Von Mexiko bis Argentinien
Vier Kinder aus Hilando Sueños
Persönliche Eindrücke
Die Geschwister Abigail (11 Jahre), Fabiola (neun Jahre), Juan David (sechs Jahre) und Sarah (vier Jahre) leben mit ihrem Vater. Die Mutter ist im vergangenen Jahr mit einem anderen Mann fortgegangen und lässt seitdem nicht mehr von sich hören. Der Vater arbeitet den ganzen Tag. Die vier Kinder sind auf sich gestellt. Die Projektleiterinnen erzählen uns, dass die Kinder zu Beginn, nachdem die Mutter sie verlassen hatte, sehr traurig, introvertiert und unkonzentriert wirkten. Auch jetzt nach einem Jahr wirkt Juan David oft abwesend. Er möchte sehr gerne mit mir arbeiten. Wenn ich dann mit ihm an seinen Aufgaben sitze, blickt er nach einigen Minuten ins Leere. Ein kurzes ‚Juan David, que pasa?’ und er ist wieder dabei bis zum nächsten Blackout.
Sarah ist erst vier Jahre alt und damit eigentlich noch zu klein für die Fundación. Als Geschwisterkind wurde sie dennoch aufgenommen. Sie spielt vor sich, schaut den Großen zu, freut sich, wenn sie ein Puzzle machen oder malen kann.
Jeden Vormittag kommt Abigail mit den drei Jüngeren im Schlepptau in die Fundación; regelmäßig um 11:30 sammelt sie die drei wieder, macht sich mit ihnen auf dem Heimweg, um vor der Schule für alle zu kochen.
Zum Tagesausflug ins Schwimmbad, den die Fundación im Dezember zu Beginn der großen Ferien für alle Kinder organisiert, kommt Abi mit ihren drei Geschwistern und hat wie eine Mutter alles vorbereitet: Sie verteilt belegte Sandwiches, sie hat Erfrischungsgetränke für alle vier dabei; vor dem Mittagessen breitet sie eine große bunte Decke unter einem Baum im Schatten aus; zwei enge Freundinnen ergänzen die Familiengruppe auf der Decke.
Fabiola sitzt auf der Ausflugsfahrt zum Schwimmbad neben mir. Sie trägt wie immer ihr wollenes Haarband. Auch als einige Tage zuvor Lidia, die Sozialarbeiterin, ihr die Haare wusch und sie anschließend gründlich kämmte, wobei viele kleine Läuse und noch mehr Eier zum Vorschein kamen, war Fabiola nicht bereit, danach auf ihr Haarband zu verzichten. Lidia massiert ihr nach dem gründlichen Kämmen ein Produkt ins Haar, das die Läuse abtöten soll; am nächsten Tag erscheint Fabiola wieder wie gewohnt mit ihrem Stirnband.
Alle vier Kinder sind sehr arm. Die neunjährige Fabiola erzählt mir auf der Busfahrt, dass sie schon einmal in ihrem Leben in einem Schwimmbad gewesen sei und sich sehr auf dieses zweite Mal freue.
Es versteht sich fast von selbst, dass keines der vier Kinder Badekleidung besitzt. Darauf sind die Betreuerinnen vorbereitet. Sie haben eine große Tasche mit Badehosen und Badeanzügen dabei, für alle Kinder, die nichts mit haben. Abi sucht zunächst für ihre Geschwister die passenden Sachen zusammen, danach für sich selbst. Fabiola und sie ziehen die Badeanzüge über ihre Unterwäsche, die überall hervorlugt. Warum machen sie das, frage ich mich. Vielleicht aus Scham? Alle vier bewegen sich zunächst vorsichtig abwartend im Bad. Der Unterschied zu vielen anderen Kindern, die gleich nach der Ankunft losrennen, um die verschiedenen Becken, die Spielgeräte, die große Spielwiese zu erkunden, ist auffallend. Im Laufe des Tages, den wir gemeinsam im Bad verbringen, tauen sie auf. Am Nachmittag springen sie wie alle anderen herum und sind auf der Rückfahrt im Bus todmüde. Juan David schläft im Sitzen, Sarah kommt auf meinen Schoß und schläft nach wenigen Sekunden tief und fest.
Besonders Abigail kennen wir meist ernst und bedächtig. Kein Wunder. Umso mehr freuen wir uns, als auch sie im Bad irgendwann auftaut und mit den anderen lachend und johlend ins Wasser hüpft, taucht, springt und herumalbert.
Es ist einer der wenigen Momente in ihrem Leben, in denen sie die Verantwortung für Juan David und Sarah abgeben kann. Sie sieht, dass ich die beiden an der Hand halte.
Als in den ersten Dezembertagen die Rollen für das Weihnachtstheater verteilt werden, sind Abi, Fabiola und Juan David dabei. Zwar zunächst zögernd und im Hintergrund, doch verpassen sie keine Probe und melden sich bei mir ab, wenn sie nach Hause müssen.
Abigail ziert sich ein wenig, als ich eine der beiden Hauptrollen im Stück mit ihr besetze. Ihre Rolle ist anspruchsvoll, denn sie muss viel vorlesen. Als Erzählerin arbeitet sie intensiv an ihrem Text und geht bei den Proben von Tag zu Tag mehr aus sich heraus. Am dritten Probentag hat sie ihr Skript zu Hause vergessen, läuft zurück um es zu holen und liest so stolpernd und schlecht vor, dass ich mich insgeheim frage, ob sie der Rolle gerecht werden kann. Doch am vierten Tag sieht ihr Exemplar schon richtig durchgearbeitet aus, sie hat zu Hause mit Fabiola geübt, und bei der Aufführung am 21. Dezember liest sie ohne Stolpern auch die schwierigsten Wörter.
Fabiola reiht sich in die Schar der Engel ein und kommt stolz in einem elfenbeinfarbenen Spitzenkleid zur Aufführung. Vielleicht ein Kleid von ihrer Erstkommunion. Viele Kinder ziehen sich gleich nach der Aufführung wieder um; Fabiola bleibt bis zum Ende der Weihnachtsfeier in ihrer Engelsverkleidung und fühlt sich sichtlich wohl. Sogar auf das wollene Stirnband kann sie an diesem Tag verzichten.
Juan David, immer schüchtern, immer zurückhaltend, immer ein wenig abseits stehend, freut sich riesig über die Krone, die er als einer der Könige aus dem Morgenland tragen darf. Schon Tage zuvor läuft er mit der Krone auf dem Kopf herum.
Am Ende der Weihnachtsfeier fällt mir der Abschied von den vier Geschwistern am schwersten.
Aufbruch: | 27.09.2017 |
Dauer: | 5 Monate |
Heimkehr: | 11.02.2018 |
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