Arctic Circle Trail (ACT) - West-Grönland

Reisezeit: August / September 2018  |  von klaus Heyne

Neunte Etappe

Ein Nordlicht hat es wieder nicht gegeben. Der Morgen ist kühl. Das Wetter wird nicht angenehmer; aber noch ist es trocken. Vorsichtshalber ziehen wir den Rucksäcken ihre Kondome über und uns selbst die Regenjacken. Das war gut so, denn nach kaum 10 Minuten beginnt leichter Schneeregen ohne Wind. Bis zur Ikkattooq-Hütte quälen wir uns mehrfach über den edlen Faltenwurf im Gelände – rauf und runter; immer wieder. Schließlich stehen wir vor der kleinen Hütte. 4 Kilometer haben wir bis hierher zurückgelegt. Die einsame Hütte bewacht ein etwa 20x6 km großes Hoch“plateau“, das zwar einige Erhebungen hat (z.B. Maligissap Qaava oder Oarlissut), aber darüber hinaus zig kleine Seen und Dutzende kleine Teiche. Die Kartenlegende lehrt, dass jeder dieser Punkte einen Teich bezeichnet.
Die Umgebung rund um die Hütte ist düster, nicht nur wegen des feuchten Wetters. Hier haben im letzten Jahr Torfbrände gewütet, die sich unterirdisch ausbreiten können. Der Boden ist hier grundsätzlich steinig, aber es war auch niedriger Bewuchs wie z.B. Wacholder vorhanden. Zwischen den Felsen ist immer noch fast alles schwarz verkohlt.
Das sieht schon traurig aus und man sollte sich nicht überlegen, wo und wie man ein offenes Feuer anlegt, sondern ob überhaupt. Notwendig ist es in keinem Falle – mal abgesehen vom kaum vorhandenen Brennmaterial. Der verbrannte Boden bietet keinen schönen Anblick und legt sich aufs Gemüt.
Leider finden wir die Beschreibung der beiden Deutschen, die wir gestern trafen, voll bestätigt. In einer Erdfalte keine 15 m neben der Hütte befindet sich etwas, was wir hierzulande als „wilde Müllkippe“ bezeichnen. Von den Hinterlassenschaften, hervorgerufen durch menschliche darmperistaltische Aktivitäten, breiten wir lieber den Mantel des Schweigens.

Die Witterung ist ungemütlicher geworden. Leichter Nieselregen verleiht allem und jedem eine glänzende Oberfläche. Im weiteren Verlauf zieht sich der Pfad über steinige 5 km kaum merklich bergan. Dann stehen wir am Rande des Seen-Plateaus und blicken von der 300-m-Höhenmarke auf den großen, langgezogenen See Tasersuaq. An dieser Stelle hatte ich ursprünglich ein Etappenende geplant und schon in die Karte eingezeichnet. Da das Wetter sich weiter verschlechtert hat und noch genügend Kraftreserven vorhanden sind, ignorieren wir die Planung und marschieren weiter. Der Tasersuaq ist über 30 km lang und ziemlich gleichförmig zwischen ein und zwei km breit. Nur an einer Stelle besitzt er eine Ausstülpung – an seinem Südufer – die wie ein 2x3 km großes Geschwür quasi einen eigenständigen kleinen See bildet, nur durch eine schmale Wassergasse mit dem Muttersee verbunden. Er hat auch einen eigenen Namen: Kangerluatsiarsuaq.
An seinem kompletten Südufer müssen wir vorbei und dann nach Südsüdost durch ein relativ weites Tal abschwenken, um zum nächsten großen See, den Amitsorsuaq, zu gelangen. Es geht gemäßigt über gut bewachsenen Boden bergab, vielfach wieder mit sumpfigen Passagen. Wacholder- und Weidenbüsche laden Regenwasser auf unsere Hosen ab. Wir haben leider keine Gamaschen angelegt, aber auch keine Lust, sie aus den regengeschützt verpackten Rücksäcken zu fischen. Die Hosen sind jetzt eh nass, da ist es auch schon egal. Der Regen nimmt weiter zu und eisiger Wind gesellt sich dazu. Der Himmel ist wolkenverhangen. Das Wetter wird sich heute vermutlich nicht mehr ändern. Wir erreichen den Kangerluatsiarsuaq und pausieren an einer sanft langgeschwungenen Bucht mit feinkörnigem Sandstrand. Wenn das Wetter ein anderes wäre, könnte man sich irgendwo im sonnigen Süden wähnen. Aber wer will da schon hin?! Da es aber wenig prickelnd ist, bei den gegenwärtigen Gegebenheiten das Zelt aufzubauen, entscheiden wir uns dafür, die Option „Kanucenter“ zu nutzen. Das Kanucenter befindet sich am Ufer des Amitsorsuaq. Mit diesem neuen Ziel verlängert sich die heute zurückzulegende Strecke auf gut 22 km. Unterm Strich bedeutet das, dass wir momentan etwas mehr als die Hälfte zurückgelegt haben. Also frisch voran.

Von der Bucht aus verlassen wir den kleinen See und folgen dem markierten ACT durch das Tal, das ihn mit dem Amitsorsuaq verbindet. Der Talgrund weist durch den darin befindlichen Fluss wieder ausgedehnte Sumpfpassagen aus. Der Rest der Strecke zieht sich dann ein wenig. Doch dann stehen wir endlich am steinigen Ufer des Amitsorsuaq, am äußersten, westlichsten wurmfortsatzartigen Zipfel des Sees. Der ACT verläuft von hier aus direkt am kompletten Südufer des Sees entlang – für 25 km.
Es liegt sogar ein Kanu direkt greifbar vor uns. Mein abenteuerlustiger Sohn sitzt gedanklich schon drin, aber ich bin zurückhaltend und melde Bedenken wegen des Windes, der Wellen und unserer fehlenden Fahrpraxis an. Der Sohn lässt sich breitschlagen und so lassen wir das Boot liegen, wo es liegt und begeben uns wieder auf den Pfad, einen Pfad übelster Ausprägung. Auch hier begegnen uns verbrannte Flächen. Der Pfad schlängelt sich zwischen relativ großen Felsen in einem ewigen Auf und Ab hindurch. Nach 1-2 km entdeckt Niklas ein weiteres Kanu am Ufer. „Du kannst machen, was du willst. Ich nehme das Boot!“.

Von hier aus sind es mindestens noch 4 km über Land bis zum Kanucenter und es steht zu befürchten, dass die Wegqualität gleichbleibend mies sein wird. Ich komme nicht umhin, dem Vorschlag meines Sohnes zu folgen. Das Kanu ist ein schnittiges Aluminium-Gefährt mit einigen Dellen hier und da und trägt den Namen TINU. Es liegt kieloben am Ufer und beherbergt unter sich Paddel und Schwimmwesten. Ob die betagten Schwimmwesten im Bedarfsfall tatsächlich etwas taugen, ist schwer zu sagen. Aber naja: besser schlecht gefahren, als gut gelaufen! Zur Gewissensberuhigung legen wir die antiken Schwimmwesten an und befördern das Kanu ins Wasser. Der Wind gereicht uns jetzt zum Vorteil: Mit Rückenwind benötigen wir nur wenig Muskelkraft, um das Boot voranzutreiben. Wir müssen nur aufpassen, dass wir uns nicht quer zum Wellengang stellen. Die Strecke übers Wasser ist natürlich kürzer als über Land, aber es sind immer noch ca. 3 km bis zum Kanucenter. Die Aktion funktioniert sehr viel besser als ich erwartet hatte. Gerade hinsichtlich des heutigen Erschöpfungsgrades bei uns beiden, entpuppt sich dieses letzte Etappenstück als ein vergleichsweise erholsames. Dank des günstig wehenden Windes können wir uns praktisch treiben lassen. Und wirklich dauert es nicht lange bis wir das Kanucenter erreicht haben. Das Kanucenter ist die größte Hütte entlang des ACT.

Wir ziehen die TINU ans Ufer, drehen sie mit dem Kiel nach oben und legen Paddel und Schwimmwesten regengeschützt darunter. Dann sind es nur noch 50 m bis zu der großen Hütte. Dass wir entgegen der allgemeinen Richtung laufen, gereicht uns beim Paddeln in der Weise zum Vorteil, dass wir eine vielfach größere Chance haben, auf ein herrenloses Kanu zu stoßen, als wenn wir mit dem Strom wanderten. Dann müsste man sich vermutlich um ein Boot prügeln. Aber so paddelt alles vom Ostende des Sees zum Westende und lässt die Kanus dort zurück, wo die Kräfte nachlassen. Wir brauchen quasi nur „einzusammeln“.
Mittlerweile ist der Regen stärker geworden und nach dem anstrengenden Tag sind wir froh, nur noch das Schlafzeug auspacken zu müssen und bequem an einem Tisch sitzend etwas Warmes in uns hineinschaufeln zu können. Es sind auch schon ein paar Gäste zugegen, die die Neuankömmlinge neugierig betrachten.
Im Kanucenter gibt es zwei Schlafräume und ein sehr großes Küchen-Aufenthalts-Areal. Darüber hinaus auch eine dieser Plastiksack-Toiletten. Dass eine solche vorhanden ist, registriert der Gesichtserker unmittelbar, wenn man die Hütte betritt. Das haben die Skandinavier besser im Griff.
Wir wählen zwei der wirklich zahlreichen Etagenbetten und richten uns für heute Abend häuslich ein. Kalter Wind lässt die Regentropfen an die Fenster klatschen. Es ist nicht wirklich gemütlich – weder draußen noch drinnen. Immerhin sitzt man hier trotz allem trocken und aufrecht, während das Berghaferl mit den heißen Nudeln darin beidhändig umklammert wird. Man kommt an einem der großen Tische zusammen und tauscht sich aus. Wer wohin geht und woher kommt, welche Erfahrungen man hier oder auch anderswo auf Wanderungen gemacht hat, und so weiter und so fort.
Nicht alle wollen dem markierten ACT folgen. Manche zu dem südlich vom Kanucenter liegenden See Qeqertalaap Tasia wandern. Der See ist nur gut zwei Kilometer entfernt und ca. 50 qkm groß. Mittendrin liegt eine relativ große Insel. Abseits des ACT gibt es Natur reichlich, in die man sich ergehen kann. Mit den beiden Belgiern tauschen wir Erfahrungen hinsichtlich der Ausrüstung aus, vornehmlich geht es um Fjällräven-Hosen und -rucksäcke. Mit dem jungen holländischen Pärchen reden wir über dies und das, während die warme Nudelsuppe im Berghaferl die umklammernden Hände wärmt. Satt, zufrieden und wohlig erschöpft von unserer 26-km-Etappe begeben wir uns dann auch zur Ruhe. Ich bin schon ein bißchen stolz, dass meine alten Knochen das mitgemacht haben. Allein mit diesem Gewaltmarsch haben wir den Saldo auf unserem Zeitkonto schon fast aus dem roten Bereich gebracht. Aber sind es noch immer 60 km (inklusive Straße) bis Kangerlussuaq, für die wir 4 Tage Zeit haben.

Wer braucht schon Bulthaup?

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Leichter Schneefall beim Start

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Rentierfüße - Überbleibsel von der Jagd

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Ikkattooq-Hütte

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Verbrannte Erde vom Torffeuer 2017

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Wir kapern ein Boot für diel letzten Kilometer bis zum Kanucenter

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Luxus-Alujacht

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Etagenbetten in einem der Schlafräume im Kanucenter

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Neunte Etappe: 26 km - bis Kanucenter

Neunte Etappe: 26 km - bis Kanucenter

© klaus Heyne, 2021
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Trekkingtour auf dem Arctic Circle Trail in West-Grönland. Der ca. 170 km lange Pfad verläuft im eisfreien etwa 200 km breiten Küstenstreifen in direkter Nachbarschaft des Nördlichen Polarkreises von der Hafenstadt Sisimiut nach Kangerlussuaq ins Landesinnere - oder umgekehrt.
Details:
Aufbruch: 17.08.2018
Dauer: 3 Wochen
Heimkehr: 09.09.2018
Reiseziele: Grönland
Der Autor
 
klaus Heyne berichtet seit 10 Jahren auf umdiewelt.
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