Dreiländereck - Marseille 2022 / 2023
With the accuracy of an eagle - 04.01.2023
Avignon - Aix-en-Provence
09:21
Avignon erwacht, Eiskristalle bilden sich auf den Härchen meiner Hände und zwei Pain aux chocolate befinden sich in meiner Satteltasche. Es ist die letzte Etappe, heute werde ich das Mittelmeer sehen. Ich stehe auf der Allee du Héron, trinke den weißen Weihnachtspunsch-Tee, esse ein Pain au Chocolate, werde von drei Radreisenden überholt und habe kalte Füße. Nebel hängt über der Landschaft, ich höre Alan Watts und einen gefährlich klingenden Hund in der Nachbarschaft bellen.
09:35
Ein Bussard fliegt in die Höhe, ein Schuss ertönt, 90,1 km verbleiben. Allan Watts sagt: “A completely predictable future is already the past. You had it. That’s not what you want. You want a surprise.” Meine Beine schmerzen und der Nebel liegt festgezurrt auf der Landschaft. Vorhin zählte ich die weißen Markierungsstreifen des Fahrbahnrandes wie so oft zuvor. Zwei weitere Schüsse erschallen. Der Autolärm der nahe gelegenen Schnellstraße zerbricht die Stille. Ein kleiner Vogel singt leise dennoch hörbar. Wie ich vorhin die Spitze des Berges erklommen habe, erinnerte mich das Bild an ein Buchcover vermutlich mit dem Titel „Licht in der Finsternis“. Ich freue mich auf die Symphonie Nr. 9. Mittlerweile höre ich Carl Sagans „We are Wanderers“. Er spricht mir aus der Seele.
10:34 Uhr
75,9 km verbleiben. Ich habe das zweite Pain au Chocolate gegessen und befinde mich nun auf dem CHEMIN SAINT FRANCOIS. Wieder mache ich mir bewusst, dass es im Prinzip nicht darum geht meine persönliche Tour de France abzuhalten und für mich in Marseille aller Voraussicht nach kein Begrüßungskomitee mit Champagner und Blumenstrauß auf mich wartet. Ich stehe an einer Lichtung, der Nebel liegt immer noch über der Natur, vermutlich wird er sich den gesamten Tag nicht lösen. Ich werde mir gewahr, dass ich die Pilgermuschel bei mir trage, die mir damals der Italiener zwischen Breslau und Zgorzelec überreicht hat. Er selbst hatte sie von einem Freund geschenkt bekommen und lange Zeit in seinem Zimmer hängen bevor er sie tatsächlich nutzte. Nun ist er des Öfteren mit seiner polnischen Freundin in Richtung Santiago de Compostela unterwegs. Ich schob einen Abschnitt in diesem Teil der Etappe, der definitiv der schönste der gesamten Tour ist. Es ist ein traumhafter Wald mit Pinien, ziemlich verwunschen und verzaubert. Und er ist ausgesprochen still. Einzig die Vögel zwitschern. Ich bin ein wenig glücklich und berührt. Marginal erinnert mich diese Lichtung an die Naturschutzgebiete im Osten von Hamburg, die Pinien an den Abschnitt an der Atlantikküste irgendwo zwischen Soulac-sur-Mer und Lacanau-Océan.
10:43 Uhr ist es und es sind immer noch 75,9 Kilometer. Wieder stehe ich vor dem Dilemma. Schreibe ich oder fahre ich Fahrrad?
Aix-en-Provence - Marseille
Ich bin angekommen in Marseille. Endlich. Ein kleines wenig stolz bin ich, mir kommt es fast so vor, als sei Sommer in dieser Stadt am Mittelmeer. Diese Etappe, die ich letztes Mal verfluchte war heute einfacher. Nicht deutlich einfacher aber einfacher. Bei dem Horrorkreisverkehr wo ich letztes Mal beinahe auf die Autobahn fuhr (die Wahrscheinlichkeit beträgt auch 99,9999 Prozent) war ich dieses Mal vorbereitet. Gleichwohl hielt mich das nicht davon ab, die richtige Ausfahrt zu verpassen und auf einer kleinen Mittelinsel umgeben von unzähligen staubigen Kieselsteinen zu stranden und mich umgeben von zig tausend Autos zu finden. Das war also der richtige Zeitpunkt um tief durchzuatmen, etwas zu trinken und endlich den Beethoven-Bonus zu aktivieren. Dieser würde mich schließlich gute zwanzig Kilometer bis an die Uferpromenade begleiten bis mir das ganze Gedudel auf die Nerven ging.
Was hat es nun im Detail mit Beethoven und der Symphonie Nr. 9 auf sich?
Oktober 2021, Ankunft am Flughafen in Medellín gegen 00:00 Uhr, selbstverständlich habe ich kein kolumbianisches Bargeld in meiner Tasche und die Suche eines sicheren Geldautomaten gleicht dem Finden einer Nadel im Heuhaufen. Glücklicherweise erwische ich einen zuverlässigen Taxifahrer von der eher normalen Sorte in punkto Fahrtstil, wir reden und dann fragt er, ob Beethoven okay sei. Ich sage ja, die Symphonie Nr. 9 beginnt und wir fahren von oben in den Kessel Medellíns, in das funkelnde und leuchtende Sternenmeer, in die Oase der Innovation. Wie ich jedoch nach Marseille mit der Musik auf den Ohren fahre, die Autos links von mir teils atemberaubend rücksichtslos überholen und ich mich ziemlich stark auf den Asphalt und meine Fahrlinie konzentrieren muss, kommt mir das Ganze doch ein wenig merkwürdig vor. Da bin ich in der Avenue Nelson Mandela mit Beethoven. Es könnte schlechteres geben.
Vermutlich bin ich der einzige Radler der auf die Idee kommt ein zweites Mal in diese Stadt zu fahren. Ich stelle mir diese Frage warum ich das mache. Man könnte auch sagen es ist eine Katastrophe, da separate Radwege sporadisch vorhanden sind und die Autofahrer mich eher als störendes Objekt ansehen, das in ihr Territorium eingedrungen ist. Lieber gefährden sie im Zweifelsfall ein Menschenleben um eine Sekunde schneller durch einen Überholvorgang ohne 1,5 Meter Schutzabstand zu sein und dann an der nächsten Ampel oder im Stau eine Minute vollkommen selbstverständlich warten. Aber so ist das eben. Ich weiß, dass ich meinen Schutzengel bei mir habe, Rumänien war noch einmal eine andere Sache und knappe 90 Prozent der Fahrenden verhielten sich äußerst korrekt und zuvorkommend.
Aufbruch: | 29.12.2022 |
Dauer: | 10 Tage |
Heimkehr: | 07.01.2023 |
Frankreich
Deutschland