Vietnam - Traum und Wirklichkeit

Reisezeit: April / Mai 2007  |  von Norbert Wallner

Touristenjäger und andere Menschen.

Zuerst noch die Geschichte eines unserer Reiseleiter:
Im Alter von sieben Jahren war er Napalmopfer bei einem Bombenangriff der Amerikaner. Er vermeidet böse Worte, der Krieg ist vorbei. Klar...
Sein Vater und ein Onkel kämpften für den Vietcong, vier andere Onkel für Südvietnam. Man dachte immer an die Zeit danach und wie die Familie überleben könnte.
Andere zogen vom Norden in den Süden um nach dem Krieg wieder zurückzukehren. Es wird auch umgekehrte Wanderbewegungen gegeben haben.
Millionen Schicksale.
Auch damit lernt man, das Land und vor allem seine Menschen zu verstehen. Viel mehr Menschen wollte ich kennen lernen.

Die Trennung von der Gruppe war schwer. Bin nun eine Woche auf mich allein gestellt. Wahrscheinlich sehe ich das gelassener als meine Frau und der Rest der Gruppe. Gruppen haben es so an sich, dass sie sich das Leben ohne Gruppe nur schwer vorstellen können.
Ich bummle noch schnell über den nahen Markt, finde einen Supermarkt, in dem ich einige Geschenke für die Kinder im Bergland kaufen kann. Leider keine Luftballons, die sich als Hit der vergangenen 10 Tage erwiesen haben.
Die eingeplante Stunde Zeitreserve vergeht viel zu rasch, ich will pünktlich in der Hotelhalle zurück sein. Wechsle heute von Luxus auf Einfach und habe mit dem Manager des neuen Hotels vor zwei Tagen telefonisch vereinbart, dass ich hier abzuholen wäre.
Auf die Sekunde genau spricht mich ein junger Mann an, gutes Englisch, wirkt eher freundschaftlich als geschäftsmäßig und gibt sich als Manager meines nächsten Hotels zu erkennen.
Mit meinem Koffer in der Hand fragt er beim Verlassen des Hotels so beiläufig, ob es mir was ausmacht, wenn wir mit dem Moped fahren. Nun ja, mir nicht, aber was wird aus dem Koffer? Kein Problem. Hartschalenkoffer, ein bissl muss er den schon pressen, dass er zwischen Sitz und Kotschützer passt. Ich schwinge mich hinter Mister Truong auf den Sattel, und ab die Post! Vor einigen Tagen mit der Rikscha, ja, da bekam ich eine Vorstellung, wie das ist mit dem Verkehr, aber die Bedingungen haben sich geändert, die Geschwindigkeit vergrößert, und ich weiß, solche Dinger können umfallen. Ich umklammere Mister Truong, während sich sein Hupe in Schlangenlinien einen Weg durchs Gassengewirr sucht. Ich wusste nicht, dass man zwanzig Minuten die Luft anhalten kann ohne ohnmächtig zu werden, aber ich schaffe es. Werde langsam entspannter, löse etwas die Umklammerung. Am Ende der Fahrt weiß ich: ich bin süchtig. Mopedsüchtig. Jedes Mal wenn ich in den nächsten Tagen etwas zum Rauchen angeboten bekomme, denke ich ans Mopedfahren und sehe keinen Grund, meine Lunge zu schädigen. Scheint alles geraucht zu werden, was Gott und Staat verboten haben, ich halte mich lieber ans Moped.

Und dann lauern sie. Verfolgen einen. Umschmeicheln, witzeln, lächeln, fordern, betteln. Oder geben sich ganz unauffällig, um plötzlich ihr Netz auszuwerfen: Die Touristenjäger von Hanoi.
Ich schweige in diesem Bericht gnädig. Ich bin reich wie alle Langnasen, also habe ich meinen Obolus zu leisten. Niemand entkommt. Wäre das der Fall, wäre am System was falsch. Nichts hilft, man kann sich nicht in Unauffälligkeit tarnen. Langnasige Monster können anziehen was sie wollen, sie werden immer als langnasige Monster herausragen.
Ich entscheide mich für die Variante Dung.

Wahrscheinlich nicht die blödeste Entscheidung, als Einzelperson bietet man ganz einfach zu viel Angriffsfläche.
Dung ist angeblich Technikabsolvent, der auf Arbeitssuche ist. Ja klar, das ist er sicher, und den Arbeitsplatz biete erstmal ich. Aber er ist freundlich, sehr gebildet und versichert mir, dass er für seine Guidetätigkeit nichts verlangt. Ich bin kein Illusionist, versuche ihm aktiv Entlohnung anzubieten, was er freundlich lächelnd ablehnt. Also bin ich gezwungen, ihn auf alles einzuladen. Unter dem Strich steige ich wahrscheinlich pari aus, weil er wirklich für alles die günstigste Variante kennt. Mit ihm komme ich auch in den Genuss öffentlicher Busfahrten, von denen überall abgeraten wird, wenn man nicht den letzten Kick eines Abenteuers sucht. Alles nicht so wild, einer der vielen Irrtümer von Reisebuchautoren. Mag sein, dass die Busse nicht pünktlich sind, aber ich versäume ja nichts.
Und Dung kennt wirklich jeden Winkel der Stadt, weiß was mich interessiert, was ich sehen will. Lehnt entsetzt ab, wenn ich mich in ein Restaurant setzen will, dass mir einen gewissen Mindeststandard zu versprechen scheint. Nein, hier sind nur Touristen, sehr bestimmt lehnt er ab. Maximal halber Preis und viel besser ist seine Devise. Da ich ja für ihn mitzahle, macht es für mich zwar keinen Unterschied, aber wer würde mir dann alles über Land und Leute erzählen?

Dung erklärt mir die Vietnamesische Geschichte der letzten Jahrzehnte, warum zum Beispiel Vietnam in Kambodscha einmarschiert ist und gegen das kommunistische Brudervolk gekämpft hat, gegen dieses blutrünstige Pol Pot-Regime. Er erzählt über Verlobungsbräuche, über Ziegenpenisse als Potenzmittel, erklärt mir die Arbeitsplatzsituation, hat das eine oder andere Geschichtlein zu diversen Sehenswürdigkeiten, erklärt mir das Wahlsystem und wie das ist mit der Korruption, warnt vor Betrügern, zeigt mir Arbeitsplätze, die sonst keine Langnase zu sehen bekommt, erklärt mir die öffentlichen Verkehrsmittel, führt mich in ein Kunstcafé, in dem viele teils berühmte Maler ihre Werke hinterlassen haben und das trotzdem in keinem Reiseführer angeführt ist, und er erzählt über seine Familie. Schließlich verbringen wir ganze Tage und halbe Nächte miteinander. Sein Vater ist pensionierter Französisch-Professor, der heute noch Literatur ins Vietnamesische übersetzt. Seine Schwester ist Lehrerin. Und sein Bruder ist geistig schwer behindert und belastet seine Familie sehr.

Ethnologisches Museum. Mit Dung. Wirklich interessant, aber ich erzähle keine Details, ihr erinnert Euch: keine Sehenswürdigkeiten! Also erzähle ich nur davon, dass ich tausenden Fans die Hände schüttle, dutzende Autogramme schreibe. Wie das? Das Ethnologische Museum ist Ziel für alle Schulklassen von Hanoi. Zumindest hat es diesen Anschein. In der großen Halle versammeln sich immer 5000 Kinder, um einleitende Worte zu hören, bevor sie in großen Gruppen durchs Museum schwirren. Naja, vielleicht auch nur immer 100, aber wo ist der Unterschied?

Als sie zu schwirren beginnen, mache ich den Fehler, freundlich zurück zu grüßen. Hello. Where you from? Austria. Hello Austria. Do you know Austria? Yes koala. No koalas. And no kangaroos in Austria. Hello. Hello. Hello... Und los geht es. Alle wollen mir die Hand geben, oder zumindest abklatschen. Dung verfällt, er will mir doch noch so viel zeigen!
Wir schaffen es, uns auch in Bewegung zu setzen. Händeschüttelnd erreiche ich das Freigelände, wo die nächste Gefahr lauert. Kleine Schulmädchen zücken Büchlein, Zettel, Hefte, um Autogramme von mir zu erheischen.

Ich weiß nicht, mit wem mich die Kids hier verwechseln, was ihnen von ihren Lehrerinnen erklärt worden war. Ich lasse auch diesen Kelch an mir vorübergehen.
Aus einem Bergvolkhaus erklingt die Frage aller Fragen. Where are you from? Immerhin gutes Englisch. Ich riskiere einen Blick durch die Fensteröffnung, sehe zwei hübsche Mädchen drinnen sitzen und stelle klar, dass es in Austria keine Koalabären gibt.

Die beiden Aphroditen winken mich hinein. Zeit haben wir ja, also bleibt auch Dung nichts anderes übrig, als sich die Schuhe auszuziehen. Wir setzen uns gegenüber, Huong und Loan, zwei Studentinnen, die hier volontieren, froh sind, ihr Englisch trainieren zu können. Nach einer halben Stunde wollen sie meine Schwiegertöchter werden, mache also sicherheitshalber Fotos, damit meine Söhne nicht die Katzen im Sack kaufen müssen, und lasse mir die E-Mail-Adressen aufschreiben...

Spätabends führt mich Dung einer Massage zu. Not sexual. Ich vergewissere mich noch einmal. Vietnamesische Massage, nicht Thai Massage. Not sexual. Wir durchqueren finstere Gassen in der Altstadt. Vor einem Haustor lungern sechs Männer, wir sind am Ziel. Vorsichtshalber habe ich alle Wertgegenstände im Hotel gelassen und gut versteckt, habe ausnahmsweise meine Kamera nicht mit, und nur sehr wenig Geld eingesteckt. Meine Güte bin ich froh darüber! Wir gehen in einen Hinterhof, der stockdunkel ist, ein Mann voran, dann Dung, dann ich, und hinter mir noch zwei Männer. Es geht im Hinterhaus eine steile finstere Treppe hinauf, jederzeit rechne ich mit einem Schlag auf den Kopf. Aber nichts tut sich. Eine junge Mutter mit Kleinkind öffnet, ich schöpfe Hoffnung zu überleben. Schuhe ausziehen, klar. Zwei offensichtlich frische Badetücher auf zwei Matratzen auf dem Boden, Ausziehen bis auf die Unterhose, und dann werden mir alle Muskel zerfetzt, alle Gelenke verrenkt und alle Knochen gebrochen, zum Schluss mein Genick. Kismet. Ich habe mit meinem Leben ohnehin abgeschlossen, warum nicht hier in einem Hinterhof von Hanoi?
Wunderbarerweise kann und darf ich mich nach einer Stunde wieder erheben und anziehen, nachdem mein Masseur noch andächtig meinen Bierbauch bewundert hat. Ich zahle fast nichts und Dung hindert mich daran, zuviel Trinkgeld zu geben. Die Burschen seien vom Land, und das sei ohnehin viel. Ich will nicht widersprechen.
Ich schleppe meinen gekneteten und geschundenen Körper auf die Straße hinaus. Wie ich mich fühle, will Dung wissen. Naja, eh gut, meine ich. Ich meine das ehrlich, immerhin kann ich mich noch bewegen.
Während wir Richtung Minh's Jazz Club marschieren, beginne ich mich freier zu fühlen. Und ja, plötzlich schwebe ich, fühle mich 30 Jahre jünger, könnte mich wahrscheinlich wie ein Vogel in die Lüfte heben, würden mich nicht die Millionen Stromleitungen, die kreuz und quer über die Straßen hängen, daran hindern.
Und der Jazz bei Minh ist wirklich gut.

Hoan Kiem See. Zwei Burschen sprechen mich an, der eine hat siebzehn Jahre in Deutschland gelebt und musste kürzlich zurück, weil er keine Aufenthaltsgenehmigung mehr hatte. Spricht nicht viel Vietnamesisch, hat hier keine Freunde. Kaum eine Chance auf Job, er müsste den vietnamesischen Schulabschluss nachholen. Also geht er als Straßenhändler wie tausende andere auch. Ich brauche keine Ansichtskarten mehr und schenke ihm 20.000 Dong.

Ein junges Mädchen spricht mich an, ob ich Zeit hätte. Ich mustere sie misstrauisch. Nein, sie sieht weder gefährlich aus noch wie eine Prostituierte. Sicherheitshalber frage ich nach dem Grund. Sie wolle sich mit mir unterhalten, weil ihr auf der Uni gesagt wurde, am besten könne sie ihr Englisch trainieren, wenn sie mit Ausländern spricht. Ja gerne, warum nicht? Sie heißt Hong und ist eine 19-jährige Wirtschaftsstudentin, stammt aus einer Provinz in der Nähe von Hue. Ich erfahre wieder etwas über das Land und sie kann Englisch trainieren.

Sie bemüht sich krampfhaft, keinen grammatikalischen Fehler zu machen, entschuldigt sich immer wieder, wenn sie nachdenken muss. Ich tröste sie damit, dass wir ja Zeit hätten, und ihr Englisch ohnehin sehr gut sei. Ja, als sie nach Hanoi an die Uni kam, war sie auf Stufe 4, mittlerweile konnte sie sich schon auf Stufe 8 verbessern, 10 sei das Beste. Ich versichere ihr, ich würde ihr ohne weiteres bereits eine 10 geben, aber beim Schreiben, meint sie, macht sie noch Fehler. Soll sein, ich denke, das machen Engländer auch. Wir unterhalten uns fast drei Stunden. Sie möchte so gut und so schnell studieren wie möglich, um ihre Familie unterstützen zu können. Wie ich später noch aus E-Mails erfahre, ist ihre Mutter vor zwei Jahren an Leukämie gestorben, und ihr Vater opfert sich auf, um ihr das Studium im fernen Hanoi zu ermöglichen und für ihre zwei kleinen Brüder zu sorgen.

Hung. Stolzer Besitzer einer kleinen Agentur. Vermittelt Reisen aller Art. In erster Linie wohl mit ihm selbst als Fahrer seines Mopeds. So genau will ich es gar nicht wissen. Heute ist Feiertag, er hat frei. Naja, kein ernsthafter Unternehmer in Vietnam hat jemals frei. Ansichtssache. Hung ist spezialisiert auf den amerikanischen Krieg, betreut wohl viele amerikanische Touristen und ehemalige amerikanische Soldaten. Teilweise schwingt mehr als Ironie aus seinen Worten. Aber man redet nicht über Politik in Vietnam, Ihr wisst schon. Jedenfalls ist das Wrack des B-52-Bombers in einem kleinen See in Hanoi fixer Programmpunkt bei ihm, und die Freude schwingt unverhohlen mit. Egal, ich habe gelesen, dass man den Amerikanern verziehen hat. Irgendwer muss da Amerikaner mit US-Dollar verwechselt zu haben. Hung's Vater scheint eine nicht unwesentliche Rolle in diesem Krieg gespielt zu haben. Und er verzeiht, Offiziell. Hung hat eine psychisch kranke Schwester daheim. Und er sorgt für die schwer behinderten Kinder Minh und Huong, ermöglicht ihnen eine Ausbildung. Zumindest erzählt er mir das und ich gebe 10 Dollar, muss für jedes Kind ein paar Zeilen in ein Büchlein schreiben und Hung hat ein Art Kassabuch, in das er je 5 Dollar einträgt. Ich hoffe, ich hab mit diesen 10 Dollar nicht einen Beitrag für die Verschönerung von Hung's Moped geleistet.

P.S.
Ich war an folgenden Tagen in Hanoi:
21.-22.04.2007
23.-26.04.2007
30.04.-01.05.2007

© Norbert Wallner, 2007
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Zeit.Reise.Bericht 11 Tage Patenreise durch Vietnam. Zwischenlandung in Singapur. Saigon, Cu Chi, Mekong-Delta, Hue, Da Nang, Hoi An, Projektgebiet Hiep Duc mit Besuch der Patenkinder, Hanoi, Halong-Bucht. Anschließend 1 Woche alleine und individuell im Norden Vietnams (Hanoi und Sapa).
Details:
Aufbruch: 14.04.2007
Dauer: 3 Wochen
Heimkehr: 02.05.2007
Reiseziele: Singapur
Vietnam
Der Autor
 
Norbert Wallner berichtet seit 17 Jahren auf umdiewelt.
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