Allein auf Tour in den ukrainischen Karpaten
Treffen mit alten Bekannten
Sonnabendsruhe auf Lembergs Straßen. Wenn du Sergej hier nicht treffen solltest, was machst du dann ???
Pünktlich kommt der Zug an.
Es ist schon herbstlich kühl kurz vor Sonnenaufgang, aber das Wetter bleibt weiter schön. 2006 war ich das letzte Mal hier, nun müssen sich meine Ortskenntnisse bewähren.
Einzige Chance, Sergej doch noch zu treffen, ist das Cafe Tibava. Um 7.30 Uhr stehe ich davor.
Doch man öffnet erst um 10 Uhr. Ich setze mich auf dem Hof in die Sonne und rutsche immer ein Stück nach links, wenn mich der Schatten der umliegenden Häuser wieder einholt. In den Häusern stehen die Leute auf, führen ihren Hund aus oder schütteln die Betten auf dem Balkon aus. Von mir nimmt niemand Notiz, ich scheine aber auch niemand zu stören.
Punkt 10 Uhr öffnet das Cafe. Ich gehe rein, aber der Chef, der deutsch spricht, ist nicht da. Immerhin ist die Kellnerin bereit, auf ihrem Handy die Nummer von Sergej zu wählen. Und das klappt! Ich bin in 30 Minuten da, läßt Sergej sagen.
Und er kommt nicht allein.
Professor Marjuta ist dabei. Er betreibt eine private Akademie für Systemtheorie. Das erklärt er mir auf ukrainisch und Sergej übersetzt. Etwas unausgeschlafen, fällt es mir schwer, zu folgen, aber ich will ja höflich sein.
Der Professor war früher in Moskau Chefideologe, der sowjetische Aparatschiks ideologisch auf Linie bringen mußte. Nebenbei erwähnt Sergej, der Professor sei der einzige Überlebende, seine Kollegen sind inzwischen alle umgebracht worden.
Von da an bin ich hellwach.
Professor Marjuta hält eigens für mich einen hochkarätigen Vortrag über Gesetzmäßigeiten im kollektiven Denken der Menschen. Nur 3 % aller Menschen seien in der Lage und bereit, komplexe Vorgänge zu verstehen, wiederzugeben und in Verhandlungen überzeugend vorzutragen. Diese 3 % müsse man auf höchsten Entscheidungsebenen zusammenbringen. Wichtig sei das Zuhörenkönnen und die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in die komplexen Gedankengänge seiner Gesprächspartner hineindenken zu können.
Nur so könne es zu echten Verhandlungen kommen, bei denen Kompromisse erzielt werden können, die langfristig halten.
Es nütze wenig, wenn Kompromisse in Verhandlungen erzielt werden, bei denen eine Seite den andern ihren Willen aufzwingt, sei es aufgrund der wirtschaftlichen Stärke oder der militärischen Macht.
Davon habe er inzwischen auch Herrn Putin überzeugen können und auf Einladung der israelischen Regierung habe er einen Lehrgang vor Führungskräften des israelischen Heeres gehalten.
Dabei habe er den Militärs klarzumachen versucht, dass man sich mit der Denkweise der Palestinenser auseinandersetzen müsse, um vom Zustand der Unterdrückung und der daraus immer wieder aufkeinemden Rebellion herauszukommen.
Ich versuche, mit einer Frage zur Eurokrise das Thema auf wirtschaftliche Aspekte zu bringen. Ich staune , wie genau der Professor über das Zustandekommen der Währungsunion Bescheid weiß und die Fehler auflistet, die die damals Verhandelnden gemacht hatten.
Dabei betont er die Bestätigung seiner Theorie: Mitterand und Kohl wollten einen Kompromiß, der die DM abschaffen sollte und der Deutschland die Wiedervereinigung ermöglichen sollte.
Da war die Schaffung des Euro dann die zündende Idee, die anschließend mit allen Mitteln und gegen bzw. ohne den Rat von kompetenten Fachleuten durchgesetzt wurde. Sie sehen: da waren Politiker am Werk, die nicht genug komplex denken konnten!
Sergej ist Verleger, er wird demnächst das Buch auf den Markt bringen, in dem der Professor seine Theorien erläutern wird. Der jüngste Entwurf sei sehr gut geschrieben, den könne jedermann verstehen, nicht nur die besagten 3 %.
Der Professor händigt mir noch seine Visitenkarte aus, dann frühstücken wir im Cafe Tibava.
Sergej hat die Organisation im Griff.
Übernachten könnte ich entweder bei einem Imker am Stadtrand oder bei seiner Schwiegermutter, etwa 20 Minuten Fußweg von hier.
Rad und Gepäck werden sicher im Cafe untergebracht, nun haben wir Zeit zum Bummeln in der Stadt.
In den vergangenen Jahren hat sich hier viel getan. Viele Häuser in der Innenstadt werden saniert, Blumenkübel sperren neu geschaffener Fußgängerstraßen ab, es gibt eine Touristenmeile.
Sonntags gehört die Stadt den Einheimischen. Auf den Straßen bummelt man zu Fuß bis in die Dämmerung - fast schon südliches Flair
Sergej hatte ich 2004 auf der Suche nach der armenischen Kirche in Lemberg kennengelernt. Damals hatte er uns auf deutsch angesprochen und uns Lemberg gezeigt. 2006 hatte er den Aufenthalt unserer Skatrunde in Lemberg und sogar in Kiew organisiert. Sein Motto: Man muß das hier mit eigenen Augen sehen !
Eingang zum Cafe Tibava, Slowaskogo 18
Der Besitzer hat Pläne, hier ein Mittelklassehotel zu bauen. 300 Meter vom Haupteingang der Universität entfernt, sicher ein aussichtsreiches Vorhaben. Er sucht nur noch einen Teilhaber mit Kapital.
Schach ist Volkssport, jede Partei mit vielen Zaungästen, die sehr diszipliniert zuschauen und sich mit Kommentierungen zurückhalten
Die Bürde der Zeit. Man kann die Skulptur aber auch als Einladung in das nächstgelegende Weinhaus verstehen
Gelebte Demokratie im Zentrum der Stadt: Hier darf jeder zu jedem Thema einen Zettel anheften. Es gibt viele Plakate zu Veranstaltungen, aber auch Thesen, die provozieren sollen. Reden könnten hier auchgehalten werden, aber schriftlich kann man seine Meinung hier längere Zeit anheften. Wenn nicht ein anderer seinen Zettel drüberheftet. Aber etwas abzureißen, ist verpönt!
Genau gegenüber vom Rathaus kann man in einen Kellereingang eines Hauses gehen und, wenn man an der schweren Eisentür die richtige Partisanenlosung nennen kann, wird geöffnet und man wird mit einem Glas Wodka begrüßt. Hier führen Einheimische ihre Gäste hin. In den Kellergewölben eine große Kneipe, die einem unterirdischen Partisanenlager nachempfunden ist. Viele Dekorationsstücke wie MPs und Kriechgänge sind echt
eine früher streng geheime Lageskizze mit dem Entlüftungsschacht, der auch als Fluchtweg dienen konnte.
Sergej hat ständig zwei Handys bei sich, eins für eingehende, eins für ausgehende Gespräche, damit er nichts verpaßt. Er ruft u.a. einen Professor Tarachenko an, den er mißgelaunt antrifft. Er sei zum Angeln gewesen und habe den ganzen Tag nichts gefangen. Zeit, mal unter andere Leute zu kommen.
Sergej stellt ihn mir vor: Professor für Katalyseforschung an der polytechnischen Universität in Lemberg. Er habe wegweisende Erfindungen gemacht, aber von staatlicher Seite würde er ja keine Unterstützung und Förderung seiner Vorhaben erwarten können.
Dabei geht es um so wichtige Sachen wie die Gewinnung von Methan (Erdgas) aus Wasserstoff und Kohlendioxyd - da brauchte die Ukraine, folgte man seinen Vorschlägen, 30 % weniger Erdgas einzuführen. Ich werde hellhörig: Kohlendioxyd nicht als lästiges Abfallprodukt, sondern als Rohstoff ? Und wie bekommt man den Wasserstoff ? Na, ganz einfach, aus Wasser, davon gibt es doch genug. Und die dafür notwendige Energie?
Das wird er mir später erklären.
Auf dem Rücksitz seines Autos entdecke ich eine Veröffentlichung zu diesem Thema, alles auf ukrainisch, aber die chemische Formel kann ich lesen. Das macht mich noch neugieriger.
Sergej macht den Vorschlag, mal etwas in die Umgebung Lembergs hinauszufahren. Der Professor hat das Auto, ich könnte das Benzin spendieren, dann wären wir beweglicher. Und er setzt noch eins drauf: Er kenne in Huzne den Bürgermeister, der ihn schon mehrfach eingeladen hätte, das wäre doch ein Ziel, dort könnten wir für 30 Euro alle zusammen übernachten und zwar beliebig lange.
Huzne liegt südlich des Berges Pikuj, an dessen Nordflanke ich vor ein paar Tagen entlanggeradelt bin, das sind ja 140 km von hier, wo lasse ich da mein Rad so lange ?
Kein Problem - der Professor fährt uns in ein verkommenes Gewerbegebiet mit unzähligen Garagen, holt aus seiner Garage einen Anhänger. Da kann mein Rad drauf, und den Anhänger nehmen wir einfach mit!
Spontane Vorbereitung zu einem Autoausflug in die Karpaten. Wie man ankuppelt, zeigt uns der Professor!
Proviant für die Tour müssen wir noch in Lemberg einkaufen, im Gebirge gibt es nichts. Dass es aber vor den Toren Lembergs einen Supermarkt mit einem Angebot weit größer als bei uns gibt, verschlägt mir fast den Atem.
Hier sucht Sergej an der Butterbar das passende für uns aus: Darf sie aus Rußland, Kasachstan, Holland, Finnland oder Frankreich sein ? Oder einfach nur aus der Ukraine ? Deutsche Butter entdecke ich nicht. Haben deutsche Marketingstrategen hier noch keine Marktlücke entdeckt ?
Wurst kauft man nur im Ganzen. Aber die Qual der Wahl ! Übrigens haben wir Sonntag nachmittag, der Parkplatz vor dem Haus ist voll und es kaufen hier auffällig viele junge Leute ein. da muß es hier doch auch eine ganze Menge Besserverdienende geben.
Ukrainisches Bier gibt es billig in 2-Literflaschen, PET ohne Pfand, wie man sie später in der Landschaft wiederfindet. Aber auch höchste Ansprüche an Faßbier können befriedigt werden. Das nötige Kleingeld scheint hier kein Problem zu sein.
Ziemlich unkoordiniert raffen wir uns die Verpflegung für drei Tage zusammen. Kartoffeln, Gurken und Zwiebeln gäbe es in Huzne frisch und günstig, auf die können wir hier verzichten. Lange Schlangen an den Kassen, wir zahlen knapp 30 Euro für alles und schon kann es losgehen.
Aufbruch: | 27.08.2011 |
Dauer: | 16 Tage |
Heimkehr: | 11.09.2011 |
Rumänien
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