Arctic Circle Trail (ACT) - West-Grönland

Reisezeit: August / September 2018  |  von klaus Heyne

Zehnte Etappe

In der Nacht hat es wieder geregnet und auch jetzt ist der Himmel noch grau. In der Hütte herrscht Aufbruchstimmung. Während alle ohne Eile ihr Hab und Gut wieder zurück in die knautschfähigen Reisekoffer quetschen, reißt der Himmel doch noch auf. Das Wolkenbild verspricht dauerhaft gutes Wetter für diesen Tag. Wir bereiten uns auf die Kanutour vor. Das Wetter wird immer besser. Es geht ein leichter Wind und die Kinder des Glücks werden wieder Rückenwind haben. Schließlich wollen wir es bis zum Ende des Sees schaffen und die lange Etappe statt über 20 km direkt am Ufer entlang auf diese Weise bequemer und vor allem schneller zurücklegen. Die beiden Deutschen, die wir gestern getroffen hatten, erzählten, dass sie auch versucht hatten, den See zu befahren. Leider hatten sie Gegenwind und nach 2 Stunden und erheblichen Kraftaufwands ohne nennenswerten Streckengewinn hatten sie dann aufgegeben. Dagegen stehen die Zeichen für uns jetzt günstig. Der Amitsorsuaq ist etwa 2 km breit und über 20 km lang. Das ist eine große Wasserfläche, die auch bei geringem Wind in Bewegung gerät. Da wir nicht die geübten Kanuten sind, muss zumindest theoretisch in Betracht gezogen werden, dass wir fachgerecht kentern können. Deshalb wandern Papiere und Geld in ein wasserdichtes Behältnis und dann in die Hosentasche und Dinge, die nicht nass werden dürfen (z.B. Kamera) in einen ebenfalls wasserdichten Ortlieb-Sack. Der Rest wird so gut es eben geht mittig im Boot TINU verstaut und zum Schutz gegen Spritz- und gegebenenfalls Regenwasser mit dem ZeltFootprint abgedeckt. Eine kurze Überschlagsrechnung ergibt, dass die gewichtige Summe unserer gestählten Körper und beider Gepäckcontainer die zulässige Höchstzuladung von 400 kg – das verrät uns ein Hinweis auf dem Boot – nicht überschreitet. Na, dann kann es ja endlich losgehen.

Wir suchen uns die besten Paddel und Schwimmwesten aus dem insgesamt verfügbaren Fundus des Kanucenters zusammen. Die Paddel sind von Wanderern aus aller Herren Länder samt und sonders irgendwie für weitere Einsätze behelfsmäßig wiederhergestellt worden. Wie auch sonst. Schließlich haben die wenigsten Wanderer eine Faltwerkstatt dabei. Da muss man halt im Bedarfsfall den MacGyver machen.

Ein leicht bewölkter Himmel über und leichter Wellengang um und unter uns begleiten den Start. Die Platzverteilung von Bug nach Heck lautet: ich, Rucksäcke, Niklas. Nach 200-300 m haben wir uns in den erforderlichen Paddel-Rhythmus eingegroovt. Mitunter neigt das Kanu dazu, sich quer zu den Wellen zu stellen, aber Steuermann Niklas hat’s im Griff. Guter Sohn! Der Wind steht immer noch günstig und so kommen wir gut voran. Nach einer Stunde haben wir ohne besondere Anstrengung bestimmt schon 6 km geschafft. Der Wind schiebt uns freundlicherweise gemächlich übers Wasser. Die Hauptarbeit besteht lediglich darin, die TINU durch regelmäßige Korrekturen auf Kurs zu halten. Die Wanderstrecke vom Kanucenter bis zur Katiffik-Hütte folgt über 20 km fast stringent dem Verlauf des südlichen Seeufers. Ab und zu tröpfelt es schüchtern aus lichtgrauen Wolken – aber das sind nur kurze Intermezzi. Größtenteils zaubert die Sonne tanzende Lichtreflexe auf das Wasser. Es ist nicht kalt. Leise plätschern die niedrigen Wellen gegen den Bootsrumpf und lullen uns ein. Sonst hört man nichts, nur die friedliche Stille der Einsamkeit.

Wir nähern uns einem Inselchen und beschließen, dort anzulegen und uns ein wenig die Beine zu vertreten. Von der 194 m hohen Erhebung erhoffen wir uns einen Blick auf das heutige Tagesziel: die Katiffik-Hütte am OstEnde des Sees. Sicher vertäut überlassen wir die TINU sich selbst und erklimmen die „Höhe 194“. Der Blick auf die Hütte wird uns vom steilen Nordufer verwehrt, an dem wir nicht vorbeigucken können. Immerhin zeigt ein 10 Kilometer weiter Blick zurück über den See, welche Strecke wir schon auf dem Wasser zurückgelegt haben. Die Hälfte ist geschafft. Wir lassen uns noch etwas durchpusten und drehen die Nasen aus dem Wind. Schön ist es hier oben im Wind. Ich bin froh und dankbar, dass ich hier sein darf. Der Wind braust in meinen Ohren, während ich das Naturschauspiel rings um mich her bewundere und ein Gefühl tiefer Zufriedenheit erfüllt mich.

Die TINU hat brav gewartet und sich nicht losgerissen. Formvollendet gehen wir wieder an Bord und mit der Eleganz geübter Routiniers nehmen wir rasch wieder Fahrt auf. Nach einer halben Stunde ist die sichtversperrende Bergnase umrundet und erstmals ist mit etwas Phantasie am weit entfernten Ende des Amitsorsuaq ein rotes Pünktchen zu erkennen. Das muss die Katiffik-Hütte sein. Naja, 6-7 Kilometer sind es immer noch. Das bedeutet noch eine weitere gute Stunde auf dem Wasser, während der wir aber keine Hektik entwickeln. Dieser Tag ist einfach klasse. Ziemlich stabiles, freundliches Wetter und wohlmeinende Windverhältnisse sorgen für eine wirklich entspannte Paddeltour. Es dauert tatsächlich nicht mehr lang und die TINU rutscht auf den Kiesstrand, nur einen Viertel Steinwurf von der Hütte entfernt. Wir kümmern uns erst um das Kanu, das uns zuverlässig hierher getragen hat, bevor ein warmer Tee uns wieder aufwärmen kann. Gegen Ende hat der Wind uns doch etwas ausgekühlt.

Die Hütte ist nicht nur nicht leer, sondern mit 3 Frauen hälftig belegt. Der kleine Tisch an der Wand gegenüber der Tür beherbergt Berge von Fressalien. Das sind die primären Wahrnehmungen. Wir grüßen artig und lassen verlauten, dass wir etwas später, wenn das Zelt steht, die Kochecke benutzen wollen. Dann bereiten wir erstmal unsere Unterkunft vor. Der Wind hat sich zwischenzeitlich etwas verstärkt und ist zunehmend eisiger geworden. Ein Grund mehr, wenigstens zum Kochen die Hütte zu benutzen. Das heutige Schlemmermahl besteht aus doppeltem Nudeleintopf und einem Becher heißer, fetter Brühe als Dessert. Da geht einem das Herz auf!
Die Mädels sind aus USA und Schottland, gehören in dieser Konstellation aber nicht zusammen. Die schottische Mikrobiologin ist solo unterwegs. Die beiden Amerikanerinnen sind Schwestern, die schon den ganzen Tag hier hocken und auf Jimmy, den Ehemann der einen, warten. Der musste den vierten Gefährten aus ihrer Gruppe wieder zurück nach Kangerlussuaq begleiten.

Durch den gestrigen Gewaltmarsch und der heutigen Paddeltour haben wir drei Tage gutgemacht. Das bedeutet, dass wir nun absolut keine Zeitprobleme mehr haben. Deshalb müssen wir heute auch nicht mehr weitergehen, was wir gleich bei der Ankunft hier beschlossen haben. Wir unterhalten uns noch ein wenig über die dampfenden Nudelbecher hinweg mit den Mädels, sind dann aber auch bald reif für die Daunen. Die Amerikanerinnen warten weiter auf Jimmy

Auf dem Amitsorsuaq

Auf dem Amitsorsuaq

Landausflug

Landausflug

Blick zurück nach Westen

Blick zurück nach Westen

Katiffik-Hütte

Katiffik-Hütte

Zehnte Etappe: 21 km - bis Katiffik-Hütte

Zehnte Etappe: 21 km - bis Katiffik-Hütte

© klaus Heyne, 2021
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Trekkingtour auf dem Arctic Circle Trail in West-Grönland. Der ca. 170 km lange Pfad verläuft im eisfreien etwa 200 km breiten Küstenstreifen in direkter Nachbarschaft des Nördlichen Polarkreises von der Hafenstadt Sisimiut nach Kangerlussuaq ins Landesinnere - oder umgekehrt.
Details:
Aufbruch: 17.08.2018
Dauer: 3 Wochen
Heimkehr: 09.09.2018
Reiseziele: Grönland
Der Autor
 
klaus Heyne berichtet seit 9 Jahren auf umdiewelt.
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