Auf dem Jakobsweg - von Pamplona nach Santiago de Compostela
Vorbereitungen. Hamburg - Bilbao. Start in Pamplon: Villafranca - Ruitelan
1. Juni 2014 von Villafranca nach Ruitelan
Um 6 Uhr klingelt der Wecker und es ist noch so lausig kalt, dass ich kaum aus dem Schlafsack kriechen mag. Als wir gestern Abend in den Schlafraum kamen, hatten die Italiener die Heizung angestellt. Heide braucht jedoch frische Luft zum Schlafen, hat die Heizung wieder ausgestellt und außerdem noch das Fenster aufgemacht. Mit den frierenden Italienern hatte sie kein Mitleid.
Weil ich einen beschwerlichen Weg vor mir habe, lasse ich heute meinen Rucksack transportieren. Heide wird sich von Jesus bis zur Hälfte unserer heutigen Strecke fahren lassen, um ihr Bein zu schonen. Ich wandere durch die noch schlafende Stadt und über die Brücke aus der Stadt hinaus. Hier gabelt sich der camino. Der einfachere Weg führt durch das Tal neben der Straße entlang, der schwierigere aber schönere hat einen Höhenunterschied von 400 m. Hier, an der Gabelung, treffe ich Friedrich und Walter, die schon versehentlich die Abzweigung passiert haben, weil ein großes "No" quer auf dem Pflaster des Alternativweges steht. Zusammen mit den beiden Schwaben beginne ich den Aufstieg. Die Männer sind mit Schwestern verheiratet und froh, dass ihre Frauen nicht dabei sind, weil sie mit dieser Art von Urlaub nicht einverstanden wären. Das erste Stück ist sehr steil, aber mit einem rauen Zementuntergrund versehen. Danach wird der Aufstieg sachter und wir kommen durch eine Heide- und Pinienlandschaft. Gelbe Zistrosen, magentafarbene Erika und viele Blumen am Weg, schöner Blick auf die gegenüberliegende Hangseite. Überall Zeichen von Wiederaufforstung. Die beiden Schwaben haben für den gesamten Weg ab St. Jean sechs Wochen Zeit und gehen langsam, haben leichte Rucksäcke und den Weg bisher ohne Probleme gemeistert, obwohl sie auch schon um die 60 sind. Friedrich erzählt von einer Begegnung mit einer Mutter, die ihre elfjährige schwerbehinderte Tochter in einer Karre hinter ihrem Fahrrad herzog. Eine fröhliche Mutter, die ihre Tochter nicht als Schicksal ansieht, sondern alles mit ihr zusammen unternimmt. Die beiden Männer sprechen breites Schwäbisch und erinnern mich an "Seitenbacher Müsli". Tatsächlich kommen sie aus dieser Gegend!
Auf dem Kamm mache ich Rast und genieße die wunderschöne Landschaft. Ein älterer deutscher Pilger gesellt sich zu mir und ich spreche ihn auf seinen schweren Rucksack an. Über 12 kg schleppt er, dabei hat er schon 2 kg wieder nach Hause geschickt. Mein Telefon vibriert: Das Transportunternehmen ruft an, will wissen, wo mein Rucksack abgeholt werden soll. Die Adresse haben sie bei meinem Anruf heute früh wohl verschlampt. Als mein Mitpilger den Namen der letzten Herberge hört, fängt er an zu schimpfen. Er habe dort auch übernachtet, aber das sei eine Zumutung gewesen, katastrophal. Die sanitären Anlagen seien schrecklich, die kommunale Herberge in der Nähe sei viel besser gewesen. Ich frage ihn, was er eigentlich für Übernachtungskosten von 5 € erwartet und warum er nicht in die andere Herberge gegangen ist? Da ist er wohl zu geizig gewesen, noch die Herberge zu wechseln, nachdem er die 5 € schon gezahlt hatte und sich wohl nicht getraut hatte, das Geld zurückzuverlangen. Er meckert weiter herum, hat keinen Blick für die schöne Landschaft, bis ich ihm deutlich sage, dass ich das nicht hören will. Beleidigt nimmt er seinen Rucksack und zieht davon.
Der Weg verläuft jetzt durch einen Esskastanienwald, der mich an Korsika erinnert. Obwohl Wildschweine Maronen doch sehr gern fressen, habe ich ihre Spuren bisher nicht gesehen. Neben einer Teerstraße geht es dann wieder steil hinab ins Tal. Auf dieser schönen Alternativstrecke sind nur wenige Pilger unterwegs, die meisten wählen den bequemeren Weg durchs Tal. Hier treffe ich einen englischen Kanadier von dem ich lerne, dass der Fingerhut, der hier massenhaft wächst, auf Englisch "foxgloves" heißen. Im Tal sehe ich in einem Gartenlokal die beiden Schwaben Friedrich und Walter wieder, die hier zufällig Otto wiedergefunden haben, mit dem zusammen sie schon seit Tagen wandern. Otto hat schon einen Herzinfarkt hinter sich, hat etliche Wehwehchen und ist mit einem 16- kg-Rucksack gestartet. Sein Zelt und einige andere Dinge hat er schon verschenkt, noch immer schleppt er 12 kg. Mit seinen Bartstoppeln sieht er aus wie ein Wegelagerer, ist aber fröhlich und lacht über alles. Auch die beiden Schwaben haben sich auf dem camino noch nicht rasiert. Bei jeder Rast ziehen sie Schuhe und Strümpfe aus, gönnen den Füßen Luft und Sonne. Bei Trabadelo geht es 9 km auf der Landstraße weiter. Zweimal unterqueren wir die Autobahn, dann wandern wir durch mehrere kleine Dörfer am Fluss entlang. Inzwischen ist es sehr heiß geworden und meine Füße schwitzen in den hohen Wanderschuhen. Heute bin ich von 7.30 Uhr bis 15 Uhr auf den Beinen, habe nur 90 Minuten Pause gemacht und 6 Stunden für 20 km gebraucht. Am Morgen bin ich mit kalten Händen bei 6 Grad gestartet und schwitze jetzt bei 26 Grad.
Friedrich erzählte, dass er sich beim Wandern und Übernachten in Herbergen einmal Filzläuse eingefangen hatte. Ich will wissen, ob es gejuckt habe und wie er es gemerkt hat. An kleinen blutigen Punkten in der weißen Unterhose. Ich muss lachen und sage, dass ich beim Wandern keine weißen Slips tragen würde.
Die Herberge in Ruitelan heißt "Pequeño Potala" und hat ein leicht tibetischen Touch. In dem kleinen Garten hinter dem Haus können wir entspannen und Wäsche aufhängen. Der Hospitalero ist sehr freundlich und bietet Shiatsu-Massagen an. Heide und ich teilen ein Vierbettzimmer mit einem Australier und seiner asiatischen Freundin. Heide ist vor mir angekommen, denn Jesus aus der letzten Herberge hat sie die Hälfte der Strecke gefahren. Vom Fenster aus sehe ich Friedrich, Walter und Otto in der gegenüberliegenden Bar Halt machen, sie wollen noch eine Stunde bis zu einer schwäbischen Herberge weiterlaufen. Wenn sie ein Gedicht oder Lied auf schwäbisch vortragen können, brauchen sie dort nichts zu bezahlen. Natürlich können sie eines und tragen es mir schon mal probeweise vor.
Im Garten sitze ich mit einer Ungarin zusammen, die sehr gut Englisch spricht und mir von einem Paar aus Südafrika erzählt, das sie auf dem camino getroffen habe. Diese bedauernswerten Pilger erhielten unterwegs die Nachricht, dass ihr Haus und Restaurant völlig abgebrannt war. Die Rakete eines Feuerwerks hatte das Haus getroffen. Sie beschlossen, ihre Wanderung nicht abzubrechen, und wie geplant, bis Santiago zu laufen. Abends sitzen 15 Pilger am liebevoll gedeckten Tisch. Es gibt Möhrensuppe, Salat mit Thunfisch, Spaghetti mit Schinken, Pudding, Brot, Wasser und Rotwein. Dieses Gericht scheint es hier jeden Abend zu geben, denn jeder, der uns später begeistert von dieser Herberge erzählen wird, zählt dieses Essen auf. Warum sollten sich die Herbergsleute auch um Abwechslung kümmern, wenn jeden Abend neue Gäste da sind. Als wir gegen 21 Uhr ins Bett gehen, scheint noch die Sonne.
2. Juni 2014 Von Ruitelan nach O`Cebreiro
Die Nacht war furchtbar, Heide und ich schlafen sehr schlecht. Die Sprungfedern unter den Matratzen quietschen, die Schlafsäcke rascheln, der Australier schnarcht unerträglich, auch seine Freundin im Bett über ihm holt sich Ohropax aus dem Gepäck. Gegen 5 Uhr klingelt der Wecker der Chinesin, den sie aus Versehen nicht ausgestellt hatte. Dabei hatte der Herbergsvater schon gestern Abend angekündigt, dass um 6 Uhr mit Musik geweckt wird und bis dahin Ruhe sein sollte. Ich schlummere noch mal ein, werde dann aber von einem lauten "Ave Maria"-Gesang geweckt. Das Frühstück steht schon auf dem Tisch, die laute tibetische Musik tut in den Ohren weh.
Gegen 7 Uhr wandere ich bei kühlem Regenwetter los. Ich bin schon eine Weile bergan gestiegen, als ich unten im Tal Heide laufen sehe. Also habe ich nicht aufgepasst, gehe zurück und folge der schmalen Straße neben dem Bach bis zum nächsten Ort, wo eine Abzweigung zur Herberge der Schwaben führt. Ich bleibe auf der steil ansteigenden Straße und wundere ich mich bald, dass mich keine anderen Pilger überholen. Vielleicht war ich die langsamste aus dem letzten Dorf und alle anderen sind schon vor mir. Inzwischen scheint die Sonne, und ich habe einen traumhaften Blick über das Tal und in die weite Landschaft. Aber ich laufe jetzt schon zwei Stunden allein, ohne einen Menschen zu treffen. Ich schaue in den Wanderführer, die Richtung stimmt. Manchmal sind mir die anderen Wanderer lästig, besonders im Bad, aber wenn man mal einen braucht, ist keiner da.
Ich erinnere mich an die Geschichte von Friedrich, die er gestern erzählte. Er wanderte irgendwo und dachte, wie schön es wäre, einen Hund dabeizuhaben. Ein paar Minuten später kommt tatsächlich einer und schließt sich ihm an. So laufen sie eine Weile zusammen, bis er darüber nachdenkt, wie er das Tier wieder loswird. So ist das nun einmal mit den Wünschen. Man sollte sie sich gut überlegen. Schließlich erreiche ich das nächste Dorf oben auf dem Kamm. Hier kommt auch der Weg an, den ich verpasst habe. Vor einer Bar sehe ich schon meine Bettnachbarn sitzen. Sie berichten, dass Heide noch auf dem Weg nach oben sei. Dabei bin ich erst eine Weile nach ihr losgegangen. Mein Weg war also der schnellere.
Mit der Kaffeetasse in der Hand setze ich mich neben einen freundlich blickenden Mann. Er ist groß und kräftig, hat nackte Arme und einen blank geschorenen Kopf. Er erinnert mich daran, vor ein paar Tagen neben ihm im Bus gesessen haben. Es ist Guillermo aus Honduras. Und dann tauchen auch die Schwaben und Otto auf. Ich bin erfreut, sie wiederzusehen, denn sie sind lustige Burschen. Mit der kostenlosen Übernachtung hatte es nicht geklappt, weil sie den Autor ihres Gedichts nicht kannten. Sie erzählen auch von einem Schnarchkonzert in der letzten Nacht, das sie kaum hat schlafen lassen. Walter zeigt auf Guillermo, der der lauteste gewesen sein soll. Großzügig verteilt Otto eine Runde Ohropax.
Jetzt beginnt ein traumhaft schöner, aber steiniger und teilweise ausgewaschener Weg. Vor einem Bauernhaus steht ein mächtiger Bulle, der allgemeine Bewunderung weckt und von jedem fotografiert wird. Guillermo erzählt unermüdlich. Er stammt von christlichen Palästinensern ab, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Honduras ausgewandert sind. Ein paar Jahre hat er als Arzt und Apotheker gearbeitet, jetzt ist er Maler und in seiner Heimat ein bekannter Künstler, hat auch schon auf der Biennale und der Documenta ausgestellt. Geschieden ist er und hat vier Kinder.
In Villafranca hatte Guillermo ein besonderes Erlebnis: beim Flamenco-Festival traf er einen Texaner, der perfekt wie ein Cowboy gekleidet war. Er war im Job erfolglos gewesen und wollte es daher bei der Fremdenlegion versuchen. Aber schon nach kurzer Zeit hatte er den Eindruck, es nur mit Mördern und Verbrechern zu tun zu haben und quittierte den Dienst. Mittellos stand er nun auf der Straße und entschloss sich, den Jakobsweg zu wandern. Wie er hier nun ohne Geld klarkommen konnte, ist mir rätselhaft.
Mittags erreichen wir das Museumsdorf O Cebreiro, das schon seit dem 9. Jahrhundert Pilger beherbergt. Hier beginnt jetzt die Provinz Galicien, deren Regierung den Preis für eine Übernachtung in den kommunalen Pilgerherbergen auf 6 € festgelegt hat. Schon am Dorfeingang steht ein riesiger Bus von Roteltours, in dem die Reisenden in Schubladen schlafen. Aus einem anderen Bus purzeln Rentner, die sich auf die nächsten Andenkenläden stürzen. Um 13 Uhr öffnet die kommunale Herberge, es stehen schon Massen von Pilgern davor. Bei der Anmeldung fragen wir nach unseren Rucksäcken, die wir haben transportieren lassen, bekommen aber keine verständliche Antwort. Es wird immer erst ein Schlafsaal gefüllt, bevor der nächste geöffnet wird. Vor einem Bett hat ein älterer Wanderer seine fellgefütterten Hausschuhe stehen. Es gibt eine neue riesige Küche mit knallroten Schrankfronten, aber die vielen Schränke sind bis auf zwei alte Töpfe und einen Teller leer. Ein unglaublich dickes "Michelin-Mädchen" in einem Pullover, dessen Knallrot dem der Küche ähnelt, kocht sich einen Topf Mehlpampe mit vielen Eiern. Sie kommt aus Venezuela und bereitet sich hier ein Nationalgericht.
Zum ersten Mal erleben wir einen unfreundlichen Empfang in einer Herberge, die ganze Atmosphäre hier ist ungemütlich. Wir suchen unsere Rucksäcke und finden sie schließlich in der Abstellkammer eines Hotels. Hätten wir das eher gewusst, wären wir in diesem Dorf nicht geblieben, sondern weiter bis zum nächsten Ort gelaufen. Guillermo ist inzwischen die Schinderei leid und hat sich ein Taxi rufen lassen. Er ist schon länger als zwei Monate in Europa unterwegs und Geld spielt für ihn keine Rolle.
Ich inspiziere die wenigen Häuser und die Kirche, in der ein Pater sitzt, der die Pilgerausweise stempelt. In einem Regal in der Kirche liegen Bibeln in vielen Sprachen, sogar in Koreanisch und Chinesisch. Es gibt drei Beichtstühle, einer davon in Sparversion, nur ein Gestell mit einem Stuhl für den Priester. Eine berühmte Reliquie wird gerade von einem spanischen Fernsehteam gefilmt. In den Andenkenläden gibt es Wanderzubehör und Jakobsmuscheln en masse zu kaufen. Ich frage mich, ob die Muscheln alle noch echt sind oder aus chinesischer Produktion stammen. Es ist Tradition, dass jeder Pilger eine Jakobsmuschel am Rucksack trägt, ich habe eine kleine selbstgefundene von zu Hause mitgebracht. Im Dorf treffe ich Pilger mit ihrem Hund, an dessen Halstuch auch eine Muschel befestigt ist. Nachmittags leert sich der Ort so rasant wie Helgoland nach Abfahrt der Bäderschiffe. Abends probieren Heide und ich die vielgepriesene Spezialität des Jakobswegs: Gekochte Kraken in schwarzer Tinte. Recht lecker, aber eine kleine Portion reicht.
Aufbruch: | 13.05.2014 |
Dauer: | 5 Wochen |
Heimkehr: | 14.06.2014 |