Arctic Circle Trail (ACT) - West-Grönland
Ice Cap und Russells Gletscher
Heute ist der Tag der Gletschertour. Da der Guide erst um 14 h auf der Matte stehen wird, haben wir den ganzen Vormittag zur freien Verfügung.
Pünktlich um 14 h – wir stehen natürlich schon draußen vor der Tür – driftet ein jeepähnliches Gefährt über den Schotter neben der Asphaltdecke. Jens, der Tour-Guide, holt uns ab. Es geht auch sofort los, allerdings zunächst noch einmal zum Flughafen. Zwei Leute müssen noch eingesammelt werden, die auch eine Tour gebucht haben und den Innenraum des 4-sitzigen Gefährts erfolgreich an seine Kapazitätsgrenze bringen.
Glücklicherweise sind Eugene und Tatiana (beide in den Siebzigern) von normaler Statur. Manchmal weiß man nicht so recht wohin mit dem einen oder anderen Arm, doch es wird schon gehen. Jens lenkt den Toyota-Geländewagen ortsauswärts auf eine Schotterpiste, die nach 35 Kilometern direkt am Rand des Inlandeises endet.Es herrscht allerbestes Wetter. Nach dem gestrigen Regentag wölbt sich nun ein weiter, nahezu wolkenloser blauer Himmel über uns. Kleine Seen und Tümpel, die vom Auto aus zu sehen sind, präsentieren sich im strahlendsten Blau, umgeben von bereits herbstlich verfärbter Tundra.
Während der ersten Kilometer begleitet uns der Watson River, der die grauen Sedimente aus dem Gletscher zum Fjord transportiert. Nach ca. 10 km lassen wir den Sugar Loaf rechter Hand liegen.
Die Trasse führt an vielen Tümpeln, Teichen und Seen vorbei. An besonders schönen Stellen legen wir eine kleine Pause ein, um die Landschaft richtig auf uns wirken zu lassen. Das Farbenspiel von Wasser, Pflanzen und Eis ist beeindruckend schön.
Irgendwann versperrt mitten im Nichts ein mit einem Schloss gesicherter Schlagbaum die Weiterfahrt. Offensichtlich besitzen die Tour-Guides den Schlüssel zum Glück, denn Jens macht sich erfolgreich an dem Schloss zu schaffen, bugsiert den Wagen auf die andere Seite und schließt wieder hinter sich ab. Für wen, frage ich mich? Die Touristen besitzen keine Autos. Die sind bestenfalls mit dem Fahrrad unterwegs, so wie Benjamin oder der Kissendesigner, die ebenfalls im Vandrehjem abgestiegen sind.
Seit einiger Zeit leuchtet am Horizont permanent ein weißer Streifen des Gletschers, dem wir nicht nur gefühlt immer näher kommen. Am äußersten östlichen Zipfel des großen Sees Aajuitsup Tasia macht die Piste eine deutliche S-Kurve in links-rechts-Kombination. Jens informiert uns, dass wir auf der Rückfahrt vom Ice Cap nachher genau hier den Wagen stehen lassen und zu Fuß zum Russells Gletscher gehen werden.
Erst jetzt erschließt sich uns, dass wir mit der heutigen Tour das große Los gleich doppelt gezogen haben: Nicht nur, dass das herrliche Wetter mit allen fantastischen Ausblicken, die es ermöglicht, einfach nicht mehr zu überbieten ist, so kommen heute alle zahlenden Expeditionsteilnehmer auch noch in den Genuss praktisch zweier Touren zum Preis von einer. Wie sich herausstellt, haben Tatiana und Eugene die Gletscher-Tour gebucht und wir die Ice Cap-Tour. Bei der geringen Personenzahl hat man kurzerhand beschlossen, beide Ziele an einem Tag anzufahren.
Dann ist auf einmal Feierabend. Die Schotterpiste endet hier in einem kleinen Wendehammer, damit sich die Transportgefäße der Tourveranstalter nicht unnötig gegenseitig behindern.
Vom Rand des Eises trennen uns nun noch 200-300 Meter gletscherner Schuttablagerungen. Diese Randzone ist hügelig; der Trampelpfad führt ein Stück weit an einer senkrecht abfallenden Eiswand entlang, an deren Fuß ein kaltgrauer Tümpel bereitwillig sich lösende Steine oder Eisbrocken aufnimmt. Oder auch unvorsichtige Touristen.
Dann sind wir tatsächlich angekommen: Wir stehen im Schnee auf dem zweitgrößten Eisschild dieses Planeten, mit einer Mächtigkeit von bis zu 3400 m und durchschnittlich 2000 m Dicke. Nur noch übertroffen vom Antarktischen Eisschild. Vor uns gibt es nur blendendes Weiß und tiefblauen Himmel. So weit das Auge reicht – und darüber hinaus. 2,85 Millionen Kubikkilometer Eis liegen seit Urzeiten (seit fast 3 Millionen Jahren) hier herum. Die Oberfläche des Eisschilds ist nicht etwa glatt, wie man vielleicht annehmen könnte. Vielmehr ist sie unruhig mit Erhebungen von bis zu 15-20 Metern – zumindest hier am Rand. Jens hält für jeden ein Paar einfacher Schneeschuhe parat. Wir erklimmen einige der Hügelchen, bis die ganze, unendlich scheinende weiße Pracht sich vor unseren Augen ausbreitet. Ein erhebendes Gefühl – Eis bis zum Abwinken.
Endlose Weiße – sonst nichts. Kein Baum (in Grönland sowieso nicht), kein Strauch – noch nicht mal Fels. Bar jeglichen Lebens, aber faszinierend.
Das zweite Ausflugsziel ruft. Jens trommelt seine kleine Herde zusammen und wir verlassen den Eisschild auf demselben Weg, den wir gekommen sind. Es bleibt bei der alten Platzverteilung in der Toyota-Schüssel. Wie auf dem Hinweg angekündigt, wird an der weiter oben beschriebenen S-Kurve eine Snackpause eingelegt.
Jens drängt ein wenig zum Aufbruch; es ist schon früher Abend und wir sind noch längst nicht am Gletscher. Um diesen letztlich zu erreichen, müssen wir noch ein paar hundert Meter weiterfahren und dann knapp 2 km über einen Hügel stiefeln. Die Sonne steht schon tief und wir beeilen uns, bei einigermaßen Licht zum Gletscher zu kommen. Ganz plötzlich, von der Hügelkuppe aus, drängt sich die Eisformation ins Blickfeld. Die wilde Oberfläche endet abrupt in einem 50-60 m hohen Abbruch. Man kommt über gewachsenen Fels und durch Schmelzprozesse herbeigeschwemmte Findlinge sehr nah an den Gletscher heran, nur getrennt durch den Schmelzwasserabfluss. Die Abbruchkante ist imposant. An einer Stelle neigt sich ein riesiges Tortenstück bedenklich Richtung Fluss – bereit zum Kalben. Wir hätten uns gerne länger hier aufgehalten und die Nacht hier verbracht und den abstürzenden Eisbrocken gelauscht. Die Lichtverhältnisse sind nicht gut für schöne Fotos „auf die Schnelle“. So saugen wir die Atmosphäre gierig in uns auf und konservieren sie inwendig, auf dass wir uns noch in Jahrzehnten genauso daran erinnern können wie wunderbar es heute war.
Schließlich sammeln wir uns und gehen geschlossen über den Hügel zurück Richtung Benzinkutsche. Auf dem letzten Stück abwärts hält Mutter Natur ein besonderes Abschiedsgeschenk in TechniColor und Breitwand parat: Der gerade über der Bergkette am Horizont hängende Sonnenball spiegelt sich derart malerisch im Aajuitsup Tasia-See, dass es einem die Füße weghaut. Dieser Abschluss einer grandiosen Tour ist einfach nicht zu toppen.
Aufbruch: | 17.08.2018 |
Dauer: | 3 Wochen |
Heimkehr: | 09.09.2018 |