionalen Pizzakarton in der Hand, da ein Schafskäse-Honig-Thymian-Stück noch übrig ist und ich es als Schwabe nicht dem Mülleimer übergeben möchte. So spreche ich an einer der schönsten Stellen ein Pärchen an, das eher unschlüssig dazustehen scheint. Das Ende vom Lied ist also, dass sie Tahitianerin ist und mein Notizbuch exakt auf der Seite aufblättert, da ein Tahiti-Patch eingefügt ist. Wir kommen also ins Gespräch und sie schreibt mir zum Abschied „Ay dios mio y de los demas tio“ - Titaua in mein Notizbuch auf Zeile Nr. 11 und 13, Seite 186. Was es im Detail bedeutet vermag sie mir weder auf Englisch, Deutsch noch Französisch zu sagen, da es diese Bedeutung nur in ihrer Sprache gebe. Wäre das nicht mein Anker gewesen in Marseille Fuß zu fassen um dann durch das Mittelmeer in den Atlantik und so weiter und so fort bis nach Hiva Oa zu schwimmen? Vielleicht ja, vielleicht auch nein, vielleicht auch vielleicht.

Es ist 10:12 Uhr, ich sitze im Zug und befinde mich auf der Strecke irgendwo zwischen Nizza-Stadt, Antibes, Cannes, Saint-Raphaël Valescure, Les Arcs, Draguignan, Toulon, Marseille Saint-Charles, Aix-en-Provence TGV, Avignon TGV, Lion Part Dieu, Mâcon, Chalon-sur-Saône, Beaune, Dijon, Besançon Franche-Compté TGV, Belfort, Montbéliard TGV, Mulhouse, Colmar und Straßburg. Genauer gesagt steht der ultralange TGV nun am Bahnhof in Avignon TGV. Für die Strecke, da er nur einen gefühlten Wimpernschlag benötigt hat (gegebenenfalls ist das nicht korrekt, zumindest war es nicht ausreichend Zeit um alles zu schreiben was ich gerne hätte schreiben wollen), strampelte ich mir einen gesamten Tag lang die Beine in den Bauch. Zwei Pain aux Chocolate, Karte mit den Pilgerwegen, zwei Kaffees, leuchtende Verkäuferin, Eiskristalle auf den Händen, Nebel, traumhafter Ausblick über den Pinien in Aix-en-Provence, Horrorkreisverkehr und Symphonie Nr. 9, das ist Ewigkeiten her und sicherlich könnte man sich die Frage stellen wozu das Ganze. Mit dem Flugzeug wäre es vermutlich wenn überhaupt eine Stunde gewesen. Von Tel-Aviv bis nach Grenoble soll die Flugzeit fünf Stunden betragen eine Einheit, an der ich gerade einmal 100 Kilometer (wenn es gut läuft) zurückgelegt habe.
Ich fahre wieder zurück in den Norden und der Stern Marseilles steht über mir wohin ich auch gehe. Ich habe die emaillierte Marseille-Tasse sowie den Kappuzenpullover von einem Skipper. Aber ist das Paradies wahrhaftig so weit entfernt? Ist die Suche auch nur annähernd von Bedeutung?

Lörrach

Ich bin zuhause angekommen, das Erste, dass ich gemacht habe ist selbstverständlich die beiden Packtaschen mit Gefühl auf das Bett zu werfen, die beiden neuen azurlimmatkobaltrheinblauen Packtaschen auszupacken, die obligatorische Spaghetti-Portion auf den Herd zu stellen und die Bluetooth-Tastatur mit dem Smartphone zu koppeln. Es funktioniert ohne Probleme.
Mit dem Adrenalin und den Endorphinen als Rückenwind meinte ich am Ende nur eine winzige Heimfahrt von der Arbeit mit einem kleinen Abstecher nach Basel unternommen zu haben.
Die Zugfahrt im TGV von Marseille-Saint-Charles bis nach Mulhouse auf Sitzplatz Nr. 26 am Fenster mit Klapptisch war pünktlich und unspektakulär, mir verbleiben noch 28 Seiten im Beethoven-Notizbuch zu füllen. Mit Rückenwind hechelte ich selbstbewusst einer Gruppe Rennradfahrenden westlich des Rheins gen Süden hinterher, freilich überholte ich sie wieder, weil sie an einem Picknick-Platz Pause machten. In Huningue / Weil am Rhein, wo ich exakt 13.543 Minuten zuvor noch im alten Jahr in der Dunkelheit stand das Rad vor der Dreiländerbrücke zu fotografieren stehe ich nun in der Spätsonne und dem Marseillaise-Pullover. Als einer von einer Million jährlich querte ich sie. Die 47 Kilometer (nach der Zugfahrt) an diesem Tag verhelfen mir zu insgesamt rund 666 Kilometern / 414 Meilen oder 133.200 Pedalumdrehungen. Im Prinzip bedeutungslos wenn man bedenkt, dass das menschliche Herz rund 100.000 Schläge je 24 Stunden hat und ein jeder Schlag einmalig ist.
Im Naturschutzgebiet „Petite Camargue Alsacienne“ fuhr ich auf dem Chemin des Planètes am Eurovelo 6 und 15 Wegweiser vorbei. Auf meinem Schreibtisch liegt nun das „Carnet à jouer“ mit dem Titel „Constellations“, ich denke an das Zitat Oscar Wildes „Wir alle schreiten durch die Gasse, aber einige wenige blicken zu den Sternen auf.“ Auf dem Fußweg zum Supermarkt hebe ich meinen Blick, meine Augen werden einem strahlenden Leuchten gewahr und ich denke an den Stern über Marseille, der ewiglich lodert.

Wieder schlägt Marseille in meiner Brust, den französischen Asphalt habe ich im Herzen und die weltoffenen Menschen im Bewusstsein, sie sind überall, in einem jedem von uns. Bis nach Santiago de Compostela sind es von der Kathedrale Notre-Dame de la Garde ungefähr 1.700 Kilometer, von Lörrach bis Rotterdam rund 850 Kilometer und von Andermatt bis Basel 430 Kilometer.
Die Zukunft hält alles bereit, jegliches Potential wohnt einem jedem Menschen inne das er / sie / es zu Lebzeiten „nur“ annähernd entfalten kann.

Ein finales Mal gehe ich durch was mir im Wesentlichen in den Tagen Kraft gegeben hat:
- Lance Armstrongs Geschichte und seine Worte: „If you worried about falling off the bike, you‘d never get on.“
- Das andere Ich oder der Elefant, der trotz dem Seil und dem Pflock anfing die Weite zu entdecken und am Ufer eines Flusses von einer galanten Erscheinung die Wunden des Seiles um seinen Hals mit Salbe und Heilung hat genesen sehen
- Jede einzelne dieser 133.200 Pedalumdrehungen ist ein weiteres Voranschreiten in das Unbekannte, vielleicht muss ich noch 1.000.000 weitere unternehmen, aber dann habe ich ja noch Terry Fox, Rosie Swale-Pope, Phileas Fogg, Paul Salopek, Juri Gagarin, Robert Garside, Thomas Stevens, Bernard Moitessier mit seiner Joshua und am Wichtigsten Iohan Gueorguiev, „The Bike Wanderer“ als Orientierungsgeber
- Die Geliebten und die Verlorenen - Menschen sterben immer zum exakt richtigen Zeitpunkt und sie begleiten einen zeitlebens in der Größe und Weite der eigenen Seele
- Der Sturz von 2021, der Rückschlag, die Resignation und die Wiedergutmachung
- Ludwig van Beethoven und Victor Hugo
- All die Frauen auf dem Weg
- Das Leben, das Risiko und das Fahren auf der Straße mit Courage, Willenskraft und einem verletzlichem Herzen
- All die Richtungs- und Wegweiser in Form von Gefährtinnen und Gefährten als auch der Tiere und Naturmomente
- Albert Einstein, Monsieur Mercedes, John Boyd Dunlop, Johnny Depp und Sean Connery auf dem Fahrrad samt der Østerbrogade in Kopenhagen im Jahre 1938.

© Julian H., 2023
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Neujahrsradreise über das Dreiländereck via Basel, Bern, Greyerz, Montreux, Genf, Grenoble, Valence, Avignon bis nach Marseille. Mit zweitägiger Zugetappe von Montreux via Genf via Grenoble.
Details:
Aufbruch: 29.12.2022
Dauer: 10 Tage
Heimkehr: 07.01.2023
Reiseziele: Schweiz
Frankreich
Deutschland
Der Autor
 
Julian H. berichtet seit 6 Jahren auf umdiewelt.
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