Arctic Circle Trail (ACT) - West-Grönland
Fünfte Etappe
Die Nacht war so kühl, dass am Morgen die unteren Zeltränder leicht gefroren sind. Der Herbst ist im Anmarsch. Nach Planumstellung und Verschlankung der Tonnage steht heute die erste „Neu-Etappe“ bevor, die bisher längste mit 16 km.
In der Nerumaq-Hütte tut sich nichts. Der Ami ist noch da, scheint aber noch zu schlafen. Der Weg lässt sich gut angehen. Angenehmer Boden verwöhnt unsere Füße. Der Himmel ist bewölkt, die Temperatur ist niedrig genug, um aus Wanderer-Perspektive als angenehm zu gelten. Wir folgen dem Tal immer auf einer Höhe 150-180 m. Linker Hand ziehen sich Steilhänge während des gesamten Weges bis zur Innajuattoq-Hütte. Rechter Hand steigt das Tal zunächst flacher an, aber auch dann erheben sich abrupt Steilflanken des Nerumaq-Rückens. Nach knapp der Hälfte der Etappenstrecke verlassen wir den grünen Talboden und steigen von 200 auf 500 m hoch auf eine kleine Hochebene. An deren nördlichem Rand gehen wir für etwa 5 km entlang. Immerhin entfliehen wir dem Sumpf und genießen den Vorteil festeren, wenn auch steinigeren Bodens.
Gegenüber einer kleinen Seenkette befindet sich ein Konglomerat aus drei bis fünf Wasserflächen in einer markanten Form. Wenn man oldschool, also ohne GPS und nur mit Kompass und Karte, unterwegs ist, bieten sich augenfällige Landmarken an, unterwegs den eigenen Standort schnell bestimmen zu können. Das Format der Wanderkarte ist beintaschenkonform. So kommt man jederzeit schnell dran, ohne den Rucksack absetzen zu müssen.
Die Innajuattoq-Hütten, denn eigentlich sind es zwei – Innajuattoq I und Innajuattoq II, stehen an einem See mit einem Inselchen darin. Die größere Hütte (II) steht direkt am See, die kleinere (I) etwas oberhalb auf einer kleinen Erhebung. Diesen See sollten wir wohl von dem vor uns liegenden Ende der Hochfläche aus sehen können. Nur kurz bevor wir den Abgang von der Hochebene erreichen, kommt uns eine quirlige Girlie-Group entgegen. Wir plauschen ein wenig mit den vier jungen Berliner Mädels und lassen die von uns in der Nerumaq-Hütte zurückgelassene Schokolade nicht unerwähnt. Vier Paare Mädchenaugen weiten sich kollektiv erwartungsvoll und schon plant man dahingehend um, die Strecke bis Nerumaq nicht zu teilen, sondern sich direkt und ohne schuldhaftes Verzögern der Schokolade zu nähern. Die sind total aus dem Häuschen und kaum noch aufzuhalten. Liegt vermutlich am Zuckerentzug.
Während der nächsten etwa 2 km neigt sich das Gelände sanft dem Gewässer zu. Der See liegt auf einer Höhe von etwa 280 m. Die letzten 2 km führt der Weg direkt am nördlichen Seeufer entlang. Als letztes Schmankerl, bevor man endlich den Rucksack ablegen kann, muss der Seeabfluss noch überquert werden. Das sind aber nur etwa 30-50 m, die bequem steinhopsenderweise bewältigt werden.
Vor der Hütte steht ein einsames Ein-Frau-Zelt, das von einer jungen Frau bewohnt wird, die uns freundlich zuwinkt. Etwas weiter weg stehen lose verteilt zwei weitere Zelte. Ansonsten ist niemand da. Ich plädiere für eine Übernachtung in der Hütte, die so leer ist wie mein Magen. Der Sohn gibt seine Zustimmung schweigend – auch er verspürt heute keine Lust mehr, sich dem Zeltaufbau zu widmen.
Also erst mal rein in die Bude. Die Hütte ist in der Tat sehr geräumig und verfügt über zwei große Räume und ein Kabuff. Man tritt durch eine „Schleuse“ in einen geräumigen Vorraum, der an der gegenüberliegenden Wand eine KochSpül-Ecke anbietet und in der rechten Ecke zwei Schlafstätten, vor denen ein kleines, niedriges Tischchen steht. Direkt rechts von uns, die wir noch in der Tür stehen, hat man eine Essecke gebaut: Einen Tisch mit zwei Bänken, die Platz für vier Personen bieten – oder sechs, wenn man etwas intimer sitzen möchte. Der zweite große Raum beherbergt 5 Etagenbetten, mithin weitere 10 komfortable Liegeplätze. Insgesamt also 12.
Zwischen der „Schleuse“ und der Essecke befindet sich ein Kabuff, aus dem es nicht wirklich frisch riecht. Tatsächlich befindet sich darin eine Toilette der besonderen grönländischen Bauart wie wir sie noch in zwei anderen Hütten bewundern werden können. Es ist letztlich eine Plumpsklo-Variante mit Auffangsack-Technik.
Unnötig zu erwähnen, dass steigende Temperaturen die weiträumige Verteilung auch beim besten Willen nicht zu vermeidender Geruchsmoleküle höchst günstig beeinflussen. Und somit befindet sich der gemeine Wanderer in einem Dilemma: Soll er den schwarzen Sack in einer dichten, nicht geruchsneutralen Atmosphäre weiter befüllen oder sich in die wilde weite Natur begeben? Bei Letzterem sei vorausgesetzt, dass ein gewisser Mindestabstand zur Hütte und eine angemessene rückstandsfreie Beerdigung der Hinterlassenschaft eingehalten wird.
Bei Besichtigung des Schlafraums schleudere ich lässig mein Mützchen auf die untere Matratze des ersten Bettgestells. „Ich lieg unten!“ Heute ist Sonntag, das heißt Badetag in Grönland. Und wenn man mehr als 15 km hinter sich gebracht hat erst recht.
Der nur 50 m von der Hütte entfernte Seeabfluss bewässert den nächsten kleineren See. Nur weitere 20-30 Meter weiter strömt der Fluss in einer leichten Linkskurve so an unserer Uferseite vorbei, dass ein 30-40 cm seichtes, strömungsfreies Stück zum Bade lädt. Sehr zuvorkommend hat der große Landschaftsarchitekt Natur genau hier eine große, flache Steinplatte drapiert, die bereitwillig die mitgeführte Badeausrüstung aufnimmt. Das Wasser ist zwar kalt, aber die geringe Strömung und Wassertiefe führt zu einer entspannten Badeeinheit in einem der schönsten Badezimmer der Welt: die niedrigstehende Sonne beleuchtet ein mäandrierendes Band kaltstahlblauen Wassers im kargen Gelände vor imposanter Bergkulisse im Hintergrund. Ein permanentes, sanftes Plätschern und Gurgeln dringt ins Ohr und verweilt darin, bis heftiges Gepruste und Geschnaufe und geräuschvoll hechelndes Atmen, hervorgerufen durch über den kompletten kälteempfindlichen Rücken zusammenschlagendes Eiswasser, die kühle Luft erfüllt. Herz, was willst du mehr?
Derartig erfrischt an Leib und Seele wenden wir uns dem nächsten großen Kapitel des Tages zu: dem Abendbrot. Die verdiente Vesper nach diesem langen Tag besteht aus hoch mit Kartoffelpü und Salamiwürfelchen gefüllten Berghaferln. Den Abschluss bilden Reste der heutigen Tagesration aus Müsliriegeln und Panzerplatten. Da wir die einzigen Bewohner der Hütte sind, genießen wir die volle Freiheit und lümmeln uns mal hierhin mal dorthin; verbringen eine Zeit lang damit, Tagebucheinträge zu machen oder studieren auf der Wanderkarte den nächsten Streckenabschnitt.
Es ist etwa 21h und schon sehr dämmerig, als wir uns anschicken, in die Schlafsäcke zu kriechen. Doch mit einem Mal, von jetzt auf gleich, kommt vor der Hütte erhebliches Stimmengewirr auf. Eine geführte Wandergruppe – 9 Teilnehmer plus 2 Führer – trudelt aus der Gegenrichtung ein. Was für ein Chaos. Aus ist’s mit Ruhe und Beschaulichkeit. Eine drahtige, ältere Lady strömt in den Vorraum der Hütte und beschallt sie erfolgreich aus einem Mini-Lautsprecher an ihrem Rucksack mit finnischen Metal-Punk. Dieses – wie sich später herausstellt – mit 70 Jahren älteste Gruppenmitglied putscht sich offenbar mit diesen ohrenbetäubenden Dissonanzen auf. Die Gruppe sichert sich erfolgreich alle noch verfügbaren Schlafplätze.
Wir legen uns vorerst nieder und harren der Dinge, die da kommen mögen. Und das ist zunächst die Essenszubereitung. Dezibelmäßig muss es sich um die historische Speisung der Fünftausend handeln. Man stelle sich einen etwa 25-30 qm großen Raum vor, in dem eine Batterie Lebensmittelzubereitungsmaschinen installiert und mit ohrenbetäubender Geräuschkulisse in Betrieb genommen wird - dem Fauchen eines nur wenige Schritte entfernten Düsenjets nicht unähnlich. Fünf Trangia-Sturmkocher der Gasvariante brüllen in dem kleinen Raum um die Wette.
Weit nach 22 Uhr trudeln noch ein Gruppenmitglied und einer der begleitenden Guides ein. Eine ältere Frau hat massive Probleme mit einem Fuß, den sie nach einer OP wohl zu früh wieder belastet hat. Der ist jetzt so angeschwollen, dass er in keinen Schuh mehr hinein passt. Darum hat sie ersatzweise eine Plastiktüte statt eines Schuhs um den Fuß herumgewickelt und eiert damit durch die Gegend. Natürlich bläst man für sie nochmal eine der privaten Kleinfeuerungsanlagen für eine warme Mahlzeit an.
So nach und nach greift Müdigkeit nachhaltig um sich und bald hat sich jeder in seinen Schlafsack eingerollt. So eine Nacht in einem großen, vollbesetzten Schlafraum ist sehr gewöhnungsbedürftig; zum einen bewegt man sich selbst nicht so wie man gerne möchte, weil die Nylon-Außenhäute der Schlafsäcke und Isomatten eben immer Geräusche verursachen, wenn man dauernd hin- und herrutscht, zum anderen nimmt man auch die Geräusche all der anderen Leute wahr. Dazu kommt die Kakophonie der individuellen Schnarch- und Atemgeräusche, die gefühlt dem Bolero gleich in einem Crescendo gipfeln. Entspannt schlafen ist anders. Hätten wir vorher von dieser Horde gewusst, hätten wir lieber das Zelt aufgebaut.
Aufbruch: | 17.08.2018 |
Dauer: | 3 Wochen |
Heimkehr: | 09.09.2018 |