Arctic Circle Trail (ACT) - West-Grönland

Reisezeit: August / September 2018  |  von klaus Heyne

Sightseeing in Sisimiut

Dank vorzeitiger Absolvierung der Tour auf den Nasaasaaq steht der heutige Tag komplett zum Eintauchen in die für uns neue Welt zur Verfügung. Die Stadt Sisimiut wartet auf uns.

Sisimiut liegt an der Westküste Grönlands, etwa 100 Kilometer nördlich des Polarkreises und auf halbem Weg zwischen Nuuk und der Diskobucht. In der bevölkerungsreichen Region um Nuuk, Disko-Bucht, Sisimiut und Upernavik lebt mehr als die Hälfte der grönländischen Bevölkerung. Die Stadt liegt wie die meisten Städte Grönlands auf einer dem Inlandeis vorgelagerten Halbinsel. Dahinter thront der Hausberg der Stadt, der Nasaasaaq. Sisimiut ist End- oder Anfangspunkt des Arctic Circle Trails, der in Ost-West-Richtung auf 170 Kilometern den eisfreien grönländischen Küstenstreifen zwischen Sisimiut und dem Inlandeis bei Kangerlussuaq durchquert. Sisimiut ist eine der wohlhabendsten und wirtschaftlich am weitesten entwickelten Städte Grönlands und ist im Land selbst berühmt für seine gute Lebensqualität. Es verfügt über einen kleinen Flughafen, von dem aus Verbindungen zum Flughafen Kangerlussuaq und dem übrigen Grönland gehen.

Wir schlagen den Weg zum 7x24- Supermarkt ein. Schließlich sind wir ja ortskundig. Wollen nur kurz ein paar Brötchen oder Ähnliches fürs Frühstück kaufen. Auf der asphaltierten Straße ohne befestigte Seitenstreifen halten wir uns an den deutlich markierten Fußgängerbereich. Sicherheit geht eben vor.

Verkehrssicherheit auf Grönland

Verkehrssicherheit auf Grönland

Auf halber Höhe bergab sehen wir linker Hand Richtung Hafen eine Menschenansammlung von etwa 20-30 Personen. Wie sich kurz darauf herausstellt, sind wir in der Erlebniswelt der Kreuzfahrer gelandet, die fast alle in einheitliche rote Outdoorjacken mit aufgesticktem Logo der Schifffahrtslinie gekleidet sind. Wir mischen uns unters rotbejackte Volk, wobei ich nicht sehr auffalle. Man verteilt sich auf der schmalen Straße zwischen einem Souvenirshop und einer kleinen Kate direkt vis-a-vis. In der Kate gibt es Probierhäppchen: nordische Spezialitäten aus dem Meer - Krabben, Austern und eine Art Surströmming, dieser Stinkefisch aus Schweden. Letzteres entnehmen wir den lautstarken Kommentaren der deutschsprachigen Reisegruppe.
Der Besuch des angrenzenden Heimatmuseums ist empfehlenswert. Die verschiedenen Häuser, die hier teilweise wiederaufgebaut worden sind, vermitteln eine Menge Wissen über das arktische Leben. Der Eintritt ist mit 30 DKK übersichtlich und gerechtfertigt. Wir entrichten unseren Obolus und schauen uns die einzelnen Häuser an. Die 100 Jahre alten Unterkieferknochen eines Blauwals markieren wunderschön den Eingang des Sisimiut-Museums. Sie sind aufrecht gegeneinandergestellt, wobei sie jeweils noch 2 Meter ins Erdreich ragen. Das Museum verfügt über 9 Gebäude. Die meisten stammen aus dem 18. und 19. Jahrhundert: das Halvvejshuset, Smedjen, Gammelhuset, die Residenz des Kolonieleiters, The Old Store und ein rekonstruiertes traditionelles Winterhaus. Im rekonstruierten Torfplaggenhaus erlebt man wie die Menschen in Sisimiut vor ungefähr 100 Jahren gelebt haben. Im Museumsbereich befindet sich auch die Blaue Kirche, die Bethelskirken, aus dem Jahr 1775.

Blick auf die Museumshäuser - hinter uns befindet sich der Hafen

Blick auf die Museumshäuser - hinter uns befindet sich der Hafen

Museumseingang mit Blauwal-Kieferknochen

Museumseingang mit Blauwal-Kieferknochen

In der restaurierten Blauen Kirche, der Bethelkirche, betreten wir den Innenraum durch einen Gang aus weißen Holzsäulen. An den beiden Längsseiten des Gebäudes befinden sich zwei große interaktive Bildschirme, die auf der linken Seite einen Schamanen und auf der rechten Seite einen Vertreter des Christentums zeigen – beide in traditionellen Ornaten – d.h. der Schamane ist halbnackt. Der Besucher kann auf den beiden Touchscreens aus 8 Fragen auswählen, die die beiden Protagonisten in Videos beantworten: auf der linken Seite antwortet der Schamane, auf der rechten der Christ.
1. Wer bist du?
2. Ist es erlaubt, mehr als einen Gott anzubeten?
3. Wie entsteht die Welt und woher kommen die Tiere?
4. Wohin gehen wir, wenn wir sterben?
5. Wie schützen wir uns vor dem Bösen?
6. Die Beute ist weg, was sollen wir tun?
7. Meine Frau wird nicht schwanger, was kann ich tun?
8. Mein Vater wurde getötet, was kann ich tun, um ihn zu rächen?

Das alles ist hochinteressant und man sollte sich auf der Schamanenseite wirklich alles anhören. Man versteht natürlich kein Wort, aber wann hat man schon Gelegenheit, einem in Kalaallisut (Grönländisch) monologisierenden Inuit zu lauschen? Außerdem gibt es englische Untertitel zu dessen Auslassungen.
Bei der Frage nach der Entstehung der Welt erhält man Kenntnis von der Göttin Sedna, der „Mutter aller Meeresgeschöpfe“. Die Bezeichnung „Sedna“ aus Baffinland bedeutet „die dort unten im Meer“. Bei den Ostgrönländern wird sie „Immap ukuua“ (Mutter des Meeres) genannt, bei den Westgrönländern „Arnaqquassaaq“ (das majestätische Weib) oder „Sassuma arnaa“ (die Frau dort unten) und die nordgrönländischen Inughuit nennen sie „Nerrivik“. Sedna bestimmte darüber, welche und wie viele Meerestiere gefangen und gegessen werden durften.
Draußen auf dem Gelände befindet sich auf einem mannshohen Holzgerüst ein umgedrehtes traditionelles Wal-Fangboot. Wenn man sich darunter stellt, sieht man deutlich die Außenhülle des Bootes, die aus mit Lederriemen verzurrten Häuten besteht. An einer anderen Stelle, hinter dem Torfplaggenhaus, sind einige Hundeschlitten zu bewundern. Alles unterschiedliche Modelle, die während eines Schlittenbau-Wettbewerbs vor ein paar Jahren hergestellt worden sind.

Die Blaue Bethel-Kirche

Die Blaue Bethel-Kirche

Hivshu, der freundliche Schamane von nebenan. Unten auf dem Bildschirm sind die auswählbaren Themen.

Hivshu, der freundliche Schamane von nebenan. Unten auf dem Bildschirm sind die auswählbaren Themen.

Werkstücke aus dem Hundeschlittenbau-Wettbewerb

Werkstücke aus dem Hundeschlittenbau-Wettbewerb

Nachdem wir alles angesehen haben, wollen wir schon mal erkunden, wo sich denn das Postamt befindet, damit sich der morgige Start nicht unnötig verzögert. Es befindet sich genau gegenüber des größten der 3-4 Supermärkte in Sisimiut, dem Brugseni.
Einen Steinwurf entfernt passieren wir das Taseralik, das Kulturhaus von Sisimiut, in dem seit 2008 zahlreiche Kunst- und Kulturveranstaltungen stattfinden. Ein Beispiel moderner Architektur direkt an einem Teich gelegen. Ein weiter Bogen führt uns wieder zur Hauptstraße, wo wir letztlich den kleinen Supermarkt von gestern Abend erreichen. Der hat in der Tat auch heute geöffnet – 7x24, wie es draußen angeschlagen ist.
Mit den Frühstücks-Einkäufen unterm Arm fällt beim Heraustreten aus dem kleinen Laden der Blick auf Sozialbauten genau gegenüber. Mietsilos mit kleinen Wohnungen und kleinen Balkons, auf denen alles Mögliche abgestellt wird. Sozialbau in der Arktis Es gibt also nicht nur kleine hübsche, bunte Häuser in Sisimiut.
In der Nähe hinter den Wohnbunkern befindet sich der örtliche Friedhof. Schlichte weiße Holzkreuze und bunte Plastikblumen sind die Hauptmerkmale der grönländischen Friedhöfe. Grabsteine sind selten, meist sind die Namen der Verstorbenen auf Holzkreuzen angebracht. Dabei ist es den Inuit wichtig, dass man von der Friedhofsanlage entweder über die Häuser hinweg oder durch eine freigelassene Schneise direkt auf das offene Eismeer sehen kann. Jede der Anlagen ist mit einem weißen Holzzaun umgeben – obwohl es auf Grönland tatsächlich keine Bäume gibt. Sämtliches Holz stiftet das dänische Mutterland.

Ein leuchtend grünes Holzhaus direkt über dem Friedhof zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Es ist eine Bäckerei mit KAFFEE-Ausschank wie sich kurz darauf herausstellt. Für alle Freunde der bitteren braunen Brühe ist „J-S Konditori Tiggaliorfik“ an der Straße Qaasuup Aqquserna DER wichtigste Anlaufpunkt in Sisimiut. Es ist die beste Bäckerei am Ort mit lecker Kaffee, Brötchen und Gebäck - und Blick auf den Friedhof. Es gibt noch weitere Kaffeequellen, zum Beispiel das „Café Sisimiut“ von hier aus Richtung Hafen (an der Straße Aqqusinersuaq) oder das Café im Taseralik.
Wir schlendern weiter entspannt unter dem leicht bewölkten Himmel noch etwas durch die Straßen. Wir finden uns gut zurecht – auch ohne den kleinen Stadtplan. Schließlich sind wir ja ortskundig. Bei dem gemächlichen Bummel glauben wir aufgrund der während des ganzen Tages gemachten Beobachtungen zu erkennen, wie sich der soziale Status der Einwohner diskret kundtut: Es sind die Europaletten! Es müssen hunderte sein, die sich im Stadtgebiet verteilen und in der Regel säuberlich gestapelt vor vielen Häusern liegen. Je mehr Holz(paletten) man vor der Hütte hat, desto größer muss das Ansehen sein. Ähnliches gilt für Schneemobile. Ganz oben angekommen ist, wer beides in hohen Stückzahlen bunkert: Paletten und Schneemobile!
Auf dem Rückweg zum Vandrehjem lassen wir das Museumsdorf links liegen und schauen uns den angrenzenden Hafen an. Viele kleinere Privatboote liegen hier. Es ist ziemlich ruhig im Hafen und kaum Leute oder Boote unterwegs, doch an einer Kaimauer legt gerade ein Jäger mit seiner Jolle an und wuchtet neben 4 Gewehren seine bereits zerlegte Beute auf den Kai, was keine unblutige Angelegenheit ist. In der Hafeneinfahrt sammeln sich einige tiefhängende Wolken über dem Wasser, aus denen hie und da nackte schwarze Felsen herausschauen. Das alles wirkt mystisch und irgendwie friedlich. Beeindruckt legen wir die letzten paar hundert Meter zum Vandrehjem zurück. Zum Essen sitzen wir im zur Küche angrenzenden Gemeinschaftsraum an dem großen Tisch. Irgendwann kommt Henrik, der Herbergsvater, herein und es entwickelt sich ein interessantes Gespräch über das Leben in Sisimiut. So erfahren wir beispielsweise, dass die Versorgung der Stadt fast ausschließlich über das Meer stattfindet und dass es mitunter bei bestimmten Gütern zu Engpässen kommen kann. So sind momentan seit nunmehr 4 Wochen schon keine Kartoffeln mehr zu bekommen. Henrik, der selbst Jäger ist und auch Jagdtouren veranstaltet, erzählt uns einiges darüber wie sich die Jägerei in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Früher sind die Jäger praktisch direkt von Sisimiut in die Berge zu nahe gelegenen Jagdgründen aufgebrochen, während heutzutage schnelle Motorboote die Jäger bis zu 100 km in die Fjorde zu vielversprechenderen Jagdgebieten bringen. Wir fragen Henrik, ob er weiß, wo man eventuell Spiritus kaufen kann. Weder im Flugzeug noch im Postpaket dürfen brennbare Flüssigkeiten transportiert werden. Der Zufall will es, dass er einen kleinen Vorrat an Haushaltsspiritus hat, den einige seiner Gäste in den letzten Monaten zurückgelassen haben. Er verkauft uns den einen oder anderen Liter für einen geringen Obolus von 100 DKK. Jetzt fehlen nur noch die Lebensmittel aus dem Care-Paket, das noch auf der Post liegt. Das holen wir morgen.

Mietbunker

Mietbunker

Das Grüne Cafe

Das Grüne Cafe

Friedhof von Sisimiut

Friedhof von Sisimiut

Grabansichten

Grabansichten

Zeichen des Wohlstands in Sisimiut

Zeichen des Wohlstands in Sisimiut

Gekonnt oberirdisch verlegte Abwasserleitung - einbuddeln ist hier nicht!

Gekonnt oberirdisch verlegte Abwasserleitung - einbuddeln ist hier nicht!

© klaus Heyne, 2021
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Trekkingtour auf dem Arctic Circle Trail in West-Grönland. Der ca. 170 km lange Pfad verläuft im eisfreien etwa 200 km breiten Küstenstreifen in direkter Nachbarschaft des Nördlichen Polarkreises von der Hafenstadt Sisimiut nach Kangerlussuaq ins Landesinnere - oder umgekehrt.
Details:
Aufbruch: 17.08.2018
Dauer: 3 Wochen
Heimkehr: 09.09.2018
Reiseziele: Grönland
Der Autor
 
klaus Heyne berichtet seit 10 Jahren auf umdiewelt.
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