Auf dem Jakobsweg - von Pamplona nach Santiago de Compostela
Vorbereitungen. Hamburg - Bilbao. Start in Pamplon: Casanova - Boente
8. Juni 2014 Von Casanova nach Boente - 14 km
Die Nacht ist sehr unruhig, der Amerikaner über mir schnarcht und der Australier neben mir schnarcht und furzt. Als er nachmittags ankam, nahm er immer wieder einen Schluck Sambuca aus einer kleinen Flasche, jetzt schläft er den Schlaf des Gerechten. Am Morgen riechen meine Sachen noch immer nach dem alten Fett aus dem Restaurant. Nach einer halben Stunde Wanderung komme ich zu einem Zelt neben einer Bar, wo wir frühstücken können.
Weiter geht es vorbei an einem frisch gepflügten Feld, dunkle braunschwarze Erde ohne Steine. Hier soll wohl noch Mais wachsen. In den Gärten eines Dorfes bewundere ich riesige Hortensienbüsche, die in voller Blüte stehen. An einem Waldweg warnt ein Zettel vor der Rutschgefahr. Ein Pilger hat seine Verletzungen, mit Datum und Uhrzeit, aufgeschrieben und in einer Klarsichtfolie an einen Baum gepinnt. Inzwischen ist aber der Weg mit Schotter versehen worden und die Rutschgefahr gebannt. Ein Stück weiter ein Papier am Baum, das auf die zehnte Pilgertour eines beinamputierten Radfahrers hinweist. Ein Foto zeigt ihn, wie er auf der Prothese steht und das gesunde Bein und das Fahrrad in die Höhe hält. Welche Leistung! Eine Gruppe Spanier und ein italienisches Paar mit einem Kleinkind überholen mich. Die Spanier haben ein dudelndes Kofferradio in einer Plastiktüte dabei.
In Melide findet gerade ein Straßenradrennen statt. Der Ort ist festlich geschmückt, viele Stände sind aufgebaut und auf einer Veranstaltungsbühne plärrt Musik in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Auf einem kleinen Markt kann ich den Erdbeeren nicht widerstehen und binde mir die Tüte an den Rucksack. Im Schaufenster eines Schlachterladens fällt mir ein mit Sonnenbrille und Zigarre dekorierter Schweinekopf auf.
Hinter der Stadt lerne ich Rainer kennen, der schon seine siebte Pilgertour macht. Er sagt, er sei schon in Lourdes gestartet und die vielen Kranken und Behinderten dort hätten ihn sehr beeindruckt. Ich frage ihn: Und gibt es dort Wunder? Aber ja, sagt er, es gibt eine Ärztegruppe, die gemeinsam mit der katholischen Kirche Berichte über Wunderheilungen untersucht. Rainer ist auch schon von Sevilla und von Lissabon aus nach Santiago gelaufen. Zusammen kommen wir an ein Lager im Wald. Unter einer großen Plane hausen zwei junge Männer, haben einen alten Tisch mit Keksen, Obst und Kaffee bestückt. Sie fragen, ob wir einen Kaffee möchten und ich lasse mir einen Plastikbecher vollschenken. Die beiden Männer sind aus Estland und schon ein Jahr unterwegs. Mit dem Kaffee in der Hand registriere ich den unglaublichen Dreck an ihren nackten Füßen und Händen. Da schmeckt mir der Kaffee nicht mehr, der sowieso nur lauwarm war. Das Kaffeewasser haben sie in einem Topf über offenem Feuer gekocht Der Wasservorrat in einem Kanister sieht trüb aus. Wer weiß, aus welchem Bach sie ihn gefischt haben? Ich spende einen Euro, lasse den Kaffee stehen und flüchte. Mir wird noch nachträglich schlecht.
Bald kommen wir nach Boente. Am Ortseingang lädt ein deutsches Café zur Pause ein, es ist brechend voll. Ein deutsches Café am camino, meine ich, muss einfach rentabel sein! An der vielbefahrenen Hauptstraße liegen zwei private Herbergen, beide wirken heruntergekommen. Bei der ersten sehe ich mir den Schlafsaal an und finde die blauen Plastikmatratzen geradezu abschreckend. Der Wirt in der zweiten Herberge meint, ich solle nicht mit den Schuhen nach oben gehen. Ich füge mich und gebe Ausweis und Pilgerheft ab. Heide und ich bekommen Betten in einem Vierbettzimmer. Mit seinen dunkel umrandeten Augen und seinem langen Bart sieht der Typ aus wie Rasputin. Lang und breit erklärt er mir, er könne meinen Rucksack nicht hochtragen, weil er "Rücken hat". Nachdem wir beide bereits zwei untere Betten belegt haben, kommt er angeschlichen, versucht uns klarzumachen, dass wir stattdessen ein Stockbett nehmen sollen. Als er meiner inzwischen matschigen Erdbeeren in der Tüte ansichtig wird, schimpft er richtig los. Und er macht "biep, biep", als hätte er dann wieder die Arbeit mit dem Sprühen. Wir bleiben stur in unseren Betten liegen und verstehen nicht, welches Ungeziefer das Obst mitbringen soll. Wir lassen ihn reden, und murrend zieht er ab. Irmgard kommt als dritte Bewohnerin hinzu. Nach einer Weile entscheidet sie, wegen des Straßenlärms lieber ein Zimmer nach hinten raus zu wählen. Sie zieht um zu einem Italienischen Paar, das sie in ihr Vierbettzimmer aufnimmt.
Zum Abendessen gehen wir zurück zum deutschen Café, obwohl Rasputin in seiner Kneipe auch Essen anbietet. Wahrscheinlich kocht seine alte Mama, die im Hintergrund herumwerkelt. Im Café ist es inzwischen ruhig geworden und wir können noch in der Sonne sitzen. Nach einem leckeren Salat landen wir wieder in unserem Gruselhaus. Rasputin hat inzwischen Irmgards Sachen wieder zurück in unser Zimmer getragen. Sie lässt sich nicht einschüchtern und zieht ein zweites Mal um.
9. Juni 2014 Von Boente nach Salceda - 19 km
Mit dem Straßenlärm kommen wir klar, aber nachts macht es tatsächlich "biep, biep" und dicke Mücken tanzen um unsere Ohren. Ich hatte abends das klemmende Fenster nicht wieder schließen können, und außerdem braucht Heide auch immer frische Luft. Jetzt verstehe ich, was er uns sagen wollte. Aber die Mücken wollen nicht das Obst, sondern unser Blut. Diesmal schnarcht niemand, aber die Mücken nerven. Ich ziehe mir den Schlafsack über die Ohren. Am Morgen ist der Himmel voller Regenwolken. Meine Socken sind über Nacht nicht getrocknet. Ich wandere mit Regenhose und Cape los, aber bald koche ich darin und muss die Regenhose wieder ausziehen. Im Wald wechseln sich Eukalyptus, Eichen und Pinien ab. Auf den Weiden stapfen die Kühe über aufgeweichten Boden, hinterlassen Löcher bei jedem Tritt. In dieser Gegend sind die Kirschen noch nicht reif, aber in einem Garten sehe ich riesige Kakteen und in einem anderen große Palmen.
Unterwegs hole ich Gunnar aus Dänemark ein. Er ist über siebzig Jahre alt, trägt außer einem kleinen Tropfen an der Nase einen schweren Rucksack und zieht noch eine Karre mit Gepäck hinter sich her. Er will seine Freiheit haben und im Zelt übernachten können, macht davon aber wegen der Kälte kaum Gebrauch. Auf der Stirn trägt er noch die Kopflampe, die er heute früh auf dem Weg brauchte. Es ist noch nicht einmal elf Uhr, als er schon die nächste Herberge ansteuert. Als ich auf einer Bank Rast mache, kommt er wieder an mir vorbei. Ein Bett in der Herberge soll zehn Euro kosten, was er für zu teuer hält. Eine junge Chinesin setzt sich zu mir auf die Bank. Sie hat ein Stipendium und studiert Spanisch in Santiago de Compostela. Nein, sie will noch nicht heiraten und eine Familie gründen, sondern erst einmal arbeiten und die Welt kennenlernen.
Eine Weile wandere ich durch einen Eukalyptuswald, die Bäume hier sehen nicht gesund aus, die Blätter haben Flecken und sind von Blattläusen befallen. Vor einem Gedenkstein liegen das Foto einer Italienerin und mehrere zusammengebundene Seiten von einer Manuela, die an Krebs erkrankt war, dann aber geheilt wurde und nun Dankesbriefe an ihren Vater, ihren Freund und ihren Hund geschrieben hat. Fotos zeigen sie vor und nach der Chemotherapie.
Das Dorf Onteiro wird im Reiseführer als besonders schön beschrieben. Verwinkelte Gassen zwischen den meist leerstehenden alten Häusern. In den Gärten sehe ich die ersten Maulbeerbäume. Im Dorf verpasse ich die Abzweigung, aber ein freundlicher Spanier winkt mir schon zu und weist mir den richtigen Weg.
Neuerdings stehen große Plastikmülleimer am Weg, ihre Oberfläche lädt zum Bekritzeln ein. Was mag das wohl für ein Wichtigtuer sein, der alle Welt mit seinen Weisheiten in englischer Sprache belästigt? "Ich atme, also lebe ich", "Ich bin nicht der einzige auf der Welt", "Unter mir der Boden und über mir der Himmel" oder noch einfältiger: "Vielleicht treffen wir uns eines Tages". Am nächsten Tag entdecke ich dieselbe Handschrift an der Wand einer Unterführung. Sie gehört einem von zwei Schotten in Schottenröcken, die sich bei allen Wegbegleitern bedanken und sogar ihre email-Adresse angeben.
Dann kommt die Abzweigung zu unserer Herberge in Salceda, die zu einem zauberhaften Anwesen gehört. Quakende Frösche in einem Teich, ansonsten himmlische Ruhe. Weil im Schlafsaal kein Bett mehr frei ist, nehmen wir ein Doppelzimmer für 40 €, mit weißen Tagesdecken und elegantem Duschbad. Das ist Luxus pur! Für 7,50 € bekommen wir jeder ein halbes Pilgermenü, was völlig ausreicht.
Aufbruch: | 13.05.2014 |
Dauer: | 5 Wochen |
Heimkehr: | 14.06.2014 |