Ich braus dann mal davon - einmal um die Welt
Der lange Marsch der Tieflandindianer
Nackenschmerzen
Seit einer Woche habe ich Nackenschmerzen. Das Schöne: ich darf mich dadurch ein bisschen als Held fühlen. Und das kam so: bei unserer Ankunft in Bolivien gibt es nur ein Thema: der Marsch der Tieflandindianer gegen eine Straße durch ihre Heimat, mitten durch den Nationalpark TIPNIS, auch als die grüne Lunge des Landes bezeichnet. Ein Gebiet mit einzigartiger Flora und Fauna.
Vor zwei Monaten zogen rund 1500 Indianer, darunter viele Kinder und Frauen los. Durch die Straße sehen sie ihren Lebensraum und ihre traditionelle Lebensweise akut gefährdet. Mehr als zwei Monate und über 600 Kilometer lagen vor ihnen. Hitze, Kälte, Hunger, Krankheiten und schier übermächtigen Gegnern wie der Polizei und den mächtigen Kokabauern mussten sie trotzen. Es entwickelt sich eine klassische Heldengeschichte - und am Ende durften wir mit dabei sein....
Als wir die marschierenden Indianer zum ersten Mal treffen, halten sie gerade Lager beim Städtchen coroico in den yungas. Sie begrüßen uns herzlich, sie wirken diszipliniert und gut organisiert. Sie haben sogar einen Logistikchef, der uns ein Interview gibt, während er Pfeil und Bogen in der Hand hält. "Das ist nur für den äußersten Notfall, falls wir uns verteidigen müssen", erklärt er. Man spürt, dass er sich zusammenreißen muss. Es kocht in ihm. Die Wut auf den Präsidenten, Evo Morales, ist riesig. "Bei der letzten Wahl habe ich sogar noch die Werbetrommel für ihn gerührt. Ich habe ihm geglaubt, dass er einer von uns ist. Als Behüter von Pachamama, der heiligen Mutter Erde ( s. Auch voriges Kapitel "Der (un)pünktliche Schamane") hat er sich stets bezeichnet - und nun das."
Die Tieflandindianer in den Yungas - langsam geht es bergan....
Unglaublich diszipliniert marschieren die Indianer durch Hitze und Kälte...
...auch wenn Vielen die Erschöpfung anzumerken ist
Warum eine Straße durch den TIPNIS?
Die Straße durch den TIPNIS entwickelt sich zum nationalen Aufreger. Immer mehr Bolivianer solidarisieren sich mit den marschierenden Indianern, doch von Evo Morales ist in all den Wochen nichts zu hören. Stattdessen lässt er die Polizei auf die Indianer eindreschen, um den Marsch zu stoppen. Doch die marschieren weiter, einige nun mit gebrochenen Armen oder Platzwunden am Kopf. Ein Kind stirbt nach dem Einsatz - die Polizei hatte aggressives Tränengas eingesetzt - die Unterstützung in der Bevölkerung wächst und wächst.
Spekulationen wuchern: warum will Evo Morales unbedingt diese Straße mitten durch den Nationalpark? Zwei Vermutungen sind immer wieder zu hören:
- es gibt einen Vertrag mit dem großen Nachbarn Brasilien, dessen Entwicklungsbank die Straße auch finanziet (gegen hohe Zinsen). Brasilien, nicht Bolivien, braucht diese Straße als Teil einer Transoceanica vom Atlantik zum Pazifik. Um Soja usw nicht mehr durch den Panamakanal verschiffen zu müssen, sondern über den Landweg in die Häfen Perus und Chiles. Und dann ab nach China. China kauft, China hat Geld, Brasilien liefert gerne. Ob dafür Urwälder in Bolivien sterben müssen - das ist den Mächtigen in Brasilia schnuppe! Und mit dem neuen Imperium möchte es sich auch der sozialistische Evo Morales nicht verscherzen...
- Morales ist nicht nur Präsident Boliviens, sondern auch des mächtigen Verbandes der Kokabauern - das ist seine Machtbasis. Immer mehr Koka wird angepflanzt, Koka frisst viel Platz, Koka bringt viel Geld. Es ist ein offenes Geheimnis, dass nur rund fünf Prozent des Kokas für Tees und zum Kauen (gegen Hunger und Müdigkeit) im Land verbraucht werden. Die heilige Pflanze (s. voriges Kapitel "Der (un)pünktliche Schamane") dient vor allem dem unheiligen Drogenkosum im Westen und zunehmend in Brasilien. 95 Prozent werden in Urwaldlaboren zu Kokain weiterverarbeitet! Schmutziges Geld für Boliviens Kokabauern, denen Evo Morales beim letzten Wahlsieg angeblich mehr Anbaufläche versprochen hat. Die Kokapflanze braucht bestimmte klimatische Bedingungen, die sich ausgerechnet im Naurparadies TIPNIS finden. Die Straße würde den Urwald für die Anpflanzung der Kokapflanze öffnen - sehr unmoralisch, Herr Morales! - so denken mehr und mehr Bolivianer.
Immerhin können die Medien in Bolivien (noch) frei berichten, so dass das ganze Land täglich bestens über den Marsch informiert wird. In vielen Dörfern werden die Indianer wie Helden empfangen und mit Nahrung und Wasser versorgt. Auch einige Menschenrechtsorganisationen und die katholische Caritas begleiten inzwischen den Marsch, sorgen für ärztliche Versorung, Kleidung und Decken.
Als die Indianer ihre Zelte einpacken und weiterziehen, entschließen wir uns, sie ein Stück zu begleiten. Unglaublich diszipliniert marschieren sie, halten sich hart an der rechten Straßenseite, um den Verkehr nicht zu behindern. Immer wieder fahren Busse an den Marschierenden vobei. Entweder jublen die Menschen ihnen zu oder sie überziehen sie mit Beleidigungen. Die Indianer verziehen kaum eine Miene - sie laufen einfach weiter.
Es ist heiß. Wir sind auf ca 1500 Meter, die Vegetation hier wuchert tropisch. Noch ist es das Terrain der Tieflandindianer. Doch um nach La Paz zu kommen (3600 Meter über dem Meer) müssen sie nun bald steil hoch zum Cumbre auf 4650 Meter. Dort herrscht eisige Kälte , es gibt kaum Luft zum Atmen. Ich zweifle, ob das Alle schaffen werden...
Von La Paz aus verfolgen wir den Verlauf des Marsches in den nächsten Tagen in den Medien. Immer noch zeigt Evo Morales kein Erbarmen. Polizei schickt er aber auch keine mehr, das kann er sich nicht mehr erlauben. Zu groß ist die Sympathie in einem Gr0ßteil der Bevölkerung inzwischen. Die Zeitungen erinneren daran, dass es vor 20 Jahren schon einmal einen ähnlichen Marsch gegeben hat. Auch damlas ging es um die Anerkennung eines Naturschutzgebietes. Der Marsch endete erfolgreich, die Rechte der Indios auf ihr Land wurde festgeschrieben. Damals hatte Bolivien noch einen weißen Präsidenten. Einer der Anführer des Marsches war - genau - Evo Morales, der damals durch den Marsch landesweit bekannt wurde. Sein Sprungbrett für die große politische Karriere!
Jeden Tag klettern die Tieflandindianer ein bisschen höher. bald sind sie auf 2500, bald auf 3500 Meter Höhe. Hilfsorganisationen transportieren die Zelte und Decken mit LKWs nach oben. Eine Frau bringt in einem Dorf ein Kind zur Welt und wird zum nationalen Medienereignis.
Nun ist es bald so weit: wir entschließen uns, dem Marsch nochmal entgegen zu fahren, um ihn am Cumbre in Empfang zu nehmen.
Fotograf Jürgen Escher und die Journalisten Thomas Milz und Peter Theisen im Nebel des Cumbre
Ankunft auf dem Cumbre
Der Cumbre ist Wetterscheide. Wenn man von La Paz aus hochfährt, gerät man in eine ausgedörrte Hochgebirgslandschaft. Der Himmel ist kristallklar. Sobald man den Gipfel passiert, fährt man in eine Wolke aus Nebel. Kurz hinter dem Cumbre machen wir Halt. Es ist bitterkalt. Trotz Pullover und dicker Jacken frieren wir. Wir bringen unsere Kameras in Position. Wir warten auf das Bild, wenn die Tieflandindianer aus den Nebeln auftauchen. Das Bild eines großen Etappensieges....
Da endlich tauchen die Ersten auf. Sie wirken erschöpft, aber auch entschlossen, nun den Weg bis zum Ende zu gehen. Die Meisten von Ihnen waren noch nie in dieser Höhe. Einige müssen mit Sauerstoffgeräten beatmet werden.
Da mag man noch so journalistisch unabhänigig sein. In diesem Moment gilt auch unsere uneingeschränkte Solidarität den seit zwei Monaten Marschierenden...auch wenn wir selbst kaum noch laufen können - so kalt und dünn ist die Luft auf dem Cumbre. Wir vergessen es einfach in diesem Moment - zwei Tage danach müssen wir allerdings den Arzt aufsuchen...vor allem Jürgen geht es ziemlich schlecht. Er bezahlt die Anstrengung mit hohem Fieber und Husten...
Ein paar Lamas beobachten den Marsch auf dem Cumbre
Kleiner Triumph - nach zwei Monaten endlich auf dem Cumbre
Der Marsch geht weiter - nun bergab Richtung La Paz
Auf der Passhöhe gibt es eine erste Vorahnung von dem, was später in La Paz passieren wird. Hunderte Menschen stehen an der Straße und applaudieren den 1.500 Helden aus dem Tiefland. Fernsehteams und Radioreporter stürzen sich auf die Indianer. Lokalpolitiker üben sich in Shakehands mit den Anführern aus dem TIPNIS, um auch etwas vom Ruhm des Marsches abzubekommen. Die Indianer nehmen das alles mit erstaunlicher Gelassenheit. Keine Triumphgebärden, nur leichtes Lächeln huscht über ihre Gesichter. Sie wissen, dass sie physisch nun das Schlimmste hinter sich haben. Aber sie wissen auch: im Kampf um die Straße ist noch nichts gewonnen. Immer noch gibt es kein Einlenken des Präsidenten. Die Regierung schweigt und besteht auf dem Bau der Straße.
Es geht nun talwärts. Bis zum Abend wollen die Indianer ihr vorläufig letztes Lager erreichen - kurz vor den Toren der Hauptstadt.
Triumphaler Einzug in La Paz
Am nächsten Morgen lassen wir uns mit einem Taxi in einen höher gelegenen Vorort von La Paz bringen. An einem kleinen Platz halten wir an. Hier sind schon Tausende versammelt, schwenken Fahnen, singen Lieder. Einige haben ganze Choreographien einstudiert, um die Indianer aus dem Teifland gebührend zu empfangen. Es sind Alte und Kinder, Studenten und Arbeiter, Arme und Reiche. Ja, sogar Indianer aus dem Hochland, Aymara, die dem Präsidenten nahe stehen, sind da, um ihre Solidarität mit dem TIPNIS zu bekunden.
Immer wieder skandieren sie "TIPNIS si - Coca no!" oder "ni droga ni coca - es TIPNIS no se toca" (Keine Drogen, kein Koka - "TIPNIS soll in Ruhe gelassen werden"). Beliebt ist auch die Liedzeile "Wir isnd freiwillig hier, keiner hat uns dafür Geld gegeben". Damit spielen sie auf eine Massenkundgebung an, die Evo Morales eine Woche zuvor in La Paz hat abhalten lassen. Tatsächlich kamen viele Leute - weil die Regierung sie mit Bussen aus allen Teilen des Landes ankarren ließ.
Es ist kaum zu fassen, mit welcher Blödheit ein zuvor beliebter Präsident jeglichen Kredit bei der Bevölkerung verspielt....
Kreative Unterstützung für den Marsch
Solidarität mit TIPNIS
Der Grund für die Nackenschmerzen
Da endlich kommt der Zug der Indianer um die Ecke. Donnernder Applaus bricht los. Wir reihen uns ein in die Phalanx der Journalisten unmittelbar vor dem Zug. Auch die Presse wird gefeiert "Viva la prensa", schallt es uns entgegen. Wann passiert einem so etwas schon mal? Die Menschen wissen es zu schätzen, dass sie aus Fersnehen, Radio, Zeitungen und Internet realtiv unabhänigig informiert wurden. Wie lange wird das noch so sein in Bolivien? Letztens bezeichnete Evo Morales die Presse als sein Feind Nummer eins. Sollte er den Weg seiner Freunde Fidel Castro und Hugo Chavez gehen, könnte es auch in Bolivien bald vorbei sein mit der schönen Freiheit der Medien....
Wir laufen unmittelbar vor der Spitze des Marsches. Direkt hinter uns eine schmächtige Indianerfrau mit einem kleinen Mädchen auf der Schulter. "Wir sollten sie ihr mal ein Stück abnhemen", sage ich zu Thomas. Und schon landet die Kleine auf seinen Schultern. Beifall brandet auf. Es ist ein einziger Triumphzug durch die prall gefüllten Straßen der Hauptstadt. Es sind Zigtausende, die den Marsch der Indianer aus dem TIPNIS begeistert empfangen. Und sie Alle schließen sich dem Marsch an und laufen Richtung Plaza Murillo, dem Hauptplatz von La Paz, an dem sich die Kathedrale, das Parlament und der Regierungssitz von Evo Morales befinden. Ich nehme Thomas die Kleine ab. Ups, die ist ganz schön schwer und hat auch noch ein Transparent in der Hand. Doch in der allgemeinen Begeisterung vergesse ich die Anstrengung und trage die Kleine (die es bestimmt verdient hat) fast eine Stunde auf meinen Schultern. Später berichten uns Freunde, dass wir immer wieder in der TV-Live-Berichterstattung gezeigt wurden...
Thomas an der Spitze des Protestzugs
et voila - kleiner Held für einen Tag...
Eine Frau schafft es mit letzter Kraft auf die Plaza Murillo - nach zwei Monaten und 660 Kilometern
Plaza Murillo
Schließlich gelangt der Zug an die Plaza Murillo. Nach mehr als zwei Monaten und 660 Kilometern. Spnnung liegt in der Luft. Am Morgen hatte Morales Wasserwerfer auffahren lassen. Doch die sind jetzt weg. Aber auch der Präsident ist verschwunden. Zu irgendeiner Feierlichkeit in Cochabamba. Ausgerechent am Tag des Einzugs! "Wenn der Präsidnet nicht zu uns kommt, kommen wir zu ihm" - unter dieser Maßgabe waren die Indianer aus dem TIPNIS losgezogen, um ihren Lebensraum zu verteidigen. Nun ist er einfach nicht da. Der Marsch schlägt einen Bogen um die Plaza und endet dann vor der Kirche San Francisco, wo der Erzbischof von La Paz eine Messe mit ihnen feiert. Es bleibt erst einmal ruhig, doch am nächsten Abend versuchen die Indianer wieder auf die Plaza Murillo vorzudringen und werden von Sicherheitskräften abgehalten. Steine fliegen - es gibt Verletzte. Das ganze Land ist empört über die Ingnoranz und Arroganz des Präsidenten. Erst zwei Tage später empfängt er eine Delegation. Der Druck ist zu groß geworden. Evo Morales erklärt, dass es keine Straße durch den TIPNIS geben wird. "Der TIPNIS ist jetzt und für immer unantastbar". Die Indianer trauen ihm immer noch nicht. Sie bleiben in La Paz, bis das Schnellgesetz zum TIPNIS durch die beiden Kammern des Parlamentes ist. Erst dann kehren sie zurück in ihre Heimat. Sie haben es geschafft - vorläufig. Denn der Druck wird bleiben. Die Kokabauern protestieren gegen die Entscheidung, sie organisieren Demonstrationen und fordern von ihrem Präsidenten, dass er sich an die Absprachen hält. Im Fernsehen werden Bilder eines riesigen Kokainlabors mitten im Urwald des TIPNIS gezeigt. Sie ist also schon da - die Kokainmafia. Wir wollen uns selbst ein Bild vor Ort machen. Von Trinidad aus chartern wir ein Flugtaxi, das uns zu einem Kloster im TIPNIS bringen soll. Doch am nächsten Morgen weigern sich alle Piloten in Trinidad, das Kloster Santisima anzufliegen. "Es hat letzte Nacht dort Schießereien mit den Kolumbianern gegeben, es gab Tote." Die Piloten haben Angst, dass die Kolumbianer ihr Flugzeug angreifen werden. Oder Schlimmeres....Es bleibt uns nichts Anderes übrig, als nach Santa Cruz weiter zu fliegen. Von dort versuchen es Thomas und Jürgen heute noch einmal, einen Flieger nach TIPNIS zu kriegen. Ich bleibe lieber im sicheren Santa Cruz und hoffe, dass die Beiden wohlbehalten aus dem TIPNIS zurück kommen.
Aufbruch: | 07.10.2011 |
Dauer: | 3 Monate |
Heimkehr: | 15.01.2012 |
Peru
Ecuador
Kolumbien