Vietnam - Traum und Wirklichkeit
Die Kinder von Hiep Duc.
Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass in Vietnam jemand so schleichen könnte wie unser Fahrer. Unser Kleinbus ist nagelneu, ich vermute, er wird vom Chef höchstpersönlich gesteuert. Nichts kann uns aufhalten, nicht einmal die Sorge um ein neues Fahrzeug. Obwohl, ich kenne mittlerweile die vietnamesischen Verkehrsverhältnisse, ich verstehe den Fahrer. Ich unterdrücke aufkommendes Mitleid, bei 200% Steuer wird dieses Fahrzeug hier wahrscheinlich über 100.000 Euro kosten, eine astronomische Summe bei städtischen Durchschnittseinkommen von ca. 300 Euro im Monat. Lange kann ich nicht an Fahrer und Auto denken. Immerhin ist heute der absolute Höhepunkt dieser Reise. Wir treffen unsere Patenkinder im Projektgebiet von Hiep Duc. Ich habe mich im Internet zuvor schlau gemacht. Eines der Hauptkampfgebiete im Vietnamkrieg. Unser Reiseführer erläutert die heutige Situation. Viele Hügel in dieser Provinz wurden von den Amerikanern für viele Generationen mit Agent Orange vergiftet. Nicht nur, dass auch noch 35 Jahre später missgebildete Kinder zur Welt kommen, ist auch die Vegetation nachhaltig geschädigt. Viele Hügel sind kahl, auf anderen versucht man mit schnell wachsenden Eukalyptuswäldern das Gift aus dem Boden zu ziehen, mit dem verdammten Effekt, dass daneben nichts wächst, weil diese Bäume sehr gründlich wirklich alles aus dem Boden holen. Also eines der ärmsten Gebiete von Vietnam. Die Landschaft verschont uns gnädig. Was man nicht sehen will, übersieht man außerdem sowieso. Und da die Vorfreude auf unsere Kinder überwiegt, sind wir ziemlich abgelenkt.
Nach zweistündiger Fahrt von Hoi An erreichen wir die Provinzhauptstadt, lassen eine umständliche Funktionärsrede des Bezirkshauptmannes über uns ergehen, in der er erstaunlicherweise jede politische Aussage vermeidet. Vietnamesen reden nicht über Politik. Sicher hat er diese Reiseführer gelesen. Also jedenfalls müssen wir da durch. Gute Miene. Dann wird's ohnehin lustiger. Wir fahren zu einem Projektkindergarten von World Vision. Die Kleinen müssen für uns singen und tanzen und Gedichtlein aufsagen, die wir sowieso nicht verstehen. Trotzdem überkommt uns Rührung.
Als die Sonne am höchsten steht und unsere Kleidung am stärksten vor Schweiß trieft, bringt man uns endlich zurück in die Provinzhauptstadt, wo man unsere Patenkinder mit Taferln und Begrüßungsblumen versehen in einer Reihe aufgestellt hat. Absichtlich oder zufällig, wer weiß das schon, müssen wir einen Graben überwinden, um zu den Kids zu gelangen. Nga ist die Erste, jemand muss ausgeplaudert haben, dass ich eine blinde Brillenschlange bin. Natürlich bin ich im Vorteil, weil sie ein Taferl hat und ich nicht. Ich weiß also, wer sie ist und kann sie mal verstohlen mustern. Das hübscheste aller Kinder, natürlich. Nur
böse Seelen würden widersprechen.
Schüchtern gebe ich mich zu erkennen, Sekundenbruchteile später umklammert mich ein kleines Händchen, das mich die nächsten zwei Stunden nicht mehr loslassen würde. Das zweithübscheste aller Kinder steht daneben und beobachtet den Ausbruch von Freude und Rührung, fasst sich ein Herz und fragt schüchtern: "Karin?" Sorry, ich kenne keine Karin. Unendlich traurig blickt mich die Kleine an, ein Stich ins Herz. Überwältigt von den Gefühlen spüre ich, wie mich jemand von der anderen Seite packt und an sich drückt. Hab ich nicht in Reiseführern gelesen, Vietnamesinnen scheuen Körperkontakt, hab ich nicht in der Bezirkshauptmannschaft noch einmal unterschrieben, ich dürfte kein Kind angreifen? Aber hat mir jemand gesagt, wie ich reagieren soll, wenn ich plötzlich von zwei Seiten umklammert werde, sich ein Kind an mich schmiegt und eine Mutter mich umarmt? Die Kommunikation ist natürlich ohnehin auf Körperkontakt beschränkt. Vierzig Pateneltern und einige wenige Übersetzer, die sich redlich bemühen. Einzig der kleine Bruder unserer Nga scheint vietnamesische Reiseführer gelesen zu haben, obwohl er noch nicht zur Schule geht. Er meidet uns schüchtern wie Kinder seines Alters überall auf der Welt auch. Langsam fassen sich die ersten Pateneltern und beginnen ihre Geschenke zu überreichen, also fange ich auch an, den prall gefüllten Rucksack auszupacken. Leuchtende Augen, ein Lächeln, wie es nur 9-jährige Kinder hinzaubern können.
Plötzlich treiben uns die Reise-, Gruppen-, Projekt- und sonstigen Leiter zu den drei Kleinbussen, um uns alle, 40 Pateneltern, ca. 25 Patenkinder, deren Eltern, Geschwister, Großmütter, dazu Übersetzer, Leiter und Fahrer irgendwie unterzubringen. Wie es funktioniert hat, wird keiner mehr später sagen können, jedenfalls scheinen alle mit zu sein. Die Fahrt geht nicht weit, wir drängen uns alle in einen noch kleineren Raum, diesmal mit der Erschwernis, dass auf allen Tischen Essen aufgetürmt ist. Zu meinem großen Erstaunen finden alle, die zusammen gehören, auch zusammen Platz.
Einmal begegne ich noch dem Mädchen, das immer noch mit traurigem Blick Karin sucht. Sorry. Ich würde die Kleine gerne mit an unseren Tisch setzen, aber während mich Nga umklammert, entschwindet Karins Patenkind wieder. Der Kampf ums bessere Füttern beginnt. Flinke Stäbchen von beiden Seiten füllen meinen Teller, während ich mich bemühe, Nga und ihre Mutter mit eiweißreicher Nahrung zu versorgen. Nga ist dünn wie viele Kinder ihres Alters, die Mutter jedoch wirklich erschreckend unterernährt. Wir versprechen ihr, ihr eine Kuh zu kaufen. Kaum mit dem Essen fertig, werden wir schnell und plötzlich von unseren Patenkindern wieder getrennt. Ich verstehe, es sollen keine tieferen Bindungen entstehen, wäre nicht im Sinne des Projektgedankens. Die Kinder sollen "Fenster zur Welt" sein, wie uns erklärt wurde. Mehr nicht. Wir dürfen schließlich auch nicht die Adressen der Kinder erfahren. Kurzer Abschiedsschmerz mit dem Wissen, unsere Kinder nie mehr sehen zu können. Oder doch? Mein Entschluss wieder zu kommen reift. Nächstes Ziel ist ein neu gebautes Gesundheitszentrum.
Alles fertig und in Betrieb, inklusive Kreißsaal. Irgendwann wird es auch Wasser geben. Riesiger Fortschritt, wie notwendig so etwas in diesem Land ist, erzählt man mir erst einige Tage später. Es gibt keine Sozialversicherung in diesem Land, man behilft sich mit Natur- und Kräutermedizin. Krankenhaus können sich nur die wenigen Wohlhabenden leisten. Wir wollen keine Kritik am System anbringen. Vietnamesen reden nicht über Politik. Über unwegsames Gelände zu einer ethnischen Minderheit, die auch von World Vision betreut wird. Hier umfängt uns wirklich bittere Armut, aber wir wissen ja nicht, ob es in den Dörfern unserer Kinder nicht ebenso ist.
Man zeigt uns das mit Hilfe von World Vision neu errichtete Gemeinschaftshaus, wir begrüßen die Dorfältesten und lassen wieder einige Reden über uns ergehen, bevor wir das Kuhprojekt besichtigen dürfen.
Am Rückweg zur Provinzhauptstadt besuchen wir eine Kinderkrippe, wo uns die Ein- bis Dreijährigen tänzerische Anmut in Windelhosen zeigen.
Zum Abschluss noch Besuch der World Vision-Zentrale, wo uns alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorgestellt werden. Wir gewinnen den Eindruck, dass das Projekt auch weiterlaufen wird, wenn sich World Vision in wenigen Jahren zurückziehen wird. Die Eigendynamik ist erkennbar, der Wille, weiter zu machen vorhanden. Natürlich kann man eine Region mit ein wenig Entwicklungsarbeit nicht wohlhabend machen, aber eine gut durchwachsene Infrastruktur, die hier mit Hilfe von World Vision geschaffen wird, könnte ausreichend Impulse für die Zukunft liefern.
Guten Mutes und mit schwermütigen Herzen lassen wir uns zurück nach Hoi An bringen.
Aufbruch: | 14.04.2007 |
Dauer: | 3 Wochen |
Heimkehr: | 02.05.2007 |
Vietnam