Arctic Circle Trail (ACT) - West-Grönland
Vierte Etappe
Das Wetter ist immer noch sehr offen, sonnig und mit 15° unverhältnismäßig warm. Das Frühstücksmüsli wird verdrückt und die Etappenanfang-Routine nimmt ihren Lauf. Dazu gehört auch, die Kochutensilien zu spülen und den Müll zu verstauen. Benutzte Töpfe bekommt man sehr gut mit natürlichen Hilfsmitteln gereinigt: Nichts geht über feuchte Moos-/Erdballen vom Flussufer und feinen Sand. Davon bekommt man garantiert keine „Spülhände". Allen, wirklich ALLEN Müll nehmen wir wieder mit. Den haben wir vorher getragen und er ist nicht schwerer geworden. Es ist erschreckend, wieviel Müll in der Gegend herumliegt. Darüber hinaus werden in deckungslosem Gelände größere Einzelfelsen von der Wanderer-Community kurzerhand zur Latrine erklärt und der Weg dorthin breit verteilt mit benutztem Klopapier markiert. Man sollte meinen, dass die Leute, die hier unterwegs sind, die Natur suchen und keine Müllhalde. Natürlich darf man nicht alle über einen Kamm scheren, aber die Müllmenge lässt leider darauf schließen, dass ein Großteil der Wanderer sich keinen Deut darum schert, was sie mit ihren Hinterlassenschaften anrichten.
Nicht umsonst ruft die Initiative polarrouten.net dazu auf, verantwortungsvoll mit der Natur umzugehen und alles Material, mit dem man seine Wanderung startet auch am Zielort noch in seinem Rucksack hat. Angefangen von Lebensmittelverpackungen über Teebeutel und auch – ja – benutztes Toilettenpapier. Manche Stimmen gehen sogar noch weiter und fordern, auch die eigenen Exkremente wieder aus dem Weltkulturerbe zu entfernen.
Wir benutzen biologisch abbaubare Feuchttücher als Toilettenpapier. Die kann man nach Gebrauch wunderbar zusammenfalten und in einen Sammelmüllbeutel geben. Einen stabilen Müllsack kann man prima quetschen. Er kann immer irgendwohin gestopft werden, denn das Volumen seiner Inhaltskomponenten kann niemals größer sein als vor deren Benutzung.
„Hikers Maintaining the Trail“ ist nicht nur ein Aufruf, den eigenen Müll wieder mitzunehmen, sondern auch Zeug, über das man unterwegs zwangsläufig stolpert. Wir haben das tatsächlich auch getan und uns zudem insbesondere in der Katiffik-Hütte dementsprechend ausgetobt (s. letzte Etappe).
Wir werden heute die restlichen 6 km entlang der Nordseite des Qaarajuttoq durch ein relativ enges Tal zurücklegen. Das Tal ist etwa 500 m breit und wird an der gegenüberliegenden nördlichen Seite ebenfalls durch eine langgezogene Steilwand namenloser Bergrücken begrenzt. Die höchsten Punkte dort sind 588, 627 und 532 m hoch. Das Blöde beim Versuch der Streckenbeschreibungen ist, dass fast keiner der Flüsse, Seen oder Berge Namen haben. Zumindest nicht auf der Karte.
Da wir praktisch auf dem Talgrund entlang marschieren, geht es heute ausschließlich durch grüngefärbte Bereiche auf der Wanderkarte. Das kann ein Vorteil sein, muss aber nicht. Die realen Ausprägungen für „grün“ reichen von sehr spärlichem Bewuchs durch einzelne Grashalme bis hin zu ausgedehnten, dschungelähnlichen Weidengürteln – je nach Höhenlage und Bodenbeschaffenheit. Das müssen wir letztlich auf uns zukommen lassen.
Tatsächlich bieten die ersten beiden Boden-Kilometer den Füßen Anlass zur Freude. Weicher Untergrund, Grasbüschel hier und da und gemäßigtes topographisches Auf und Ab. Bis jetzt führten Weg und Fluss nahe nebeneinander her, aber nun sieht es so aus als möchte der Fluss hier durchquert werden. Die Stelle ist als Furt eigentlich ganz gut geeignet. Flaches Wasser und ein etwa 5 Meter breites Flussbett. Schuhwechsel ist allerdings angesagt und wir vollziehen das notwendige Prozedere. Keine 500 Meter weiter, hinter dem nächsten Hügelchen, stehen wir vor der zweiten Furt über denselben Fluss. Dieses Mal ist das Wasser tiefer und die Strömung etwas stärker. Flussdurchquerungen finde ich jedes Mal erhebend. Ich finde, das ist das Salz in der Suppe einer „Wildnis“wanderung, wenn man vor diesem natürlichen Hindernis steht, das überwunden werden muss. Auf den markierten Pfaden stellt das in der Regel kein Problem dar. Hier wird man durch den getrampelten Pfad automatisch zur günstigsten Furt geführt. Was einen nicht davon enthebt, grundsätzlich Vorsicht walten zu lassen. Die Flussbetten sind steinig, das kalte Wasser macht die Füße gefühllos, der Wasserstand variiert je nach Jahreszeit, Tageszeit und Witterung der letzten Tage. Besonders, wenn die Wassertiefe übers Knie hinausreicht, sollte man auch die Strömung beachten. Die Wanderstöcke als „drittes Bein“ sind immer eine Hilfe bei diesem Unternehmen.
Der Boden ist noch immer gut begehbar. Allerdings knallt uns die Natur nun einen edlen Faltenwurf im Gelände vor den Latz, großzügig garniert mit übermannshohen Weidenbüschen. Ohne den einspurigen Trampelpfad durch diesen Urwald widerspenstigster Äste gäbe es kein Durchkommen. Dann müsste der Weidengürtel weiträumig umgangen werden. Die Strecke durch die vermaledeiten Weiden ist im Nachhinein absolut gesehen gar nicht so groß – nur etwa 500 m.
Dschungelähnlicher Weidengürtel
Diese Passage hat mich sehr gebeutelt. Die Nordflanke des Qaarajuttoq ist noch immer nicht vollständig umrundet. Wir nähern uns der Stelle, wo das Tal, in dem wir uns befinden, seine Ausrichtung nach nordnordost ändert und sich ein wenig weitet.
Schon bald sehen wir vor einer im Hintergrund aufragenden Felswand die kleine Nerumaq-Hütte auftauchen. Auf diesem ebenen Boden gibt es Zeltplätze genug. Wir wählen einen vis-á-vis der Hütte, getrennt durch den Einschnitt des Flusses, den man nur sieht, wenn man direkt davor steht.
An der Hütte rührt sich nichts. Über die lichte Entfernung von 300 m ist nicht zu erkennen, ob derzeit ein temporärer Bewohner anwesend ist oder nicht. So bereiten wir in gewohnter Manier das Lager. Wir sind neugierig auf die Innenarchitektur der Hütte und so machen wir uns noch vor dem Abendessen auf den Weg dorthin. Kurz vor Erreichen des kleinen Holzhäuschens muss der Fluss in seiner etwa 5 m tiefen Versenkung überquert werden. Er ist an dieser Stelle sehr schmal, so dass er kein wirkliches Hindernis darstellt.
Wir erwarten nicht wirklich, jemanden vorzufinden und sind umso erstaunter, einen jungen Mann scheinbar aus dem Schlaf zu schrecken, der es sich auf einem der wenigen Liegeplätze gemütlich gemacht hat. Der Bursche ist Amerikaner von der Ostküste (Staat Washington) und klagt uns auch gleich sein Leid.
Erst vor Ort auf dem ACT, hat er feststellen müssen, dass einige Ausrüstungsteile, darunter auch Zelt und Schlafsack, für die hiesigen Verhältnisse unzureichend sind. Darum sein er nun gezwungen, den ACT als Hüttentour zu begehen. Ob das mit der unzureichenden Qualität der Ausrüstung so für bare Münze zu nehmen ist, wage ich zu bezweifeln. Wir wissen auch nicht, ob der ACT seine erste Unternehmung dieser Art ist. Nun, wie dem auch sei, wir erfahren noch, dass er morgen zur nächsten Hütte weiterziehen will – das ist für ihn, der von Kangerlussuaq kommt, die Kangerluarsuk Tulleq Syd-Hütte –, dann überlassen wir ihn seinem Schlafbedürfnis und erkunden noch ein wenig die nähere Umgebung der Hütte. Man findet auch hier, wo es weit und breit ansonsten nicht den Hauch einer Möglichkeit gibt, sich den voyeuristischen Blicken der Rentiere (oder wessen auch immer) bei Verrichtung hochintimer Tätigkeiten zu entziehen, dasselbe Latrinenmodell „OPEC“ wie an der letzten Hütte. Naja, wer’s mag.
Der abendliche Spaziergang vor der 600 m hohen Felsenkulisse an der Nordseite des Tal endet schließlich vor dem Trangia-Kocher, der ohne schuldhaftes Verzögern in Betrieb genommen wird. Während der nicht gerade üppig zu nennenden Mahlzeit stellen wir beim Kartenstudium fest, dass wir – den Tagesausflug auf den Aappilattorsuaq ausgenommen – in 4 Etappen gerade mal 37 km (im Schnitt gut 9 km/Tag) geschafft haben. Ist im Grunde ein eher gemütliches Tempo, das wir uns allerdings nicht leisten können. Wenn das so weitergeht, werden wir rechnerisch noch 14 Tage für die restlichen knapp 130 km benötigen und mithin unseren Rückflug um einen Tag verpassen. Von den übrigen geplanten Ausflügen (Ice Cap, Russels Gletscher usw.) mal ganz abgesehen. Die Tagesetappen müssen einfach länger werden. Die letzten Tage haben gezeigt, dass der schwere, nasse Boden bei dem hohen Transportgewicht letztlich zu kräftezehrend ist. Da die weiteren Gegebenheiten unbekannt sind, müssen wir uns etwas ausdenken. Darum werden wir morgen einen Ruhetag einlegen und die weitere Vorgehensweise durchdenken.
Aufbruch: | 17.08.2018 |
Dauer: | 3 Wochen |
Heimkehr: | 09.09.2018 |