Test the West

Reisezeit: Dezember 2011 - Januar 2012  |  von Stefan O.

Ghettoboys

Montag, 02.01.2012 - Fortsetzung

Am Nachmittag mache ich auf einen ersten Erkundungsgang. Ich latsche zunächst die Ijesha Road Richtung Norden und biege dann nach rechts in die Itire Road. Auf der Hinfahrt habe ich hier einige Banken gesehen; ich brauche Bares. Auf den Straßen fahren etliche der für Lagos so typischen gelben VW Busse, vom Typ T3, die hier mit einer geänderten Bestuhlung als Sammeltaxi für 14 Personen eingesetzt werden. In gleicher Farbe: Personentaxis in Gestalt von Passats und Golfs aus den 80er und 90er Jahren. Die Vorliebe für die Fahrzeuge des Wolfsburger Automobilherstellers ist nicht ganz zufällig. Bereits im Jahre 1973 wurde mit nigerianischer Regierungsbeteiligung hier in Lagos die Volkswagen of Nigeria Ltd. gegründet. Zwei Jahre später wurde unter Beteiligung der brasilianischen und mexikanischen Tochterunternehmen unter anderem die Modelle Käfer und Passat produziert. Bis heute ist das deutschstämmige Unternehmen ein bedeutender Industrieproduzent des Landes.

In Surulere lebt die untere Mittelschicht der Stadt. Am Straßenrand vor den Häusern werden Kinder gewaschen und auch hier gibt es den für diesen Teil der Erde typischen offenen, teilweise gedeckelten Abwassergräben in die alles Mögliche hinein gekippt und geworfen wird. Mülltonnen gibt es nicht. Natürlich gibt es in einer Stadt von diesen Ausmaßen auch eine Müllabfuhr, jedoch muss man wissen, wann der Müllwagen die Straße passiert und dann seinen Müll direkt dort hinein werfen. Was mir noch auffällt ist, dass an vielen Hauswänden ein Hinweis aufgesprüht ist, der das Haus als unverkäuflich ausweist. Manchmal auch mit dem Zusatz, dass man sich vor 419 in Acht nehmen solle. 419 bezieht sich auf den Paragraphen, der im nigerianischen Strafgesetzbuch Betrugsdelikte behandelt und bei uns in Europa vor allem durch Vorschussbetrug, der so genannten Nigeria Connection bekannt wurde. Immobilienschwindler zwingen Grundbesitzer und Hauseigentümer, ihr Haus durch eine entsprechende Kennzeichnung vor illegalen Verkäufen zu schützen. Der Trick: In Abwesenheit der Eigentümer werden Scheinbesichtigungen durchgeführt und in späteren Verhandlungen zwischen den Betrügern und Interessenten die Liegenschaft verkauft. Die verzwickte Rechtslage in Nigeria ist diffus, so dass der Nachweis über die tatsächlichen Eigentumsverhältnisse manchmal unmöglich ist.

Hausbesitzer schützen sich vor illegalen Verkäufen

Hausbesitzer schützen sich vor illegalen Verkäufen

Auf dem Rückweg werde ich mutiger, verlasse die Hauptstraße und schlürfe durch die Seitenstraßen. Die Lagosians sind mir sofort wohlgesonnen. Die meisten schenken mir gar keine Beachtung, einige grüßen mich freundlich oder bleiben kurz für einen Smalltalk stehen. Nur die Kinder nerven ein wenig. In ohrenbetäubender Lautstärke schreien sie in großen Gruppen: "Oyinbo, Oyinbo...", womit Bleichgesichter wie ich bezeichnet werden und sie hören erst auf, wenn ich entweder zurück grüße oder hinter der nächsten Kurve verschwinde.

Während ich grübele, was ich noch so anstelle, treffe ich auf ein paar Jungs, die gelangweilt auf der Terrasse eines Shops herumlungern: Seye, Edwin, Wallex und Small; die anderen Namen kann ich nicht behalten. Die Spezies Mensch mit meiner Hautfarbe ist zwar in Lagos beileibe nicht unbekannt, aber in Surulere dürfte sie nicht allzu oft vorkommen. Sie wollen mit mir reden, Fotos machen und laden mich schließlich zu einem Bier ein. Nach einer ausgiebigen Fotosession schlagen sie vor, gemeinsam in eine Bar zu gehen. Ich weiß, dass ich die ganze Bande jetzt zu einem Bier einladen muss. Alternativ kann ich mich aber auch alleine durchschlagen und mit meinen paar Naira vereinsamen. Ich zähle mal durch; wir sind zu siebt, das wird teuer. Doch ich habe die Rechnung ohne die nigerianische Gastfreundschaft gemacht. Ich werde den ganzen Tag eingeladen und bezahle am Ende keinen einzigen Naira. Ich meine, das ist hier kein Slum aber wirklich wohlhabend ist keiner, der in Surulere lebt.

Unterwegs in Surulere

Unterwegs in Surulere

Ich solle die Gruselmärchen, die selbst in Westafrika verbreitet sind, wieder vergessen, erklärt mir Seye, der dickere von denen. "Wir in Lagos heißen jeden Besucher willkommen", fährt er fort und er würde sich manchmal wünschen, dass das in meinem Land genauso ist. Naja, so ganz unrecht hat er ja nicht. "Leute, die Lagos wirklich kennen", erzähle ich ihm "berichten nur Gutes darüber" und ich beziehe mich damit auf die wenigen Informationen, die ich im Chat mit den paar Lagos-Touristen im Internet einfangen konnte. "Und nun bist du hier um die persönlich davon zu überzeugen", ergänzt Seye, der meine Mission längst begriffen hat.

Wir gehen zu einem Open-Air-Lokal westlich der Ijesha Road und sind dort die einzigen Gäste. Diese schwüle Hitze macht nicht nur mir zu schaffen. An der Bierflasche läuft das Kondenswasser herunter und ehe man sich versieht, ist das Bier pisswarm und ungenießbar. Edwin baggert schon die ganze Zeit die Kellnerin an und nun will er ihre Telefonnummer. Er scheint hier so der Hurenbock in der Runde zu sein. Edwin bestreitet seinen Unterhalt übrigens mit Importen von Pkw und Elektronik. Sein Geschäftspartner ist sein Bruder in Frankfurt am Main. Er gehört also zu den Typen, die für ein paar hundert Euro die schrottreifen Autos kaufen, die bei uns nicht mehr durch den TÜV kommen und hier mindestens noch zehn Jahre ihren Dienst verrichten.

Es wird uns hier zu heiß und wir beschließen, uns jeweils zu dritt ein Okada zu teilen und tiefer ins Ghetto hinein zu fahren. Es gibt hier eine klimatisierte Bar, in dessen Innerem wir fast zu Eiszapfen erstarren. Wir setzen uns an einen Tisch, hören Mucke und tauschen unsere Gedanken aus. Ich frage Edwin, ob er schon mal im New Africa Shrine war, dem legendären Club von Femi Kuti. Femi ist der Sohn von Fela Kuti, Begründer und unangefochtener King of Afrobeat, einem vor allem in Westafrika populären Musikstil. Afrobeat ist eine sehr gechillte Mischung aus Funk und Jazz mit afrikanischen Einflüssen. Natürlich war Edwin da schon mal und es ist sehr cool dort. "Riecht nur etwas streng nach Unkraut da drin", fügt er grinsend hinzu. Die Jungs würden auch gern mal mit mir dort aufschlagen. Eine einmalige Gelegenheit für mich, denn alleine würde ich ganz sicher nicht nachts nach Lagos Ikeja raus fahren. Das wirklich dumme daran ist nur, dass das Shrine nur am Wochenende offen ist und ich am Freitag das Land wieder verlassen muss. Mist! Wäre ich doch bloß einen Tag später eingereist.

Irgendwann erwähne ich mal, dass ich mir noch ein Trikot der nigerianischen Fußballmannschaft als Souvenir mitnehmen will. Wallex, der zufällig eines an hat, hat dafür eine ganz pragmatische Lösung parat und gibt mir seines im Tausch gegen mein T-Shirt. Die Jungs hier sind echt völlig durchgeknallt. Die Nigerianer sind fußballverrückt wie kaum ein anders Land in Westafrika und Mitte des Monats steht der African Cup of Nations an, doch zu aller Enttäuschung konnte sich der zweifache Afrikameister Nigeria erstmals seit 1974 nicht qualifizieren.

Trikot-Tausch

Trikot-Tausch

Nachdem ich später durch das Ghetto geführt und der halben Bevölkerung Suruleres "Hallo" sagen durfte, wollen wir zu Small etwas essen. Edwin lässt keine Gelegenheit aus, Telefonnummern von irgendwelchen Mädels zu sammeln. Wir schwingen uns auf ein Okada und werden nur wenige Meter vor dem Ziel von einem Mob cholerischer Bullen angehalten. Dann bricht das Chaos aus. Wir sollen alle absteigen. Dann kommt ein Cop auf das Mopped zu gestürmt, setzt sich drauf und haut damit ab - Beschlagnahme auf nigerianisch. Der Moppedfahrer und die Jungs wenden sich nun an den Boss, der zusammen mit anderen Kollegen in einem Pick-up sitzt. Ich verstehe nur, dass sie ihn dashen wollen, der Sheriff aber ablehnt, weil es ihm zu wenig ist. Irgendwann kommt Edwin aus dem Knäuel heraus und ruft mir zu: "Wir gehen!". "Was war denn das?", frage ich und versuche die Bilder irgendwie in eine Reihe zu kriegen. "Das ist halt Nigeria", sagt Edwin, "und nun lass uns hier verschwinden".

Ghetto-Spaziergang mit ein paar durchgeknallten Lagosians

Ghetto-Spaziergang mit ein paar durchgeknallten Lagosians

© Stefan O., 2012
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Die Reise
 
Worum geht's?:
"Burkina Faso - Ist da irgendwas?", "Wo liegt Niamey?" und "Ist Lagos nicht die gefährlichste Stadt der Welt?" Diese und andere Fragen wurden mir gestellt, bevor ich los zog um nach Antworten zu suchen. Das Motto: "Travel and see"
Details:
Aufbruch: 13.12.2011
Dauer: 6 Wochen
Heimkehr: 20.01.2012
Reiseziele: Burkina Faso
Niger
Nigeria
Togo
Ghana
Der Autor
 
Stefan O. berichtet seit 15 Jahren auf umdiewelt.
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