Auf dem Jakobsweg - von Pamplona nach Santiago de Compostela
Vorbereitungen. Hamburg - Bilbao. Start in Pamplon: Sarria - Portomarin
5. Juni 2014 Von Sarria nach Portomarin
Heute lasse auch ich meinen Rucksack befördern. Die Transportfirma, die diese Gegend abfährt, nimmt nur 4 €. Alle Bars in der Nachbarschaft haben schon frühmorgens geöffnet und bieten Frühstück an. Einer der Barbesitzer hat auf zwei Stühlen am Eingang sein gesamtes Angebot zur Ansicht aufgebaut. Auch heute ist es wieder sehr kalt, vielleicht nur 5 Grad. An der Kirche und am Friedhof vorbei geht es bergan über eine schöne alte Brücke und einen Bach mit klarem Wasser, durch einen Wald mit riesigen Maronenbäumen, einige Stämme sind knorrig, sehen aus wie Kunstwerke. Immer wieder muss ich stehenbleiben und schauen. Mir fällt auf, dass viele Pilger an mir vorbeihasten und den einzigartigen Bäumen keine Beachtung schenken.
Neben dem Weg fließt ein trübes, stinkendes Rinnsal, das wohl bald den Bach erreichen wird. Ich nehme grundsätzlich kein Wasser aus den öffentlichen Wasserhähnen am Wegesrand, bin vielleicht übervorsichtig. Im Reiseführer wird vor den öffentlichen Wasserzapfstellen an einem bestimmten Streckenabschnitt gewarnt. Inzwischen weisen Schilder an vielen Wasserhähnen daraufhin, dass für die Qualität des Wassers keine Verantwortung übernommen werden kann.
Ich überhole einen älteren Japaner, der mit seinem schweren Rucksack hin- und herschwankt. Trotz der Kälte läuft er schon mit nackten Armen und in steif aussehenden Lederstraßenschuhen herum. Wieder einmal ist die Autobahn zu sehen, die hoch über mir auf mächtigen Pfeilern über das Tal führt. Ich überquere die Bahnschienen und erreiche Barbadelos. Hier wurde eine moderne Pilgerherberge mit Schwimmbad gebaut. Der Rentner aus Höxter überholt mich. Mit war gar nicht klar, dass in dieser Gegend ein so krasser Dialekt gesprochen wird. Die Frühstücksbar ist gut besucht und dementsprechend teuer, zwei Bananen kosten 1,80 €. Ein Paar hat sich Kuchen geholt, schon auf den Tisch gestellt und ist noch einmal weggegangen. Daraufhin setzt ein Spatz sich auf den Teller und fängt schon an zu essen. Die Plastikstühle im Garten sind nass und kalt, aber in meinem kleinen Tagesrucksack habe ich ein Stück Blasenfolie, die praktisch zum Unterlegen ist. Auf der Wiese gegenüber schwebt ein Storch ein. Seit Tagen mal wieder ein Getreidefeld, der rote Klatschmohn ist verschwunden, jetzt dominieren gelbe Margeriten.
Unterwegs kommt mir ein Rudel von fünf Schäferhunden entgegen, aber sie beachten mich nicht. Der letzte humpelt. Nicht nur die Wanderer trifft es, auch die Tiere haben ihre Probleme mit den Gehwerkzeugen. Im Wald fallen mir immer wieder Stellen auf, die als Toilette genutzt werden. Es ist völlig normal, dass jeder Wanderer mal seine Hose hinter einem Busch runterlassen muss. Aber niemand muss seine gebrauchten Taschentücher oder Klopapier an Ort und Stelle fallen lassen. Mich ärgert diese Rücksichtslosigkeit der Frauen, die für den letzten Tropfen Papier benutzen und es in die Gegend werfen. Man kann eine Mülltüte dabei haben oder das Papier tief zwischen Büschen verschwinden lassen oder mit Erde zudecken. Für das große Geschäft kann man mit einem Stock ein Loch graben und alles verschwinden lassen. Übrigens hatte ich nicht damit gerechnet, dass es in den sanitären Anlagen der Herbergen Toilettenpapier gibt. So hatte ich eine ganze Rolle umsonst mitgenommen. Auch außerhalb des Waldes findet man viele weggeworfene Taschentücher, die zwischen den Büschen hängen, Schokoladenfolie, Müsliverpackungen, Getränkedosen. Wieso wandern diese Leute eigentlich durch die Natur?
Als ich nach dem Frühstück um 9 Uhr wieder starte, sind bereits Massen von Pilgern unterwegs. Die Zeit der ruhigen Wege ist vorbei, es ist wie beim Volkswandertag. Auf den Hinweisschildern häufen sich die Schmierereien, so mancher sogenannte Witzbold will sich verewigen. An der Mauer eines privaten Hauses bedankt sich einer in riesigen Buchstaben dafür, dass er den camino gehen durfte. Dieser Schmierfink hätte besser zuhause bleiben sollen.
Der alte humpelnde Spanier mit den schwarzen Leggins überholt mich wieder einmal freundlich grüßend. Unglaublich, wie schnell er mit diesen kleinen Schritten sein kann. Bisher grüßte beim Überholen jeder jeden freundlich, aber inzwischen sind solche Massen unterwegs, dass das Grüßen einfach zu viel wird. Ich setze mich an den Wegesrand, beobachte die Völkerwanderung und schreibe in mein Tagebuch. Sobald ich aufsehe, grüßen mich die meisten. Um zehn Uhr ist es inzwischen warm geworden. Eine junge Koreanerin hat ihre Kamera auf einen Teleskopstock montiert und filmt sich selbst beim Wandern.
Immer wieder rasen schrill gekleidete Radfahrer im Affenzahn vorbei. Alle machen sie Werbung für irgendwelche Firmen. Manche haben eine Filmkamera auf ihrem Helm. Die Radfahrer sind bei den Wanderern nicht sehr beliebt. Meistens sind es junge Männer , die sich laut schreiend unterhalten und manchmal rücksichtslos sind. Am nächsten Brunnen treffe ich Iga, die von den Massen völlig genervt ist und sich Musik in die Ohren gesteckt hat, um den lauten Unterhaltungen der Spanier zu entgehen. Ein Wanderer mit Hund kommt mir entgegen. Es ist der dritte in drei Wochen, der in die entgegengesetzte Richtung läuft. Dieter, der seinen schwäbischen Freunden nachgereist und ihnen eine Tagesetappe entgegen gewandert ist, erzählt, dass ihn noch nie so viele Leute angesprochen haben. Alle wollen ihn auf den vermeintlich falschen Weg aufmerksam machen oder ihn fragen, warum er in diese Richtung läuft.
Eine lärmende Schulklasse überholt mich, vielleicht machen sie einen Ausflug. Auf einer Lichtung steht ein Bus und spuckt Luxuspilger aus. Ein älterer Amerikaner erklärt seiner Frau die schwarzweißen Kühe, an denen wir gerade vorbeikommen. Sie hat keinen Blick für die Natur, jappst fürchterlich, bis ihr Mann ihr sagt, dass sie lieber zum Bus zurückgehen sollte. Auf einer Wiese liegt ein Esel in der Sonne, jeder fotografiert ihn. Vor einem Haus hat eine Einheimische einen Tisch aufgebaut und verkauft Kaffee und Obst. Daneben sitzt eine nörgelnde Deutsche, raucht und sagt genervt zu ihrem Begleiter: "Das guck ich mir nicht mehr lange an". Ob sie die pilgernden Massen meint? Im nächsten Dorf sitzt eine alte Frau vor ihrem Haus, verkauft Wanderstöcke und bietet ihren Stempel an. Entweder machen die Einheimischen hier ihre Geschäfte mit den Pilgern oder sie sind völlig genervt von den vorbeiziehenden Horden. Als ich früher auf Sylt wohnte, war ich auch der vielen Touristen überdrüssig.
Seit gestern habe ich Schmerzen in der linken Wade. Nach einer Rast fühlt es sich an, als hätte ich einen harten Klumpen im Bein. Aber nach einer Weile lässt der Schmerz nach. Meinen Muskeln zuliebe nehme ich jeden Tag eine Brausetablette mit Magnesium und Kalium.
Hinter einer Wegbiegung steht eine schwarzhaarige Frau mit einem Zettel in der Hand. Sie hält mir eine Liste hin, deutet mir dem Finger darauf. In Spanisch und Englisch bittet sie um eine Spende für Taubstumme. Unter dem Text stehen Namen und Unterschriften mit dem gespendeten Betrag. Es sind tatsächlich Spenden zwischen 10 und 30 € dabei. Vielleicht gehört sie zu den Zigeunern, die ich in den Städten bereits in Scharen gesehen habe. Ich bin überzeugt davon, dass sie heute Abend bei ihrer Familie wieder sprechen kann und gebe ihr keinen Cent.
Inzwischen ist es wunderbar warm und ich kann in der Sonne Rast machen. Eine Eidechse kommt und bleibt eine Weile auf meiner warmen Daunenjacke sitzen, bis eine lärmende Radfahrergruppe vorbeirast. Mich spricht ein älterer Herr an und fragt, ob ich schon einmal am Weg gesessen und geschrieben hätte. Eine Weile unterhalten wir uns auf Englisch. Als ich ihn frage, woher er kommt, sagt er Alemañia. Wir müssen lachen und sprechen auf Deutsch weiter. Er heißt John, ist 78 Jahre alt und wandert ab León. Nach einem Schwächeanfall wollte er die Wanderung abbrechen, hat aber erst mal nur eine Pause eingelegt. Nachdem er 16 Stunden geschlafen hatte, hatte er vergessen aufzuhören. Nun wandert er jeden Tag ab 9 Uhr seine 10 km und es geht ihm gut.
In schöner Landschaft verläuft der Weg immer wieder einmal auf geteerten Abschnitten. Das Klackklack der Stöcke ist störend, kaum jemand macht die Gummis über die Spitzen, wenn sich der Untergrund ändert. Dafür laufen etliche mit den Gummis auch über Waldboden. Ich wechsele sie je nach Bedarf und stecke die schmutzigen Gummis immer in dieselbe Hosentasche. Viele Pilger benutzen ausziehbare Wanderstöcke, die haben den Nachteil, dass sie keine so komfortablen Griffe haben und die Federn darin beim Aufsetzen klirren können. Ich bin mit meinen Leki-Stöcken sehr zufrieden, zum Fotografieren kann ich die Handschlaufen mit einem Knopfdruck lösen und anschließend wieder einstecken.
An der nächsten Ecke sitzen etliche Wanderer unter riesigen Eichen. John spricht mich an, ob ich gesehen hätte, dass er vorhin seine Brille getragen habe. Er hat sie wohl beim Kaffeetrinken bei der Spanierin vergessen, nun muss er die zwei bis drei Kilometer zurücklaufen. Auf einer Weide ist ein Bauer damit beschäftigt, Heuballen in eine weiße Folie einzuwickeln. Fasziniert schaue ich ihm im Vorbeigehen zu und verpasse dadurch prompt die Abzweigung. Dann aber finde ich den Weg wieder und entdecke fünf Schaf auf einer Wiese, die zu mir an den Zaun kommen. Mit fällt auf, dass das fünfte Schaf humpelt. Von mir bekommen sie ein paar Stücke Brot. Auf einer Waldwiese grast eine Herde von Schafen und Ziegen, die vom einem Schäfer bewacht werden. Quakende Frösche machen mich auf einen Bach aufmerksam, der wunderbar klar aussieht. Die Frösche entdecke ich nicht, aber ein Geruch von Insektiziden steigt mir in die Nase.
Im nächsten Dorf bleibe ich vor einer Mauer stehen, auf der Geranien in aufgeschnittenen blauen Plastikkanistern wachsen. Eine alte Bäuerin kommt ans Tor, ihr zotteliger Schäferhund kuschelt sich an meine Beine. "Que bonita", sage ich zu der Frau und sie erzählt, dass die Geranien dieses Jahr nicht gut wachsen, im letzten Jahr seien sie die halbe Mauer heruntergerankt.
Dann erreiche ich den Hundert-Kilometerstein - noch 100 km bis Santiago de Compostela. Der Stein ist mit Inschriften beschmiert, alte Gummistiefel und Schuhe stehen daneben, kleine Steine und Blumen liegen darauf. Jeder Pilger bleibt für ein Foto stehen. Im Wald stehen mehrere große Holzkreuze am Wegesrand. Daneben haben Pilger Steine mit Aufschriften und alles Mögliche, was sie nicht mehr brauchten, dekoriert. Am einem Kreuz hängt ein Foto des Papstes. Unglaublich, was es hier alles gibt: Slips, Socken, einen Schlafsack. Ein Paar, das ich vor zwei Wochen kennengelernt habe, kommt vorbei. Ich erkenne die Frau an ihrer ungewöhnlichen Zahnlücke wieder. Ich frage die beiden, was diese Ansammlung wohl bedeuten soll. Der junge Mann meint, das sei wohl Papstverehrung, sie sagt nur verächtlich, das ist ein Müllhaufen.
In den Weilern vor Portomarin komme ich an etlichen Herbergen vorbei. In einem Dorf namens Rente sind vor einer Herberge Tisch und Stühle aufgebaut. Auf dem Tisch sind Getränke, Obst, Kuchen, alles zur Selbstbedienung, mit einer Kassette für die Bezahlung. Am Tor mahnt ein Schild: Hier kein öffentliches Klo. Der camino führt über ein Privatgrundstück mit Wohnhaus und Garage. Ein offener Anbau mit Tisch und Bänken lädt die Pilger zum Verweilen eingeladen ein, aber mit der Bitte, keinen Müll zurückzulassen. An einem Scheunentor hat ein Schmierfink eine riesige Botschaft hinterlassen: "Linda, I am waiting for you in Portomarin." Einige Wanderer scheinen tatsächlich eine Spraydose und Filzstifte dabeizuhaben.
Für die 23 km nach Portomarin habe ich mir sehr viel Zeit gelassen und kurz vor dem Ziel treffe ich Heide wieder und wir wandern zusammen über die Brücke des Stausees. Der früher im Tal gelegene Ort musste dem See weichen und wurde weiter oben am Hang wieder neu aufgebaut. Auch die Kirche wurde abgetragen und im neuen Ort wieder aufgebaut. In der privaten Herberge haben wir zwei Betten reserviert, und weil wir als letzte kommen, müssen wir die Betten direkt an der Tür nehmen. Hier treffe ich den deutschen Wichtigtuer wieder, der mich am km-Stein 100 fotografiert und den ich mit seinem Ipad abgelichtet hatte. In der Herberge hat er ein halbes Doppelzimmer belegt und versucht, der Herbergsmutter mit seinen spärlichen Spanischkenntnissen ein Gespräch aufzuzwingen. Im Garten treffe ich Richard aus Alaska wieder. In der Zwischenzeit hatte er den Jakobsweg verlassen und war wegen eines geschäftlichen Treffens nach Barcelona geflogen. Dort hat er in einem teuren Hotel übernachtet, ist danach Santiago zurückgeflogen und dann mit dem Bus zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt. Ich berichte ihm von meinen Wadenschmerzen, und er klebt mir einen breiten roten Klebestreifen senkrecht auf die Wade. Tatsächlich hören am nächsten Tag die Schmerzen auf.
In der Küche steht ein Getränkeautomat. Hier treffe ich Frank aus Deutschland, den ich auf Deutsch anspreche. Er sieht mich verblüfft an und fragt, wie ich seine Nationalität erraten habe. Er trägt ein T-shirt mit Werbung für Jever, das ihn verrät. Seiner Freundin zuliebe macht er diese Wanderung. Sie sind in St. Jean gestartet, beide untrainiert, aber trotzdem ohne Probleme. Aus Kostengründen gönnen sie sich abwechselnd gutes Essen und Schlafen. Heute ist ein Doppelzimmer angesagt, deshalb sitzt er jetzt mit trocken Brot und einer Dose Sardinen in der Küche.
Abends können Heide und ich noch auf der Terrasse eines Restaurants in der Sonne sitzen und ein ausgezeichnetes Pilgermenü für 8,50 € genießen. Dann geht es früh ins Bett mit guten festen Schaumstoffmatratzen. Ich habe eine kleine Reling an meinem Hochbett. Über der quietschenden Tür neben uns brennt die Notbeleuchtung. Nachts bekommt meine deutsche Bettnachbarin einen nicht endenden Hustenanfall. Ich werfe ihr ein Hustenbonbon zu, das sie dankbar annimmt. Sie sollte lieber das Rauchen einstellen, auf ihrem Bett hatte ich vorher zwei Schachteln Zigaretten liegen sehen.
Aufbruch: | 13.05.2014 |
Dauer: | 5 Wochen |
Heimkehr: | 14.06.2014 |