Einmal ans Ende der Welt und zurück
Lektionen über Menschen und Kultur
Bring- und Holschuld
Heute hatte ich eine weitere Lektion in Sachen peruanischer Kultur. Betreff: "Nur nichts überstürzen! Stress jeglicher Art unnötig!"
Mit AIESEC- die chaotische Studentenorganisation, über die ich in das Projekt hier gelangt bin- gab es in der Vergangenheit eine Menge organisatorischer und bürokratischer Dinge zu klären.
Der bisherige Ablauf:
AIESEC: "Lisa, wir brauchen Dokument X von dir. So schnell wie möglich, am besten gestern, denn wir sind spät dran, die Deadline war vorgestern!!!"
LISA: Leicht panisch lasse ich alles stehen und liegen und kümmere mich um die allzu wichtige erscheinende Angelegenheit, da ich nicht will, dass irgendetwas meinem Abenteuer Peru im Wege steht.
Mehrere Tage vergehen...
AIESEC: "Lisa, wir brauchen wirklich das Dokument von dir. Bitte sende es."
LISA: "Das habe ich bereits gesendet, bitte schaut in euer Postfach vom xx.xx.xxxx"
Mehrere Tage vergehen...
AIESEC (Auftritt einer neuen Person). "Lisa, wir brauchen dringend das Dokument von dir."
LISA: "Das habe ich bereits gesendet, bitte schaut in euer Postfach vom xx.xx.xxxx"
Und es ward nie wieder etwas davon gehört....
Wie es diesmal lief:
AIESEC: "Lisa, wir brauchen Dokumente Y von dir. So schnell wie möglich, am besten gestern, denn wir sind spät dran, die Deadline war vorgestern!!!"
LISA: "Ja, ja, ich kümmere mich darum." (Habe jedoch eigentlich keine Lust und schiebe es tagtäglich vor mir her, irgendwann vergesse ich es...)
AIESEC: "Lisa, wir brauchen wirklich das Dokument von dir. Bitte sende es."
LISA: "Ja, klar, richtig, ich kümmere mich bald darum" (Und schiebe es noch ein paar Tage auf..."
....
Heute steht eine junge Dame von AIESEC an meinem Arbeitsplatz in der Schule in Chorillos mit ausgedrucktem und vorbereitetem Dokument vor mir- ich muss nur noch unterschreiben und das wars.
Und später..
AIESEC: "Es tut mir so leid, dass ich dich mit dem Dokument so gestresst habe. Wollen wir morgen einen Kaffee trinken gehen, ich möchte das wieder gut machen und aus der Welt schaffen."
Oooook, klar..warum auch nicht
Warum danach streben, anders sein zu wollen..?
Die letzten Tage und Wochen und besonders heute Abend hatte ich die grosse Ehre, Nathalie etwas näher kennenzulernen. Sie ist eine neugierig-offene (wenn auch ein gewisses Mass an Sicherheit und Stabilität schätzende), hübsche, hilfsbereite, nachdenkliche, ruhige und tiefgründige junge Frau von 17 Jahren. Ich schätze sie sehr. Sie erinnert mich in machen Zügen ein bisschen an mich selbst in diesem Lebensabschnitt: sie reflektiert und grübelt über Dinge, die ihrem Alter wohl vorauseilen. Ich geniesse die Zeit mit ihr. Ich geniesse es, über ihre Gedanken zu erfahren.
Eine Freundschaft zu Hause in Giessen hat mich gelehrt, dass Alter oder Altersunterschiede keine entscheidende Rolle spielen sollten, und hat mich dazu gebracht, meine Überheblichkeit diesbezüglich zu überdenken und (wie ich hoffe) abzulegen. Nur weil jemand vielleicht (heute!!!) aufgrund von Lebensjahren noch nicht den Horizont und Weitblick entwickelt hat, mit dem man selbst gerade die Dinge betrachten mag, sollte man nicht die Chance verpassen, von dieser Person zu lernen. Die Persönlichkeit ist letztlich das, was zählt. Und ich bin dankbar, dass Nathalie meine Zeit hier begleitet und ich das zu schätzen weiß.
Unter anderem dieser schöne Abend heute hat mich nachdenklich darüber gestimmt, warum ich so häufig nach etwas strebe, was nicht meiner Natur entspricht. Ich bewundere einige Menschen für ihre Offenheit, Leichtigkeit, Extraversion, Energie, Spontanität und ihren Optimismus. Ich beobachte ihre Art zu leben, versuche zu imitieren und bewerte mit einem von außen reflektierenden Auge, wie gut ich mich in diesem Vorhaben schlage. Das kostet Kapazität, die ich auch dafür nutzen könnte, das Hier und Jetzt- die Empfindungen des Moments- zu realisieren, zu geniessen und zu verinnerlichen.
Die eigenen Qualitäten und Interessen mehr in der Vordergrund stellen. Das wünsche ich mir. Die Dinge zu tun, die mir wirklich Freude bereiten und mir Flow Erlebnisse verschaffen, ansatt dem hinterherzuhecheln, was andere tun, nur um nichts zu verpassen. Soziale Interaktionen suchen und gestalten, die meiner Vorstellung von Kommunikation, Nähe und Freundschaft entsprechen und mich nicht in ein System pressen, dass mir die breite "Wir lieben uns alle und sind ja so cool" Masse vorlebt.
Noch ein bisschen mehr den perfektionistischen Anspruch ablegen, auf alles eine Antwort wissen zu müssen und dadurch unbekanntes Terrain zu scheuen, hinter dem sich doch noch so viel Potential verbirgt. Und wie einer der wichtigsten Menschen meines Lebens immer zu sagen pflegte: "Die Welt könnte so viel besser sein, wenn einfach mal jeder sagt, was er denkt." Die Leute mehr mit dem konfrontieren, was man wirklich denkt, wie man sich wirklich fühlt. Keine Rolle spielen. Wofür auch? Am Ende werden wir uns nicht fragen- "Welchen Eindruck habe ich hinterlassen? Wurde ich gemocht? Wurde ich für klug gehalten?" Es wird darum gehen, dass wir glücklich und vielleicht ein Stück weit weiser sind. Jede Interaktion mit anderen, ist eine Chance zu lernen, zu wachsen, den Horizont zu weiten. Ich möchte sie nutzen. Aber auch mein ausgeprägtes Bedürfnis nach Ruhe, Alleinsein und Intimität mit wirklich nahen Personen akzeptieren und diesem ohne schlechtem Gewissen entsprechenden Raum beimessen.
Nicht NUR weil die Kinder mich in der Schule in den Wahnsinn treiben und ich anfange, diesen Job zu hassen- freue ich mich gerade sehr auf meine berufliche Zukunft als Psychologin. Was mir die Zeit hier bringen wird, kann ich wohl erst in Monaten oder Jahren erkennen, aber eines zeigt sich bereits jetzt: Ich verspüre erstmals seit langem wieder Lust auf die Arbeit als Psychologin, freue mich, auf das, was kommt und kann es entgegen des bisherigen Entscheidungsdrucks genießen, verschiedene Optionen meiner konkreten Berufswahl zu durchdenken.
Aufbruch: | 21.10.2015 |
Dauer: | 4 Monate |
Heimkehr: | 23.02.2016 |
Chile
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