Vietnam - Traum und Wirklichkeit

Reisezeit: April / Mai 2007  |  von Norbert Wallner

Zeit.Reise.Bericht
11 Tage Patenreise durch Vietnam. Zwischenlandung in Singapur. Saigon, Cu Chi, Mekong-Delta, Hue, Da Nang, Hoi An, Projektgebiet Hiep Duc mit Besuch der Patenkinder, Hanoi, Halong-Bucht.
Anschließend 1 Woche alleine und individuell im Norden Vietnams (Hanoi und Sapa).

Prolog

Es ist unwirklich. Nicht dass von einer Sekunde auf die andere plötzlich der Schweiß aus allen meinen Poren treibt, das ist sehr wirklich. Es ist selbstverständlich und war zu erwarten. Der Ort als solcher ist unwirklich. Schon als Kind träumte ich davon. Es war Teil vieler Abenteuer in meinem Kopf. Reich gesegnet mit kindlicher Phantasie habe ich schon viele Stunden, Tage, Wochen, ja wahrscheinlich Monate hier verbracht.
Sonnenblumenfeld. Das ist an und für sich etwas, was ich zu Hause vor meiner Tür auch vorfinde. Dass dieses Sonnenblumenfeld allerdings auf dem Dach des Flughafengebäudes von Singapur ist, kommt unerwartet. Fast so unerwartet wie diese ganze Reise überhaupt.

Kindheitstraum, was ist so was schon? Wer denkt denn als erwachsener Mensch an Kindheitsträume? Kindheit vorbei, Träume haben andere Inhalte, also sind sie unwirkliche Vergangenheit, niemals Gegenwart. Welcher Kindheitstraum verwirklicht sich schon? Nein, ich denke auf diesem Dach bei 38 Grad im Schatten, bei knapp 100% Luftfeuchtigkeit natürlich nicht an meine Kindheit. Ich denke daran, dass die nächsten zweieinhalb Wochen wahrscheinlich eine unzumutbare Hölle sein werden. Ich balle meine schweißnassen Hände zu Fäusten. Mir würde diese tropische Hölle nichts ausmachen, mir nicht! Ich fühle die Größe des Augenblicks. ICH BIN HIER! Und mit mir Elfi, meine liebe Frau, die sich gerade denkt, dass wird was werden, zehn Tage in dieser Hitze! Bei ihr sind es nur zehn Tage, ich habe siebzehn vor mir. Eine Woche mehr. Gegen den Willen von Elfi. Ihr ist das gar nicht Recht, auch wenn sie zugibt, dass es vernünftig ist, länger zu bleiben.
Zwei Stunden Singapur. Singapur.
Hier hatte ich als Junge viele Jahre lang eine Brieffreundin. Irene, das schönste Mädchen, das ich jemals sah.

Und jetzt viele Jahrzehnte später, ja, sie WAR das schönste Mädchen! Eindeutig. Sie war so unwirklich wie dieser Augenblick jetzt. Viele viele Fotos habe ich von ihr im Laufe der Jahre bekommen, viele Briefe, Berichte. Sehnsucht geweckt, Träume konkret werden lassen, jedoch nie Wirklichkeit. Wirklichkeit ist hier und jetzt, bei 38 Grad und 100% Luftfeuchtigkeit.
Zwei Stunden, ich weiß, sinnlos! Trotzdem suchte ich vor der Abreise nochmals im Internet, ob es ihren Namen irgendwo gibt. Zehn Mal, genau zehn Mal gibt es ihn in Singapur. Gäbe es ihn nur einmal, hätte ich geschrieben, vielleicht sogar angerufen. Aber zehn Mal erklären, zehn Mal Unsicherheit? Und zehn Mal Verständnislosigkeit. Wieso sollte sie noch so heißen? Und was sollte ich erklären vierzig Jahre später? Manche Träume bleiben Träume, Imagination, auch wenn sie sich mit der Wirklichkeit vermischen.
Zwei Stunden. Sinnlos darüber nachzudenken. Wirklichkeit ist neben der schwülen Hitze, neben dem schweißnassen Hemd, das gleich wieder in den klimatisierten schallgedämpften Räumen trocknen würde, dass ich in wenigen Stunden in Saigon sein würde. Saigon. Ist Singapur gerade noch am Rande des Vorstellbaren, weil ich jahrelang Briefe mit einem engelhaften Wesen dort ausgetauscht habe, so ist Saigon absolut jenseits jeder Vorstellungskraft.
Saigon, hieß das nicht Krieg, Opium, grölende amerikanische Soldaten, Erschießungen auf offener Straße, Selbstverbrennung von Mönchen, Kriegsberichterstattung? Saigon, hieß das nicht französische Puffs, Liebesschnulzen? Nein, klar, französische Kolonialzeit ist vorbei, genauso wie der amerikanische Krieg. Aber die Bilder sind eingegraben. My Lai, Hue, Kanonenboote auf dem Mekong, Hubschrauber, B52-Bomber, Bambusfallen, Agent Orange, was alles sich kranke Menschenhirne an Grauslichkeiten ausdenken können. Ho Chi Minh-Pfad, Vietcong. Ho Ho Ho Chi Minh, ich habe die Sprechchöre noch im Kopf, sie hallen immer noch durch meine Gehörgänge. Saigon ist alles, Traum und Alptraum zugleich. Und in wenigen Stunden werde ich dort sein. Werde mit einer Gruppe von Kinderpaten dort landen, vierzig Menschen aus Österreich, die ihre Patenkinder in Zentralvietnam besuchen wollen.
Was wird mich erwarten, was wird uns erwarten?
Wir suchen wieder die vollklimatisierten Flughafenräumlichkeiten auf, zurück zu den Palmen, den tropischen Blumen und Fischen in der Wartehalle.
Langsam trocknet mein Hemd, während ich auf das Boarding nach Saigon warte.

© Norbert Wallner, 2007
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Die Reise
 
Details:
Aufbruch: 14.04.2007
Dauer: 3 Wochen
Heimkehr: 02.05.2007
Reiseziele: Singapur
Vietnam
Der Autor
 
Norbert Wallner berichtet seit 17 Jahren auf umdiewelt.
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