Rekordversuch
Auf den Spuren von Commissario Brunetti in Venedig
Ich stehe relativ früh auf, checke aus und mache mich auf den kurzen Weg zum Hauptbahnhof von Mailand. Frühstück habe ich noch nicht gehabt um diese Uhrzeit, aber mit dem Tagesplan im Gepäck reicht mir auch eine Flasche Wasser. Ich hatte gestern Abend noch sehr gut vorgearbeitet, online. Da ich nämlich weiss, dass mein Hotel in Venedig etwas kompliziert zu finden ist, habe ich mir den Weg vom Bahnhof zum Hotel praktisch ins Gehirn gebrannt.
Aber erstmal Milano Centrale meistern. Kein Problem. Es wird etwas spät an den Anzeigetafeln bekannt gegeben, von welchem Gleis der Zug abfährt und bei Gleis-Änderungen stimmen auch die Wagenstandsanzeiger nicht mehr, aber so what. Hauptsache, ich bin im Zug nach Venedig ! Ca. 10 Minuten lang schleife ich dann mein Gepäck durch den Zug, um endlich den von mir reservierten Sitzplatz zu finden. Plumps. Ich sitze, mein Gepäck ist irgendwo in der Mitte in so einem Gepäck-Dings. Nach schon ungefähr 20 Minuten kommt eine italienische Bahnbegleiterin mit Essbarem vorbei - da schlage ich hungrig zu. Es gibt ein Sandwich + Müsliriegel + weiteres Wasser für 5 EUR. Unterwegs gibt es aus dem Zugfenster auch wunderschöne Ausblicke auf die südlichen Alpen und den Gardasee.
So, jetzt gilt es die Casa Sant´ Andrea zu finden, mein Hotel für 2 Übernachtungen. Soll etwas tricky sein. Ist es auch. Aber ich weiß um die grobe Richtung: Nach rechts zur Piazzale Roma und über die neue Fußgängerbrücke Ponte della Costituzione. Recht beschwerlich mit Gepäck am Haken und schon hier bemerke ich, wie entsetzlich voll die Stadt ist. Voller Menschen, Touristen. Als Neuankömmling versucht man, seine schwere Reisetasche über die Stufen der Brücke zu ziehen, aber überall blockieren die Selfie-Jäger den Weg. Woohoo ! Handy-Teleskoparm ausfahren, mitten im Weg stehen bleiben, sich fotogen aufstellen und klick. Wenn das alles wäre, ginge es ja noch, aber nein: Das soeben geschossene Foto muss noch an Ort und Stelle auf Facebook hochgeladen werden und über die entsprechende Bildunterschrift muss ebenfalls noch hier und jetzt herumdiskutiert werden. Dafür wird einfach auch mal gerne eine komplette Fußgängerbrücke für alle anderen mittig und zentral blockiert... Mir schwillt schon jetzt der Kamm...
Aber ich befinde mich glücklich auf der Piazzale Roma. Das ist der Verkehrsknotenpunkt von Venedig. Hier sind der Busbahnhof, Taxistände (für Auto-Taxis), etliche Parkhäuser, Ticketschalter für alle Verkehrsmittel, gleich nebenan ist der einzige große Supermarkt-Discounter von Venedig, es sieht industriell, großstädtisch und sehr wenig nach Venedig aus. Aber irgendwo hier muss trotzdem die Casa Sant`Andrea liegen. Tut sie auch, "einfach" an den ganzen Parkhäusern vorbei, zurück Richtung Straßendamm, unscheinbare Treppe runter, dann nach links wenden, checken, ob man das Kreuzfahrtterminal von Venedig ausmachen kann und dann hineinstolpern in das ehemalige Kloster.
Man checkt mich ein, geleitet mich zu einem Fahrstuhl und drückt minutenlang auf den Knopf. In das klaustrophobische Teil steige ich auch ein und muss ebenfalls dauernd den Knopf drücken, damit sich das Ding nach oben bewegt - gefühlt 3 Minuten lang, in Echtzeit auch. Ich erreiche mein sehr spartanisches Zimmer, aber es ist sauber und ruhig, also völlig okay.
Jetzt aber ganz schnell raus und Venedig erkunden ! Was man hier als allererstes braucht, ist ein Ticket für die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel, also der Wasserbusse - oder Vaporetti. Für 2 Tage kostet so ein Ticket stolze 30 EUR. Ich kaufe es in der Tourist Information an der Piazzale Roma. Aber anstatt den nächsten Vaporetto-Anleger aufzusuchen, latsche ich erstmal zufuß los. Auf diese Art und Weise bekommt man nämlich sehr viel mehr Venedig-Flair geboten, als an Bord der Wasserbusse. Es ist einfach, man folge nur einfach immer den Schildern Richtung "San Marco" bzw. "Rialto".
Wer - wie ich - zu den Fans der Kriminalromane von Donna Leon rundum die Hauptfigur Commissario Guido Brunetti gehört - kennt sich per se schon ein wenig aus in Venedig, bzw. weiß zumindest, was einen erwartet. Ich habe mir tatsächlich auch so ein Buch mit einer Karte von Brunetti-Krimi-Schauplätzen vorab gekauft, aber ich bin nicht deswegen hier, sondern einfach, um Venedig zu sehen, zu genießen und garantiert nicht, um hier zu sterben. Es gibt ja diesen Spruch " Venedig sehen und sterben", Zitat von Thomas Mann.
Geht schon gleich gut los, im Hintergrund noch die neue Ponte della Costituzione, mit der ich vor ca. 60 Minuten noch gekämpft habe...
20 m entfernt von den hässlichen Parkhäusern an der Piazzale Roma befindet man sich schon mitten in Venedig und staunt nur noch.
Mein "Freund" Guido Brunetti und sein Gehilfe Vianello kehren in den Büchern von Donna Leon praktisch dauernd irgendwo ein für einen Kaffee, ein Glas Wein, einen Prosecco oder ein Tramezzino. Muss ich jetzt auch, weil hier alles noch so herrlich entspannt aussieht. Außerdem habe ich Durst, muss mich kurz setzen, um mich zu orientieren und dann darf´s ja gerne weitergehen. In dieser kleinen Bar bekomme ich für knapp 3 EUR einen Prosecco, einen Sitzplatz draußen auf der kleinen Piazza und Zeit genug, um meinen Reiseführer/Stadtplan weiter zu studieren.
Die Orientierung fängt an, mir egal zu werden. Jede Ecke von Venedig ist traumschön und praktisch alle Wege führen irgendwann und irgendwie zum Markusplatz.
Ich erspare euch (und mir) jetzt die Beschreibung und Benennung von jedem Gebäude, Palazzo, Kanal, Kirche, Brücke, Piazza, Gasse. Das ist auch gar nicht sooo interessant. In Venedig zählt einfach das Gesamtkunstwerk dieser Lagunenstadt.
Ca. 3000 Gondeln sollen es heute wohl sein, wobei es jedoch nur ca. 400 Lizenzen für Gondolieri gibt. Die Gondeln dienen heute fast ausschließlich touristischen Zwecken mit Ausnahme der Traghetti, die den Pendeldienst an 8 Stellen über den Canale Grande übernehmen. Und für diesen nicht sehr lukrativen Verkehrsdienst muss sich jeder Gondoliere auch hergeben, das ist Pflicht. Eine touristische Gondelfahrt ist teuer, ich habe mir sagen lassen, dass es mindestens 100 EUR kostet (je nach Dauer). Und übrigens singen die Gondolieri nicht ! Ich habe nicht ein einziges Mal einen Gondolieri "O sole mio" oder sonstiges schmettern hören... Alle Gondeln haben schwarz zu sein und sind ca. 11 m lang. Sie sind leicht rechtslastig, um das Gewicht des immer links stehenden Gondoliere auszugleichen.
Piazza San Polo - ich erwähne den Namen der Piazza nur, weil hier in der Gegend Familie Brunetti "lebt".
Ob es wohl schön ist, hier zu leben ? Ich weiß nicht. Jedenfalls ist es entsetzlich teuer, sicherlich oft unbequem und jeden Tag mit den Touristenhorden klar zu kommen, muss den verbliebenen ca. 60.000 Venezianern auch fürchterlich auf den Keks gehen...
Vaporetto - es gelten zum Schutz der Gebäude strenge Geschwindigkeitsbegrenzungen, um den Wellenschlag so niedrig wie möglich zu halten zum Schutz der Gebäude
Die Rialtobrücke war früher die einzige Querung des Canale Grande. Heute ist sie TOP-Fotospot, Souvenirverkaufsarena und meistens brechend voll. So voll, dass manchmal gar nichts mehr geht und man im Gedränge regelrecht feststeckt. Ein Wunder, dass die Brücke noch nicht zusammengebrochen ist...
In den Gassen rundum den Markusplatz befinden sich viele Souvenirläden, aber auch etliche super-edle Boutiquen. Die Crème-de-la-crème der italienischen Designerwelt ist zahlreich vertreten: Gucci, Prada, Armani, Versace, Dolce & Gabbana, Missoni - alles da. Mittendrin im schlimmsten Gewühl finde ich einen winzig kleinen orientalischen Imbiss, der zu sehr moderaten Preisen Kebabs, Falafel und Döner verkauft. Der Laden ist knallvoll, also sind viele Leute auf der Suche nach bezahlbarer Füllung für den hungrigen Magen... Die be-kopftuchte Dame mit ihren Helferinnen hinter der Theke reicht im Sekundentakt die Döner raus zu 5 EUR/Stück: Die hat eine wahre Goldgrube hier !
Hier platzt der Knoten: Nach minutenlangem Geschiebe mit reichlich Stillstand unterwegs wird man durch irgendeinen Durchgang auf den Markusplatz ausgespuckt und kann sich hier erstmals wieder frei bewegen. Man hat das Gefühl, in einer Flasche festgesteckt zu haben, dann ist der Korken geflogen und plopp, bekommt man wieder Luft, kann den blauen Himmel sehen und wieder mit den Armen rudern. Trotzdem ist es sau-voll und hier stehen sie nun zuhauf, die Handy-Teleskoparm-Verkäufer für das beste Selfie, ever. 3 EUR kostet so ein Teleskoparm und weil es so günstig ist, kaufen es sehr viele Leute. Und benutzen es an den unmöglichsten Stellen...
Da muss ich rein ! Das ist Pflichtprogramm. Duomo in Mailand verpasst, deswegen ist San Marco um so mehr zwingend ! Aber die Warteschlange...einfach endlos. Von vorne sieht es ja gar nicht so schlimm aus, aber die Warteschlange wickelt sich seitlich um die Basilika weiter und man sieht das Ende überhaupt gar nicht.
Seit dem dunkelsten Mittelalter wurden Tauben in Venedig verehrt, weil irgendeine Brieftaube den Sieg eines Herrschers in Venedig verkündet hatte, wie auch immer. Seitdem vermehrte sich die Tauben-Population in Venedig völlig unkontrolliert und bis 2008 wurden sogar Lizenzen der Stadtverwaltung für den Verkauf von Taubenfutter vergeben. Die Vögel verlieren jedoch stark kalk-haltigen Kot und dieses Material greift die Substanz der Gebäude an, von der Verschmutzung insbesondere des Markusplatzes muss ich gar nicht reden. 2008 wurde die Fütterung der Tauben also strikt verboten. Bis dahin gab es auf dem Markusplatz wohl täglich bis zu 100.000 Tauben ! 100.000 ! Meine Großmutter hat es noch erlebt und erzählte, dass Venedig sooo schmutzig sei. Wahrscheinlich wegen des ganzen Tauben-Schiets.
Es gibt heute immer noch mehr als genug davon.
Ich sehe mir auch die anderen Warteschlangen an: Vor dem Palazzo Ducale, dem Dogenpalast und dem Campanile, alle endlos und auf diesen Stress habe ich heute keinen Bock. Ich bin im Besitz eines e-tickets, das mir ohne Termin-oder Zeitvorgabe den Zutritt garantiert, ich muss bloß zu einer Uhrzeit in den Startlöchern stehen, zu der noch keine Horden von Kreuzfahrttouristen über die Stadt hergefallen sind und die anderen Touris noch beim Frühstück in ihren jeweiligen Hotels am Cappuccino-Schlürfen sind. Also: Früh aufstehen morgen ! Ich kehre heute Abend per Vaporetto zurück zur Stazione Santa Lucia und brauche trotz des Döners noch eine Kleinigkeit zu essen. In Italien, speziell in Venedig, gibt es ja diese völlig unverschämte Unsitte, einen megateuren Aufschlag auf den Speisekartenpreis zu verlangen für "pane è coperto", also Brot und Gedeck. Ich suche ein kleines Restaurant gegenüber dem Bahnhof auf und hoffe, dass hier nicht abgezockt wird. Wird auch nicht, ich verzehre einen Salat und trinke eine Coke Zero, zahle dafür stolze 15 EUR, denke aber, dass der Preis für Venedig noch echt moderat ist.
Mein Hotel Casa Sant´Andrea (das weiße Gebäude) am späteren Abend. Ich muss natürlich wieder 1000-mal raus zum Rauchen...
Ich gehe zu Bett. Nicht ohne vorher noch die Lage zuhause gecheckt zu haben per Telefonat mit meiner Mom. Gute Nacht, Venedig !
Aufbruch: | 03.04.2015 |
Dauer: | 17 Tage |
Heimkehr: | 19.04.2015 |
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